Was wollen die Anarchisten(1):


Durch Selbstzerstörung zum Sieg über die Staatsgewalt


In ihrer programmatischen Schrift „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ (also dem später eingezogenen Rotbuch 29) von 1971 verteidigt sich die RAF gegen den Vorwurf des „Anarchismus“:

„wer hier Terror schreit, wer auf die Partisanen mit dem Finger zeigt, und sie als »Anarchisten, Blanquisten, ,Desperados«, als »Ausgeflippte« und »Romantiker« denunziert, zeigt nur, wie fürchterlich er vor der revolutionären Aufgabe erschrickt.“ (S. 34)

Und an anderer Stelle:

„Es werden Legionen von ,Marxisten’ anrücken, die mit ganzen Batterien von Marx-Zitaten ‚nachweisen’, daß der hier gezeigte Weg (d. h. das Konzept der Stadt-Guerilla) ‚reines Abenteurertum’, ,Blanquismus’ ,Faschismus’ ,Anarchismus’ sei. Nun gut. Die Ismen-Krämerei überlassen wir gern den Schriftgelehrten; wenn wir nur der Revolution in Deutschland einen Schritt näher kommen.“ (S. 59)

Da die RAF mit dem Vorwurf der Feigheit  – und Rechthaberei ihren Widerwillen gegen jede Theorie deutlich genug ausspricht und die Revolution als spontane Tat proklamiert („Die Sprache der Guerilla ist die Aktion!“ Baader in Stammheim), prüfen wir in der Kritik ihrer Taten, ob diese die Revolution ein Stück näher bringen.


Bilanz

Fünf Jahre nach dem Vorlegen ihres Konzepts westdeutscher Stadt-Guerilla sitzen ihre Köpfe im Gefängnis, mehrere sind tot, erschossen – oder – wie Meins – verhungert aus eigenem Willen. Mahler hat der RAF den Rücken gekehrt und sich der KPD untergeordnet, wieder andere haben wie Ruhland den Weg zurück in die Gesellschaft gefunden. Aber andere Organisationen sind nachgewachsen. Das Bundeskriminalamt beeilt sich, dauernd die Bevölkerung zu mahnen, daß es immer noch Hunderte Anarchisten auf freiem Fuß gebe. Die Bewegung 2. Juni, das Kommando Holger Meins und wie sie alle heißen, haben das Konzept der RAF beherzigt. und sind folgender Aufforderung gefolgt:

„Die Partisanen-Einheit entsteht aus dem Nichts. Jeder kann anfangen. Er braucht auf niemanden zu warten. Einige Dutzend Kämpfer, die wirklich beginnen und nicht endlos diskutieren, können die politische Szene grundlegend verändern.“ (S. 43)

Nun ja, eine Lawine ist ausgelöst, aber wohl etwas anderes als sich die RAFler dies vorgestellt haben. Die Justiz macht den größten Prozeß in der Geschichte der BRD, die Fahndungsabteilungen der Polizei und des BKA sind zigfach verstärkt worden, und 15 000 Bürger beteiligten sich mit Hinweisen an der Hatz nach den Lorenz-Entführern.

Mord, Raub, Diebstahl und andere kleinere Delikte, das sind die Vorwürfe gegen die RAF in der Sprache der Justiz, und die Bevölkerung verurteilt einträchtig mit dem Bundeskanzler die Gefangenen und die noch nicht gefaßten Mitglieder als Mörder oder Schwerverbrecher, noch ehe ihnen der Prozeß gemacht worden ist. Schaut man sich die Taten an, die sich hinter diesen Vorwürfen verbergen, bleibt nicht viel von dem lang ausgeführten Konzept der Stadt-Guerilla: Zwei Bombenanschläge auf das Hauptquartier der Amerikaner in Heidelberg. Ein Bombenanschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg. Aber die Vermittlung dieser Aktionen, die immerhin beträchtliches Aufsehen erregten, blieb aus. Abgesehen davon, daß hierzulande kein Mensch im US-Hauptquartier in Heidelberg die große Unterdrückungszentrale vermuten würde, wurde auch kein Versuch unternommen, den Anschlag der Öffentlichkeit zu erklären. Die Bomben sollten für sich selbst sprechen und taten das auch: eine beispiellose Fahndung unter großer Anteilnahme der Bevölkerung war das Ergebnis.
Daneben blieben mehrere Polizisten tot oder verletzt bei Festnahmen auf der Strecke, mehrere Banken und Landratsämter wurden zur Beschaffung von Geld und Papieren überfallen. Seit den Festnahmen vom Sommer 1972 schließlich beschränkt sich Praxis westdeutscher Stadtguerillas darauf Vorbereitungen zur Befreiung der Inhaftierten zu treffen oder auch durchzuführen, bzw. sich an der Justiz zu rächen.


Selbsterhaltungsversuche

Die Herstellung der Bedingungen ihres Tuns – Befreiung, Bankraub gewaltsamer Entzug der Festnahme etc. – traten so nach kürzester Zeit an die Stelle der Durchführung des Konzepts selbst, das Ziel der Selbsterhaltung ersetzte alle sonstigen Ziele. Nichts mehr von Zusammenarbeit mit legalen Kräften, vom Konzept des bewaffneten Arms einer proletarischen Bewegung, wie es doch als ursprüngliches Vorhaben geplant war. Der Kampf gegen den Staat endete in dem hilflosen, gewaltsamen Versuch, sein Handeln überhaupt erst zu ermöglichen und alle weiteren Aktionen sind nur die Fortführung dieser Hilflosigkeit, die an der Macht des Staates scheitert. So konnte denn auch das Bundesinnenministerium im Vorwort einer Broschüre, in der es Zellen-Zirkulare veröffentlichte, feststellen:

„Sie versuchten, die für eine illegale Kampforganisation erforderlichen operativen Mittel, vor allem Geld, Waffen, schnelle Autos, Unterkünfte und Anlaufstellen, sowie falsche Ausweise zu beschaffen. Diese illegale Tätigkeit sollte zwar ursprünglich mit legaler politischer Aufklärungsarbeit verbunden werden. Es stellte sich jedoch heraus, daß dies schon wegen der durch Straftaten der Gruppe ausgelösten Fahndungsmaßnahmen undurchführbar war. Die Tätigkeit der Gruppe erschöpfte sich daher zwangsläufig in den bekannten schweren Straftaten, ohne daß überhaupt noch versucht wurde, den revolutionären Sinn der Straftaten ‚den Massen’ politisch zu vermitteln.“ (S. V)

Brutal tritt den Terroristen hier in der Einschätzung durch den politischen Gegner das Scheitern ihres Handelns entgegen. Triumphierend kann er feststellen, daß sie statt politischer Aktionen sich mit Straftaten begnügt haben, und sich darin aufrieben, nicht in die Hände der Justiz zu fallen. Und die RAF selbst erklärt die Selbstrettung als Ziel aller Aktionen; Ulrike Meinhof ruft auf:

„täglich militante Aktionen gegen Einrichtungen des Staates, der Konzerne (Industrie, Handel, Banken) und der US-Besatzer für ‚Freiheit für alle gefangenen Revolutionäre / Schluß mit der Isolationsfolter / weg mit allen Sondermaßnahmen in den Gefängnissen / es lebe die RAF!“ ... und es ist immer aktuell, der Mord, und so kann die Zahl der Aktionen nicht groß genug sein und sie können nicht militant genug sein. Solange nicht alle Gefangenen befreit sind.“ (Spiegel Nr. 23/1975)


... als Kampf gegen den Staat

Zugleich läßt dieser hilflose und defensive Aufruf erkennen, daß die edlen Kämpfer das Konzept der Stadt-Guerilla keineswegs für gescheitert halten, daß sie im Gegenteil sich weigern, die Differenz zwischen ihrem Tun und dessen Voraussetzungen anzuerkennen. Und dies mit Grund, denn es gibt keine: Sind doch Befreiung, Raub und Einbruch immer schon ursprünglicher Inhalt ihres Konzepts, als Angriff auf die Justiz, auf die Eigentumsverhältnisse immer schon politisch richtig.

Hatte Carlos Marighella, auf den sich das Konzept Stadt-Guerilla beruft, für die brasilianische Guerilla noch gefordert, sich beim Bankraub von gewöhnlichen Kriminellen abzusetzen, also noch gemerkt, daß Bankraub ein normales Verbrechen ist, und daher verstärkte Aufklärung der Bevölkerung über einen Bankraub und seine politischen Hintergründe gefordert, so tun sich unsere sogenannten Stadt-Guerillas, sofern sie überhaupt je etwas begründeten, leichter. So eine versuchte Begründung findet sich etwa noch in der (illegalen) Broschüre „Stadt-Guerilla und Klassenkampf“ der RAF.

„Niemand behauptet“ – heißt es da „daß Bankraub für sich an der Ausbeuter-Ordnung etwas ändert. Für revolutionäre Organisationen bedeutet er erstmal nur die Lösung ihres Finanzierungsproblems. Er ist logistisch richtig, weil anders das Finanzierungsproblem gar nicht zu lösen ist. Er ist politisch richtig, weil er eine Enteignungsaktion ist. Er ist taktisch richtig, weil er eine proletarische Aktion ist. Er ist strategisch richtig, weil er der Finanzierung der Guerilla dient ... Er gibt die Richtung an, die gemeint ist: Enteignung und die Methode, mit der die Diktatur des Volkes gegen die Feinde des Volkes nur errichtet werden kann: bewaffnet.“ (S. 56)

So erklären sie in einem Atemzug, daß es ihnen um den gewaltsamen Versuch der Erhaltung der anarchistischen Organisationen geht, und daß dieser Versuch zugleich die Erfüllung ihres proklamierten Ziels ist: Um Terror gegen den Staat, das Recht und die mit ihnen identifizierte Unterdrückung und Ausbeutung geht es ihnen also, und der Vorwurf des „Anarchismus“ erweist sich daher als berechtigt.(2)


Gewalt ohne Ende

Wenn es nur gewaltsam gegen den Staat geht, dann sind die städtischen Kämpfer zufrieden, und sie haben auch schon den Grund genannt: Weil der Staat die Eigentumsordnung gewaltsam verteidigt und beständig den Armen vorenthält, was ihnen zusteht, muß er bekämpft werden.
Daraus erklären sich all ihre Taten: Die Amerikaner stützen den Staat, Springer springt ihm ideologisch zur Seite, Banken sind die mit dem Staat verflochtenen Monumente der Ausbeutung, Polizei und Justiz sind die staatlichen Institutionen, die für Ruhe und Ordnung sorgen. Jeder Polizist ist in den Augen der RAF ein dreckiger Handlanger der Profitinteressen, der Staat Unterdrückungsmaschinerie in der Hand derjenigen, die alles besitzen:

„Die Killererschweine haben unsern Bruder Georg ermordet, weil sie Angst um ihren Zaster haben.“

Daher werden nicht nur staatliche Institutionen angegriffen, sondern die Staatsagenten zum Objekt persönlicher Rache gemacht. Die Lorenz-Entführung wollte offensichtlich eine Synthese aller dieser Momente des Kampfes gegen den Staat sein: ein Staatsagent wurde eingeschüchtert, in kläglicher Pose fotografiert, millionenfach in die Weltpresse gebracht, seine Beziehungen zur Großindustrie durch seinen Brieftascheninhalt bewiesen, sein Bargeld „expropriiert“, die Polizei gefoppt und der Bevölkerung gezeigt, daß die Polizei ineffektiv ist und dabei noch äußerst brutal und ruppig, wie dies die Hausdurchsuchungen nach der Freilassung zeigten. Bei der ganzen Aktion fällt nur eigenartig der Skrupel der Entführer im Umgang mit einem Staatsagenten auf, der ihren Aussagen nach persönlich ein „Schwein“ sein soll. Während die Tötung von unbekannten Polizisten von Terroristen noch dadurch gerechtfertigt wird, „Schweine“ hätten nichts anderes verdient, vermochten sie in der unmittelbaren Konfrontation mit Lorenz an diesem seine Eigenschaft als „Schwein“ nicht mehr zu entdecken. Stattdessen fanden sie das Menschliche am Menschen Lorenz und entließen ihn mit der Aufforderung, es gut zu machen. Hier strafen sie die Grundlage ihres Hasses auf die Staatsagenten Lügen, daß es deren Verkommenheit sei, die den Staat aufrechterhalte. Sie sind unfähig, im Gewande des anständigen Bürgers den Repräsentanten staatlicher Gewalt auszumachen, in den „menschlichen Seiten“ die Charakterlosigkeit des Staatsagenten zu sehen.

Die Bevölkerung zog nach dieser Aktion allerdings nicht die Lehren, die diese ihr vermitteln sollte. Statt sich über die Erniedrigung ihres angeblichen Peinigers zu freuen, identifizierte sie sich mit ihm. Statt sich darüber zu freuen, daß die Polizei an der Nase herumgeführt wurde, gab sie Hinweise. Und statt die Rückkehr der „Volkskämpfer“ aus dem Südjemen herbeizusehnen, hoffte sie, die jemenitische Regierung möge den Hotelarrest recht lange aufrechterhalten.

Das Beispiel der nachfolgenden Aktion in Stockholm zeigt, daß die Ansichten der Bevölkerung den Mitgliedern der RAF bei ihren weiteren Planungen völlig gleichgültig waren. Die Einschätzung folgte rein militärischem Kalkül. Eine Befreiung von fünf Gesinnungsgenossen war erreicht, ohne daß die Entführer gefaßt waren; Anlaß genug, eine ähnliche Aktion in größerem Rahmen durchzuführen. Die offensichtliche Kopflosigkeit der Stockholmer Geiselnehmer angesichts der Bonner Unnachgiebigkeit machte darüber hinaus deutlich, daß der RAF jede Überlegung  über den Charakter des Staats durch ihr von militärischem Kalkül geprägtes Handeln verwehrt ist. Und aus der gescheiterten Aktion ziehen sie wiederum sie nur die bornierte Folgerung, daß man die Kampfmöglichkeiten des Gegners genauer studieren müsse, um ihm eine Schlappe beizubringen. Baader resümiert:

„Entscheidungsabläufe, Grundsatzentscheidung (wichtig) in Diagramm der Zeiten, die sie brauchen, um beschlußfähig; großer Krisenstab (Länderminister, Präsidenten, Innenminister, Justizminister, Buback) zu werden. Flugzeiten usw. soll Henne mal machen, das ist sehr wichtig und muß schnell gehen.“ (Spiegel 23/75)

So wird wohl bei nächsten mal das Ultimatum kürzer und der Zeitzünder perfekter sein. Das sind Lehren, die die Terroristen ziehen! Mit dem Kampf gegen den Staat, der sich trotz aller Gewaltaktionen in seinem Kern als hilfloser Selbsterhaltungsversuch zu erkennen gibt, und doch in realitätsblinder Verkehrung als Erfüllung eines politischen Programms auftritt, erklären sie praktisch noch einmal, was sie in den angeführten Zitaten zu Beginn theoretisch aussprachen: daß es ihnen nur um die Gewalttat als solche geht. Zugleich ist das der Grund dafür, das praktische Scheitern eines solchen Kampfes gegen die Staatsgewalt in eine Kette von Siegen zu verwandeln und in den beständigen Antrieb zu neuen Aktionen, die doch endlich die Massen aufrütteln sollen.


Propaganda der Gewalttat

Die RAF bekennt sich zur Propaganda der Tat, sie sieht in exemplarischer Gewaltanwendung gegen den Staat ein geeignetes Mittel zur Mobilisierung der Massen:

„Die Führung besteht in der beispielhaften Aktion, die durch ihre Verallgemeinerung die Avantgarde beständig aufhebt.“ (RB, S. 24) „Das praktische revolutionäre Beispiel ist der einzige Weg zur Revolutionierung der Massen, die eine geschichtliche Chance zur Verwirklichung des Sozialismus beinhaltet.“ (RB, S. 57)

Wenn nur erst einmal jemand den Anfang mit der Gewalt macht, geht alles andere von allein:

„Aus der Quelle wird der Bach, aus dem Bach der Fluß, aus dem Fluß der Strom, der schließlich mit seiner gewaltigen Wucht das Unterdrückungssystem wegreißen wird.“ (RB, S. 59)

Indem die RAF ihren Taten das Attribut der Propaganda zuerkennt, tut sie kund, daß das Volk, – dem zu dienen sie sich berufen fühlt – noch nicht zum militanten Angriff auf die Staatsgewalt bereit ist. Vielmehr muß es erst so weit gebracht werden, daß es zum Sturm auf die Mechanismen der Unterdrückung antritt. Indem andererseits dies Ziel durch bloße Taten, durch Bomben und Gewehrkugeln bewerkstelligt werden soll, sprechen diese „Vertreter des Volkes“ aus, daß die auch von ihnen konstatierte fehlende revolutionäre Energie der Massen für sie eines nicht ist, nämlich Ausdruck eines falschen bzw. keineswegs revolutionären Bewußtseins.
Wenn die Explosion einer Bombe in einem Justizgebäude die Massen zur Nachahmung bewegen soll, wenn derartige Aktionen dem Volk demonstrieren sollen, daß man dem Staat einen Schlag versetzen kann, wenn man es nur geschickt anfängt, dann ist unterstellt, daß die vielbeschworenen Massen etwas gegen die Justiz, gegen den Staat überhaupt haben. Die RAF geht denn auch konsequenterweise davon aus, daß das Volk die Institutionen des Staates als seine Gegner weiß, und daß ihm die Vertreter des Staates und der bürgerlichen Parteien als „Volksfeinde“ gelten. Was die „untereinander mannigfach verbundenen und kommunizierenden Schichten arbeitender Menschen“ zur „Masse“ macht, ist laut RAF – überhaupt nur das eine, daß sie

„Ein Interesse gemeinsam haben – das Interesse an der Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung und Herrschaft.“ (RB, S. 43)

Und so entdecken die Terroristen überall in den Massen ihren Willen zur Gewalt als angeblichen revolutionären Drang:

„In der überall vorhandenen offenen oder verdeckten Aggressivität entdecken wir so die vorhandene, lediglich deformierte Abwehrreaktion der Massen gegen die Unterdrückung, unter der sie leiden.“ (RB, S. 22),

und begeistern sich über jede Unzufriedenheit, die sich gewaltsam. Luft macht, als Teil des revolutionären Kampfes: Aufruhr in den amerikanischen Negerghettos, Studentenunruhen, die Unzufriedenheit der Jugend usw. gelten ihnen gleichermaßen als Ausdruck des revolutionären Willen, denn

„Der kollektive Widerstand ist der Keim der Revolution.“ (RB, S. 26),

und selbst

„in den in Tagträumen und Stammtischprahlereien dem ‚Vorgesetzten’ als Symbolfiguren der Unterdrückung zugedachten Schicksalen“

finden sie

„die dem Klasseninteresse entsprechende richtige Richtung dieser positiven Einstellung zur Gewalt“.

Dort, wo beim besten Willen kein revolutionärer Funke zu entdecken ist, hilft das „dialektische Denken“ weiter; ihrem Glauben an die Massen getreu kritisieren sie verschreckte Linke:

„Sie sehen in der politischen Apathie des Proletariats nur die Apathie, nicht den Protest gegen ein System, für das es sich nicht zu engagieren lohnt; sie sehen in der hohen Selbstmordquote des Proletariats nur den Akt der Verzweiflung, nicht den Protest. Sie sehen in der Unlust des Proletariats zum ökonomischen Kampf nur die Unlust zum Kampf, nicht die Weigerung, für läppische Prozente und blöden Konsum zu kämpfen. Sie sehen in der gewerkschaftlichen Unorganisiertheit des Proletariats nur die Unorganisiertheit, nicht das Mißtrauen gegen die Gewerkschaftsbürokratien als Komplizen des Kapitals. Sie sehen in der Aggressivität der Bevölkerung gegen die Linken nur die Aggressivität gegen die Linken, nicht den Haß auf die sozial Privilegierten. Sie sehen in unserer Isolierung von den Massen nur unsere Isolierung von den Massen, nicht die wahnwitzigen Anstrengungen, die das System unternimmt, um uns von den Massen zu isolieren.“ (RAF, S. 47)

Nicht, daß die Unterdrückten die Abschaffung der Unterdrückung nicht wollen, wird als Problem aufgefaßt, sondern: daß sie ihr Wollen nicht oder nicht konsequent genug in die Tat umsetzen.


Angst und Terror

So befinden sich die wackeren Revolutionäre in guter Gesellschaft mit ihren Gegnern im Lager des Revisionismus vom Schlage der DKP, KPD, KBW etc. Bekanntlich schlägt sich dieser ebenfalls mit dem Problem herum, daß die Massen eigentlich revolutionär sind aufgrund ihrer Interessenlage –, sich leider jedoch nicht entsprechend revolutionär verhalten. Wie der Revisionismus sieht sich auch der terroristische Anarchismus vor die schwierige Aufgabe gestellt, erklären zu müssen, woran es liegt, daß das Volk – obwohl mit dem Bewußtsein seiner Unterdrückung ausgestattet – eine derartige Abstinenz in Sachen revolutionärer Praxis an den Tag legt; ja, daß es darüber hinaus nicht davor zurückschreckt, gegen diejenigen, die ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge die Sache des Volkes am entschiedensten vertreten, vehement Partei zu ergreifen. Wie wird diese Aufgabe gelöst? Oder besser: Wie wurde sie von der RAF gelöst, solange diese noch Zeit dafür hatte? Wenn die Massen eigentlich die Repression abschaffen wollen, es aber nicht tun, müssen sie „Hemmungen“ haben. In der Angst der Bevölkerung vor ihrem Unterdrücker sieht der kämpferische Anarchist den Grund ihrer mangelnden Aktivität. Psychologische Mechanismen, die sich gewissermaßen unterhalb des (im Kern ja revolutionären) Bewußtseins abspielen, müssen als Erklärung herhalten: Es ist die Angst, die die Individuen in die Resignation treibt, und ihren Antikommunismus begründet:

„Obwohl in den Massen eine latente Bereitschaft zur Gewalttätigkeit vorhanden ist und ständig wächst (z. B. die Aggressivität gegen Nonkonformisten) (sic!), stoßen gewaltsame Angriffe einer revolutionären Avantgarde gegen die Institutionen des Kapitals weiterhin auf eine mehr oder weniger affektive Ablehnung in breiten Schichten des Proletariats, während das Gewaltmonopol des Staates selbst dann anerkannt wird, wenn sich die staatliche Gewalt offen gegen die Arbeiterschaft wendet. Dieser Widerspruch erklärt sich aus den schmerzlichen Erfahrungen des Proletariats während eines langwierigen Anpassungsprozesses an die Ausbeutergesellschaft.“ (RB, S. 45) „Ein weitere Ergebnis dieses Erfahrungsprozesses ist die dem Geschichtsbild des westdeutschen Proletariats tief eingeprägte Resignation, deren aggressive Variante der in den Köpfen der Arbeite, spukende Antikommunismus ist.“ (RB, S. 17)


Strategie der Einschüchterung

Die Feststellung, daß die Angst auf Seiten der Bevölkerung deren Militanz verhindert, daß sie eingeschüchtert und manipuliert wird, führt die RAF zu den Verantwortlichen, zu denjenigen, die den Leuten Angst einjagen. Schuld an der resignativen Haltung der Unterdrückten sind natürlich die, von denen die Unterdrückung ausgeht. Ja mehr noch: Die Herrschenden bedienen sich bewußt der Strategie der Einschüchterung, um die Massen von revolutionärer Gewalt abzuhalten. Was jeder sofort als offensichtliche Lüge durchschaut, liest sich bei der RAF so:

„Die Herrschenden bedienen sich der Angst, die sie durch Terror erzeugen, um sich das Proletariat gefügig zu halten.“ (RB, S. 40)

So besteht ein Großteil ihrer „theoretischen Arbeit“ in der Sammlung von vermeintlichen Belegen für die Gewaltherrschaft des Staates und die zunehmende Unterdrückung der Massen. Die Militarisierung des Staates, der Terror der Bewußtseinsindustrie“, der Drang der Ausbeuter nach faschistischen Zuständen halten angeblich die Massen in ungewollter Abhängigkeit. Und daß der Gewaltcharakter des BRD-Staates noch nicht so offen zutage tritt, liegt nur daran, daß andere Länder ihm die dreckige Arbeit abnehmen:

„Deutsche Konzerne profitieren vom Faschismus in diesen Ländern, setzen die Arbeiter hier mit dem, was ihnen der Faschismus dort bietet, unter Druck. Die Todesurteile, die den inhaftierten Genossen hier erspart bleiben, bleiben ihnen erspart, weil (!) sie in Persien, in der Türkei, in Griechenland und in Spanien vollstreckt werden.“ (RAF, S. 8)

Die Herrschaft des Staates beruht also auf Gewalt gegen den Willen der Bevölkerung. Daher ist Gegengewalt nötig. Die Antwort auf die Frage, was zu tun sei, fällt daher nicht schwer: Was die Herrschenden können, kann die RAF schon lange. Sie zahlt es ihnen mit gleicher Münze heim ...

„Was“ – so fragen sich die Denker der RAF – „spricht dagegen, daß sich die Unterdrückten ebenfalls der Angst bedienen, die sie durch Terror ihren Feinden einjagen, um sich endlich zu befreien?“ (RB, S. 40)
Wenn sich die Herrschenden nicht „ritterlich“ verhalten, warum sollten es dann ihre Opfer? – So heißt es. (RB, S. 41)

Konsequent kritisieren sie an den Kommunisten, daß sie diesen einfachen Mechanismus nicht durchschaut haben, sondern vor terroristischen Gewaltaktionen immer schon zurückgeschreckt sind. Die Fehler der Geschichte der Arbeiterbewegung liegen so im falschen militärischen Kalkül.
Zuviel „Ritterlichkeit“ ist nach Meinung der RAF überhaupt die Ursache – die einzige – der permanenten Niederlagen des deutschen Proletariats. Die Abrechnung mit deren bisherigen Klassenkämpfen liest sich wie folgt:

„Wenn sich in der Vergangenheit das Proletariat in Deutschland mit Waffen gegen das Kapital erhob, dann hat es zwar heldenhaft, aber nach falschen taktischen Prinzipien und ohne strategische Perspektive gekämpft. Mut und Stolz schienen den revolutionären Kämpfern zu gebieten, sich dem formierten Feind offen entgegenzustellen und bis zur letzten Patrone standzuhalten. Das Ergebnis kann nicht überraschen. Die proletarische Revolution ist kein feudales Turnier.“ (RB, S. 41)

Durch Anwendung der von der RAF propagierten terroristischen Strategie wäre demnach der Klassenfeind zur Strecke gebracht worden.

Man fühlt sich berufen, den verhängnisvollen Irrtum der Arbeiterbewegung, den Herrschenden nicht mit einer Taktik des Terrors begegnet zu sein, stellvertretend zu korrigieren.

Aus dieser Kritik wird zugleich offenbar, was Anarchisten terroristischer Ausrichtung mit dem Proletariat zu schaffen haben: Es sind die Kampfmomente aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die sie fesseln.
Einerseits weisen sie auf die beständige Unterdrückung der arbeitenden Massen hin, daß es diesen immer schlechter gehe (RAF, S. 38f) – und treffen sich hier durchaus mit den Revisionisten, deren vornehmste Beschäftigung darin liegt, den zunehmenden Verelendungsgrad der Massen zu belegen –, andererseits jubeln sie mit dem Hinweis auf die gewaltsamen Kämpfe der Arbeiterkämpfe in der Vergangenheit den Arbeitern ihren Willen zur Gewalt unter und enttäuschen sich damit zugleich über die Friedfertigkeit der heutigen Arbeiter.

So gehen sie konsequent zur handfesten Beschimpfung des Proletariats über:

„Ist aus Resignation auch nur ein einziges Mal ein revolutionärer Gedanke gekrochen? In den Zeitungen finden wir täglich Meldungen über mehr revolutionäre Kämpfe in mehr Ländern dieser Erde, in mehr Städten und mehr Dörfern, mehr Schüsse, mehr Bomben. Diese Meldungen signalisieren die steigende revolutionäre Flut. Wir finden aber kaum Meldungen darüber, daß irgendwo in der Welt das Industrieproletariat in vorderster Linie an diesen Kämpfen teilnimmt oder gar neue Theorien oder Organisationsformen hervorgebracht hat.“ (RB, S. 170)

Die ambivalente Stellung der kämpferischen „Avantgarde“ gegenüber dem „Volk“ ist also nur zu offensichtlich: Wenn dieses sich von den Herrschenden einschüchtern läßt, so kann es mit ihm auch nicht weit her sein. Leute mit revolutionärem Bewußtsein lassen sich von ihrem Ziel so einfach nicht abbringen. Auch hier geht es den Terroristen wie den Revisionisten: Die Berufung auf das Volk ist die eine Seite – seine Verachtung die andere. So kommt noch im Vorwurf der Angst zum Vorschein, daß Manipulation immer den Willen derer unterstellt, die sich manipulieren lassen. Verachtung und Verherrlichung gehören so immer zusammen. Denn: Wenn das fehlende revolutionäre Engagement der Unterdrückten kein Anlaß ist, sich zu fragen, ob diese nicht vielleicht Gründe haben, die Staatsgewalt resp. ihre Repräsentanten zu akzeptieren, sie zu wollen, wem also kein Zweifel an der revolutionären Gesinnung des Volkes angesichts ausbleibender revolutionärer Taten kommen, dem bleibt nichts anderes übrig, als die Massen ob ihrer Kleinmütigkeit zu verachten.


Terror und Mut

Bomben, Gewehre und Entführungen sollen daher nicht nur den Unterdrückern Furcht einflößen und so die Voraussetzungen für den Sieg schaffen, sondern auch die Massen von der Angst befreien, die sie lähmt. Die Bombe, die zunächst den Herrschenden galt, gilt dann auch denjenigen, in deren Namen man angetreten ist. Sie ist die Demonstration von Gewalt und soll dadurch den Massen klarmachen, daß Gewalt, möglich ist:

„In der ersten Phase stellt sich die Aufgabe, durch geeignete Aktionen zu demonstrieren, daß sich, bewaffnete Gruppen bilden und gegen den Staatsapparat behaupten können; daß bewaffnete Überraschungsangriffe ein Mittel sein können, legitime Interessen gegen ein repressives System erfolgreich durchzusetzen. Kurz: Das Mittel des bewaffneten Kampfes ist praktisch zu entdecken.“ (RB, S. 43)

Daß die Massen diese Botschaft begreifen, ist der RAF keine Frage, vielmehr malen sie in grotesk leuchtenden Farben Sittenbilder revolutionärer Erfolge, wie das folgende von den Mai-Unruhen 1968:

„Selbstverständlichkeit der Herrschaft, Unvermeidlichkeit der entfremdeten Arbeit, Unabänderlichkeit der gesellschaftlichen Verelendung – diese auf dem Kompost unterdrückter Zweifel und verdrängter Rebellion gedeihenden Giftkräuter – begannen im Sturm der Rebellion zu welken. Unter dem Bann der befreienden Tat öffneten sich die Massen plötzlich politischen Theorien und Losungen, die sie eben noch leidenschaftlich-aggressiv von sich fernhielten ... Der dem französischen Proletariat durch die packende und erregende Berichterstattung von Radio Luxemburg vermittelte massenhafte solidarischen und mutigen Widerstand der Studenten auf den Barrikaden im Quartier Latin war das auslösende Ereignis, das den Massen die Veränderbarkeit ihrer eigenen Unterdrückungssituation zum Bewußtsein brachte.“ (RB, S. 49)

Doch sollen Gewaltaktionen nicht wirklich das Bewußtsein der Massen ändern – wie sollte dies auch gehen? –, sondern Mut machen. Im Jargon der RAF hört sich dies so an:

„Die Bomben gegen den Unterdrückungsapparat schmeißen wir auch in das Bewußtsein der Massen.“ (RB, S. 51)

So bekämpft die RAF jeden Versuch, den Massen noch etwas zu erklären, aufs bitterste,

„doch wenn es ums Bewußtsein des Proletariats geht, kramen so manche Genossen alchimistische Rezepte hervor und beginnen, danach zu dozieren. Gewiß ist es wichtig, daß die Arbeiter die sozioökonomischen Zusammenhänge der erlittenen Unterdrückung erkennen lernen. Wer sich aber hinstellt und dem Proletariat heut anhand von ,Lohnarbeit und Kapital’ auseinandersetzt, daß er ausgebeutet und unterdrückt wird, ohne ihm gleichzeitig praktisch einen Weg zu zeigen, wie er aus der Scheiße rauskommt, der wird – es ist nur eine Frage der Zeit – von eben diesem Proletariat einen Tritt kriegen – und das mit Recht. Daß er sich schinden und obendrein die Schnauze halten muß, hat jeder Arbeiter einmal gewußt und viel Mühe darauf verwendet, dieses Bewußtsein zu verdrängen. Wer will denn heute schon, noch als „Arbeiter“ angesprochen werden? Nachdem ihm dieser Verdrängungsakt gelungen ist, kommt so ein Kamel – womöglich auch noch ein Studierter – daher und frißt das glücklich gewachsene Gras wieder weg.“ (RB, S. 48)

beschimpfen gleichzeitig die Arbeiter als denkunfähig

„Der Arbeiter kann (die eingeschliffenen Gehorsamsreflexe) noch weniger als der Intellektuelle durch theoretische Reflexion überwinden. Nur seine Praxis im Sinne unmittelbarer Erfahrung kann diese verhängnisvolle Bewußtseinsstruktur aufbrechen“ (RB, S. 46)

und soweit man sich überhaupt noch mit Worten aufrafft, tritt an die Stelle der Agitation der Zuspruch:

„Habt Mut zu kämpfen! Habt Mut zu siegen! denn für alles Reaktionäre gilt, daß es nicht fällt, wenn man es nicht niederschlägt.“ (RB, S. 66)

Doch verfehlen die Bomben ihre Wirkung nicht. Freilich in einem ganz anderen Sinn als es die Bombenleger wünschen. Wie die Reaktion der Unterdrückten zeigt, sprengen die Bomben der Terroristen nicht die Barrieren der Angst, setzen nicht revolutionäre Energien frei. Stattdessen folgt den Detonationen ein Echo, das die Köpfe ihrer Urheber fordert.
So erschreckend dies Ergebnis ist – eine Mobilisierung der Massen zwar, aber eine Mobilisierung von Feinden – die RAF ficht es nicht an. Das Scheitern am Volk zählt für sie nicht.

Die Erfahrung des Scheiterns ist so für einen Anhänger der RAF nicht im geringsten Grund dafür, einen Gedanken an die Richtigkeit des eigenen Handelns zu verschwenden. Den Zirkel zu verlassen, der jede Aktion zu ihrem Gegenteil werden läßt, hat er nicht nötig, denn die Tatsache, daß sich die Bürger wiederum mehr denn je mit den Taten ihres Staats identifizieren, ist schon erklärt. Können die Bürger das noch nicht realisieren, was die Terroristen ihnen vorexerzieren, dann sind sie noch zu belogen und eingeschüchtert, um das demokratische Getriebe durchschauen zu können. Diese Leute, die doch eigentlich als Unterdrückte auf der Seite der kämpferischen Avantgarde stehen, wollen demnach also alles, was diese bereits praktiziert, können aber nicht.

Wenn die Bewegung 2. Juni nach der Entführung von Lorenz den Westberlinern mitteilt: „Sie (die Fahndungsbehörden) werden versuchen, euch in eine Fahndung nach uns einzubeziehen“ – ist dem unschwer zu entnehmen, daß diese Anarchisten offenbar die engsten Vertrauten des Volkes sind, umgekehrt von diesem aber am liebsten zum Teufel gejagt würden. Hier unbeirrt an der Fiktion festzuhalten, die Bürger hätten insgeheim den Entführern das politische Mandat erteilt, in ihrem Namen loszuschlagen, erfordert ein Maß an Borniertheit, welches dessen Urheber in das Reich der Phantasie versetzt. Aus solcher Phantasie speist sich dann auch der Haß auf die Staatsagenten. Weil sie es sind, die die staatlichen Terrormaßnahmen ausführen, sind sie zu bekämpfen:

„Dieses System verleibt sich die Menschen ein, macht diese zu seinen Organen, wie diese sich auch persönlich mit ihrer Funktion im Unterdrückungsapparat identifizieren und so zu Feinden werden. Das System wirkt und handelt durch diese Feinde des Proletariats. Will man es zerstören, muß man seine Organe ausschalten. Einen anderen Weg gibt es nicht.“ (RB, S. 40)

Genüßlich ergehen sich diese Kämpfer deshalb in Beschimpfungen dieser Agenten, die in handfesten Drohungen enden:

„Die Herrschaft des Kapitals ist undenkbar ohne dieses Heer der Hosenscheißer, die ihre eigene Inferiorität durch Sadismus im Umgang mit den ‚kleinen Leuten’ kompensieren. Für sie proklamieren die revolutionären Kräfte die persönliche Verantwortung für jede volksfeindliche Handlungsweise, für jeden Verrat an der werktätigen Bevölkerung. Sie sind für ihre Verbrechen gezielt und abgestuft zur Rechenschaft zu ziehen.“ (RB, S. 34)


Wider den freien Willen

Wer das Bewußtsein und das Verhalten der Bürger dadurch zu charakterisieren weiß, daß er die Verantwortung für fehlende Einsicht in die Untaten von Staatsorganen und anderen manipulierenden Mächten verlegt, der begreift die Gesellschaft als eine Ansammlung von willenlosen Marionetten in der Hand böser Gewalten. Und diese Gewalten sind personifiziert in Staatsagenten, die – so die Kehrseite dieser Art von Massenverachtung – bewußt und willentlich die Massen unterdrücken. Die terroristischen Anarchisten bestreiten so denjenigen, in deren Namen sie zu handeln vorgeben, überhaupt einen freien Willen zu haben und leugnen umgekehrt bei denjenigen, die den Staat repräsentieren, die Objektivität ihrer Funktion. Diese Gesellschaft soll sich also dadurch auszeichnen, daß nicht ihren Gesetzmäßigkeiten im freien Willen zur Durchsetzung verholfen wird, sondern das Individuum als freie Person nicht existiert. Wenn es dem Terroristen um die Person geht, dann um die Handvoll charakterloser Leute, welche die Drahtzieher der ganzen Malaise sind: die Staatsagenten. Deren Existenz ist für ihn also das ganze Übel, nicht deren Existenz als Repräsentanten eines gewaltsamen Staates. Sie müssen vernichtet werden.

Durch ihren Terror gegen den behaupteten Terror von Polizisten, Richtern, Journalisten, Erziehern, durch ihren Angriff auf das Leben solcher Charaktermasken, welche die staatlichen Aufgaben exekutieren, negieren die Terroristen die von allen akzeptierte Rechtsordnung, die durch Garantie von Freiheit, Gleichheit usw. das gesellschaftliche Zusammenleben als freies Willensverhältnis zwischen den Gesellschaftsmitgliedern regelt. Daß die bürgerlichen Individuen in dieser Ordnung ihren Nutzen garantiert sehen und ihre Unzufriedenheit darauf zielt, innerhalb der durch den Staat garantierten Ordnung ihren Nutzen zu vergrößern, wird von den Anhängern der RAF umgedichtet in eine erzwungene Unterwürfigkeitshaltung und einen unfreiwilligen Gehorsam gegenüber herrschenden Mächten, hinter dem noch beständig die nicht unterdrückbare „spontane Neigung, sich der Unterdrückung mit Gewalt zu erwehren“ (RB, S. 45) lauert. Sie machen ernst mit der barbarischen Phrase, die auch die Revisionisten im Munde führen, daß die Ausbeutung in dieser Gesellschaft auf der Knechtung und Unterdrückung des willenlosen Volkes beruht. So zieht sich durch ihre theoretischen Ergüsse die ständige Beschimpfung des Staates als moderner Tyrannei: Da ist die Rede von der „militärischen Potenz des bürgerlichen Staates“, der „Unterdrückungsapparatur der Polizei und Armee“, – nicht zufällig richten sich die terroristischen Anschläge gegen Polizei, Militär und Justiz von „Liquidation der Linken“, von der „Militarisierung der Klassenkämpfe“:

„Die Konterrevolution traut sich zu, mit allen Problemen fertig werden zu können, die sie produziert, auch ist ihr kein Mittel zu dreckig dafür. Aber sie kann nicht warten, bis der Faschismus sich wirklich entfaltet hat, die Massen für sie mobilisiert und sie braucht die Gewißheit, daß Bewaffnung und bewaffneter Kampf ihr Monopol bleibt ...“ (RAF, S. 32)

Sie leugnen nicht nur, daß die Arbeiter freiwillig – als unabhängige Privatpersonen – den Lohnvertrag abschließen und sich damit ihre Ausbeutung selbst auferlegen, daß die gesellschaftlichen Formen der Reproduktion also die Arbeiter zur willentlichen Unterwerfung unter die Kapitalinteressen zwingen, sondern bestreiten auch, daß die Bürger in der staatlichen Garantie von Freiheit und Gleichheit, in den staatlichen Bemühungen um das Allgemeinwohl die Voraussetzungen für ihren privaten Nutzen wissen, und daher die bürgerliche Rechtsordnung wollen. Obwohl die Terroristen beständig mit der Ablehnung der Bevölkerung konfrontiert sind, und zugeben, daß die Gewalt der „Avantgarde“ auf Ablehnung stößt, während „das Gesamtmonopol des Staates selbst dann anerkannt wird, wenn sich die staatliche Gewalt offen gegen die Arbeiterschaft wendet“ (RB, S. 45), leugnen sie beharrlich, daß die staatliche Gewalt auf dem Willen der Staatsbürger beruht, die in der Wahl über die Alternativen staatlichen Handelns entscheiden, obwohl die Durchsetzung staatlicher Gewalt gerade unabhängig vom Willen der einzelnen Personen geschieht, gebunden an die Anordnungen des Rechts. Die Anhänger des Terrors übersehen, daß selbst dort, wo die Bürger den Staat permanent kritisieren, in der Sphäre der Öffentlichkeit, sie zugleich wissen und anerkennen, daß es ihr Staat ist, dem sie sich in ihren Handlungen zu unterwerfen haben. Der Bürger ist also nicht die bewußtlose Person, wie diese Anarchisten dies unterstellen, sondern er anerkennt die staatliche Gewalt, auch wenn sie ihn permanent beschränkt. Anstatt zu kritisieren, daß die Bürger diesen Staat wollen, erstrebt die RAF die Vernichtung seiner Repräsentanten – der „feindlichen Söldner“ – durch die militärische Auseinandersetzung mit den Organen des Staats, und jubeln den Massen dieses Interesse unter.

Der Terrorist, der im Angriff auf die Staatsgewalt den Willen des Volkes mißachtet, erreicht daher nur, daß das Bewußtsein der Bürger davon, daß sie den Staat als Zwangsgewalt umso mehr brauchen, je mehr er angegriffen wird, zur Identifikation mit den Äußerungen der Staatsgewalt führt, und jeder anarchistische Anschlag nur die Auffassung verstärkt, daß der Staat den Rechtszustand mit allen Mitteln garantieren muß, daß also die vom Staat gewährten Rechte seine Rechte sind und der Angriff daher seinem Staat gilt. Mit Erfolg können die Politiker .daher dazu aufrufen, die Bürger sollten doch in solch schweren Zeiten ihren Staat verteidigen.


Gewalt statt Gewalt

Während der wissenschaftliche Sozialismus dadurch zur materiellen Gewalt werden will, daß er das Bewußtsein derjenigen verändert, die den Staat durch ihr bewußtes Wollen am Leben erhalten, ersetzt die Gewalt dem Terrorismus das Bewußtsein. Im Bewußtsein derjenigen, die durch diese Gewalt aufgerüttelt werden sollen, richtet sie sich daher gegen die Bürger selbst, ist illegale Gewalt. So unterscheidet sich die anarchistische Gewalt von der des Staates dadurch, daß die bereits herrschende Gewalt von den Bürgern, denen sie als getrennte, souveräne Macht gegenübertritt, selbst gewollt ist. Die Vorstellung der Terroristen, sie könnten das Volk durch ihre Taten aufrütteln, hat daher noch die Konsequenz, daß von diesem die Unterwerfung unter vorgeführte Gewalt verlangt werden muß:

„Avantgarde ist danach nicht die Gruppe, die sich so nennt, oder sich selbst so interpretiert, sondern diejenige, an deren Verhalten und Aktionen sich die revolutionären Massen orientieren.“ (RB, S. 24)

– was nichts anderes heißt, als daß die Massen der Gewalt nicht einfach folgen.

Anstatt die Staatsgewalt als Konsequenz eines gesellschaftlichen Handelns anzugreifen, das sich einem  falschen Wollen der Bürger verdankt, versuchen die Terroristen also die Staatgewalt gegen den Willen des Bürger durch die eigene zu ersetzen, und erklären dies auch noch zum Wunsch aller Unterdrückten. Zu welchen grotesken Zukunftsvisionen solche Konkurrenz mit der Staatsgewalt führt, zeigt das folgende Gedankenspiel, das zum Teil an die Mafia-Praktiken der 30er Jahre in Amerika erinnert:

„Den Besitzenden können von den proletarischen Organisationen Abgabeverpflichtungen für Gemeinschaftseinrichtungen auferlegt werden. Die Aufgabe der Milizgruppen ist es, die Erfüllung dieser Verpflichtungen durchzusetzen und zusammen mit den Kommandos die geeigneten ,Überzeugungsmittel’ zu entwickeln und gegen widerstrebende Ausbeuter einzusetzen. Eine schrittweise Entmachtung des städtischen Grundbesitzes, eine Herabsetzung der Mieten, die kollektive Verwaltung der Mietshäuser, durch die Mieter, ein wirksamer Kündigungsschutz für Arbeiter, insbesondere gegen Maßregelungen wegen politischer Tätigkeit im Betrieb und vieles andere können auf diese Weise erreicht werden. Sollten die Betroffenen versuchen, staatlichen Schutz anzufordern, muß ihnen schnell klargemacht werden, daß der Staat nicht mehr in der Lage ist, diesen Schutz wirksam zu gewähren. Schließlich werden die Besitzenden einsehen, daß sie ruhiger und sicherer leben, wenn sie die Interessen der Massen respektieren und auf den ihnen angebotenen Kompromiß(!) eingehen.“ (RB, S. 32f).


Rückfall hinter die bürgerliche Gesellschaft

So wenig diese Auffassung etwas mit kommunistischer Politik zu tun hat, so unmöglich ist es, ihn dem Lager der bürgerlichen Feinde des wissenschaftlichen Sozialismus zuzuschlagen, tritt er doch gegen jenes gewaltsam an. Wenn er aber die bürgerliche Gesellschaft als bloßes Zwangsverhältnis begreift, und daher dem Willen der Staatsbürger Gewalt antun will, dann gibt er damit zu erkennen, daß er keinen objektiven Gegensatz zu dieser Gesellschaft enthält, nicht ein Stück Kritik am Kapitalismus ist, sondern die Proklamation der Barbarei.
Andererseits ist das Prinzip, Gewalt gegen herrschende Gewalt zu setzen, schon von ganz anderer Seite gutgeheißen worden: die bürgerliche Ideologie von der freien Person akzeptiert den Tyrannenmord als ein moralisch anzuerkennendes Mittel, Formen unmittelbarer Herrschaft anzugreifen. In der Tat enthält der Angriff auf einen Repräsentanten unmittelbarer Gewalt das Moment, Freiheit gegen Gewalt geltend zu machen, den Ausdruck der Person, freie Person sein zu wollen.

Diese Anarchisten, die den bürgerlichen Staat, der auf dem Prinzip der freien Privatperson beruht, als unmittelbares Zwangsverhältnis angreifen, ziehen jedoch selbst gegen die bürgerliche Ideologie des Humanismus noch den kürzeren. Ist in dieser enthalten, daß die Person, die Freiheit des anderen zu respektieren hat, und stellt sie als solche die ideologische Überhöhung der Tatsache dar, daß die bürgerliche Freiheit des einzelnen gerade die Durchsetzung von Interessen gegen den anderen meint, so zeigt der Terrorist nicht nur durch die brutale Vulgärsprache, durch die Rede von den „Schweinen“ usw., daß er statt bürgerliche Moral zu kritisieren Moral vernichtet sehen will, sondern fällt auch praktisch hinter die mit Freiheit und Gleichheit erreichte Stufe der Gesellschaft zurück, statt sie zu überwinden.


Selbstzerstörung ...

Der Zustand der terroristischen Organisationen dokumentiert folgerichtig die grausame Deformation, der sich Individuen in der Verfolgung dieses falschen Zwecks aussetzen. Die unmittelbare Konfrontation mit der Staatsgewalt, die deren objektiven Grund nicht wahrhaben will, zeigt selbst noch an den Personen, die sie betreiben, daß sie zum Scheitern verurteilt sind. Ihr Anrennen gegen die von der Gesellschaft gewollte Staatsgewalt endet konsequent in Selbstzerstörung.
Die Akteure sprechen dies offen aus. Es bleibt nicht bei der abschreckenden Verherrlichung des Opfertodes:

„Der Guerilla aber materialisiert sich im Kampf – in der revolutionären Aktion, und zwar: ohne Ende – eben: Kampf bis zum Tod und natürlich: kollektiv.“ (Holger Meins, Spiegel, Nr. 47/1974)

„Petra, Georg und Thomas starben im Kampf gegen das Sterben im Dienst der Ausbeuter ...“ (RAF, S. 5)

„Wir haben gesagt: Erfolgsmeldungen über uns können nur heißen verhaftet oder tot. Wir meinen damit, daß die Guerilla sich ausbreiten wird ... aber nur dann, wenn es noch welche gibt, die es tun, die nicht demoralisiert sind, die sich nicht einfach hinlegen.“ (RAF, S. 48)

sondern noch in den Illusionen über ihre Erfolge erklären sie die Selbstzerstörung zur Konsequenz ihrer Politik:

„Erfolge der Polizei und des Militärs sind nur durch Zufall, Verrat, taktische Fehler oder durch Überwältigung einzelner Kommandos während einer Operation selbst möglich.“ (RB, S. 30)

Der Versuch, die Auseinandersetzung mit dem Staat kompromißlos fortzusetzen, zwingt zu Mitteln wie dem Hungerstreik, die mit der Selbstaufgabe identisch sind, so daß auch das Bemühen, die Konsequenz seines Handelns dem Feind anzulasten und sein Schicksal mit dem seiner Adressaten, den Bürgern zu identifizieren, mißlingt. So strafen sie ihre eigene falsche Parole von der gewaltsamen Selbstbefreiung Lüge: diese Leute machen nicht kaputt, was sie kaputt macht, sondern sich selbst. Wie ihnen das fremde Leben nichts gilt, so ist ihnen auch das eigene und das ihrer Mitkämpfer notgedrungen nicht viel wert, und muß doch möglichst erhalten bleiben für ein Handeln, das beständig nur seine Zerstörung bewirkt. Durch sein blindes Anrennen gegen die Staatsgewalt endet der Kampf in Selbstisolierung und Selbstdestruktion. Daher wird auch die Aktion zur bloßen Demonstration, daß immer noch jemand lebt, der weiterkämpft:

„Das alles hat aber nur Sinn, wenn täglich militante Aktionen zur Eroberung der Gewalt zum Ausdruck bringen, daß es hier den Funken Leben noch gibt, ohne den alles ... leere tote Formen sind ...“ (Ulrike Meinhof, Spiegel, Nr. 23/1975)

Die Verhältnisse, welche diese Auffassung dieser Gesellschaft unterstellt: das bewußtlose Ausgeliefertsein ihrer Mitglieder an die sie beherrschenden Mächte, werden folgerichtig gerade in den Kreisen der Terroristen Realität. Da ist die Bedrohung der eigenen Existenz nur noch damit zu bewältigen, daß abtrünnige Mitglieder exekutiert werden. Mit makabrer Ausführlichkeit setzt sich schon die RAF-Broschüre mit dieser Konsequenz des selbstzerstörerischen Handelns unter dem Stichwort: „über aktuelle Einzelfragen“ auseinander und proklamiert unausgesprochen die Vernichtung der Verräter:

„Verräter müssen aus den Reihen der Revolution ausgeschlossen werden. Toleranz gegenüber Verrätern produziert neuen Verrat. Verräter in den Reihen der Revolution richten mehr Schaden an, als die Polizei ohne sie anrichten kann ... Von der Drohung, sie würden dann noch mehr verraten, darf man sich dabei nicht bestimmen lassen. Von der Tatsache, daß sie arme Schweine sind, darf man sich nicht erpressen lassen. Das Kapital wird die Menschen solange zu armen Schweinen machen, bis wir seine Herrschaft abgeschafft haben. Wir sind für die Verbrechen des Kapitals nicht verantwortlich.“ (RAF, S. 55f)

Die Selbsterhaltung einer Gruppe, die allein auf die Effektivität ihrer technischen Mittel angewiesen ist, um für den Augenblick erfolgreich zu sein, erfordert darüber hinaus den Befehl und den Gehorsam, nicht aus Überzeugung, sondern aus „logistischer Notwendigkeit“. So funktionalisieren diese Kämpfer ihr Ideal vom kollektiven Handeln konsequent für die „militärische Schlagkraft“.

„Ohne die logistischen Probleme fallweise gelöst zu haben, ohne sich selbst bei der Lösung logistischer Probleme kennengelernt zu haben, ohne in kollektiven Lernprozessen kollektive Arbeitsprozesse eingeleitet zu haben, wird der Ausgang von Aktionen technisch, psychisch und politisch dem Zufall überlassen.“ (RAF, S. 57)

und sprechen damit ihrer eigenen falschen Vorstellung von Solidarität Hohn:

„Solidarität ist ihrem Wesen nach herrschaftsfreies Handeln.“ (RAF, S. 58)

... im Dienste der Befreiung

Doch scheint gerade hierin noch einmal auf, daß die anarchistische Zerstörung und Selbstzerstörung sich einem falschen, entgegengesetzten Ziel verdankt. Ulrike Meinhof expliziert den Zusammenhang, wenn sie Gewaltaktionen fordert,

„weil nur Gewalt hilft, wo Gewalt herrscht und Liebe zum Menschen nur möglich ist in der todbringenden haßerfüllten Attacke auf den Imperialismus-Faschismus!“ (Spiegel, Nr. 23/1975)

Und auch in der RAF-Broschüre wird in zynischer Selbstverkennung neben aller Gewalttat das Ideal der Liebe gepredigt:

„Alle Menschen in den Reihen der Revolution müssen füreinander sorgen, müssen sich liebevoll zueinander verhalten, einander helfen.“ (RAF, S. 60)

Diese Parole, welche der Osterpredigt des Papstes entnommen sein könnte, falls man das Wort Revolution durch Kirche ersetzt, erinnert ebenso an gewisse Slogans des Spontaneismus. Auch dort ist von der Befreiung durch die Tat die Rede, von der Emanzipation dadurch, daß man die persönlichen Bedürfnisse gegen die Schranken geltend macht, die diesen von Staat und Gesellschaft entgegengehalten werden. Und über allem schwebt die beschworene Solidarität, die ideelle Einheit derer, die nichts verbindet als das Anprangern der Schweinereien, die die Gesellschaft an ihnen verbrochen hat. Wo der eine dann zurückschlägt und zur Bombe greift, trennen sich die Wege von Terrorist und Sponti. Die Spontaneisten, denen es ebenso wenig gelingt, die Massen zum Nachmachen dessen zu animieren, was sie ihrer eigenen Befreiung zuliebe treiben, besinnen sich zu guter letzt wieder auf den Ausgangspunkt ihres Vorhabens: die eigenen Bedürfnisse. So ist die spontaneistische Szene in Westdeutschland heute das Ergebnis des Scheiterns von Leuten, die nicht wahrhaben wollen, daß die gesellschaftlichen Schranken der persönlichen Bedürfnisse erst begriffen sein müssen, ehe diese überwunden werden können – das Ergebnis ist eine heruntergekommene Subkultur, die sich bei den Klängen sogenannter revolutionärer Lieder wehmütig daran erinnert, daß sie einmal auszog, alles zu wollen.


Die hemmungslose Privatperson

Die Terroristen dagegen proklamieren die Befreiung für alle, machen sich gewaltsam stark für die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung, und gehen daher gegen den Staat vor, ohne falsches Bewußtsein und seine Praxis im Handeln der Privatpersonen anzutasten. Mehr noch: Ihr Ideal ist das höhere Richt der Privatpersonen gegen die Beschränkung durch den Staat. Sie fordern praktisch dazu auf,

„das Gesetz der Herrschenden zur Verwirklichung eines höheren Rechts der Unterdrückten zu brechen“ (RB, S. 45)

und hoffen, den Massen durch ihre Gewaltaktionen

„anschauliche Möglichkeiten revolutionärer Veränderung ihres Alltags entsprechend ihren Bedürfnissen zu eröffnen.“ (RB, S. 57)

So will die RAF die notwendigen Beschränkungen, die die kapitalistische Gesellschaft dem in ihr zur Berechtigung verholfenen Eigennutz der Individuen durch den Staat auferlegt, beseitigen und die Willkür der Privatinteressen verabsolutieren, die Freiheit der subjektiven Bedürfnisse, die ihre Geltung nur innerhalb der vom Staat geregelten Verkehrsform hat, als schrankenlose durchsetzen. Wenn sie gewaltsam dazu auffordert,

„legitime Interessen gegen ein repressives System erfolgreich durchzusetzen“ (RB, S. 43),

so macht sie sich zum Anwalt des Privatsubjekts, das nur sein eigenes Bedürfnis im Auge behält, und daher in Gegensatz zu dem gerät, was der Rechtsstaat als Mittel der Reproduktion bereitstellt und der Privatperson garantiert.

Dieser Anarchismus entspringt so der Stellung des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft, das seine Besonderheit zur Geltung bringt und beschränken muß in einem, das die Beschränkung aber loswerden will, ohne sie durchschaut zu haben, und damit sein eigenes Dasein als Staatsbürger verleugnet. Der Anarchist weigert sich, nach dem Grund von Beschränkungen zu fragen und gerät daher als Stellvertreter der Privatperson, die sich nehmen will, was sie braucht, in einen ausweglosen Gegensatz zum Staat. Ausweglos, weil die Abschaffung des Staates ersetzt wird durch den privaten Krieg mit ihm, der in der Selbstzerstörung der Individuen gleichwohl erkennen läßt, daß es ihr eigenes gesellschaftliches Dasein ist, gegen das sie revoltieren.

Die Auflehnung des Anarchisten gegen den Staat hat ihren Grund also darin, daß seine Individualität den Staat nicht erträgt. Und dies reicht ihm völlig aus. Vergessen hat er dabei, daß der Bürger, der demgegenüber vom Staat gerade seinen persönlichen Nutzen garantiert sieht und deshalb die gesellschaftlichen Schranken, wenn auch u. U. mürrisch, auf sich nimmt, die Vorstellung, er könne seinen Nutzen weiterhin verfolgen, nur ohne Staat, zu Recht als gefährliche Spinnerei verwirft.

So gehören die Anarchisten in ihrem bewußtlosen Kampf zu dieser Gesellschaft und bringen sie doch zugleich gegen sich auf. Der kapitalistische Staat kann gegen solches Handeln nicht nur die anerkannte Rechtsordnung geltend machen, sondern dem Staatsbürger, der den Staat will, drastisch vor Augen führen, daß er die Staatsgewalt ist, die jener zu Recht gewählt hat. Wenn der Staat wieder zuschlägt, so wird der Zwang, der in dieser Gesellschaft die privaten Bedürfnisse beschränkt, zum Zwang, den betroffenen Bürger hier ausnahmsweise auch einmal ohne jeden persönlichen Vorbehalt begrüßen, weil er die trifft, die die Grundlage ihres Privatdaseins angreifen. An den Grenzen des Rechtsstaats, die gegenwärtig die Politiker ein Stück versetzen, wird dann deutlich, daß die Staatsbürger, wenn es gegen die Terroristen geht, auch die Aufhebung dieser Grenzen durch den Staat gerne in Kauf nehmen würden.

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(1) Es ist nicht klar, warum hier die MSZ die bürgerliche Gleichsetzung von Anarchismus und Terrorismus übernimmt und die RAF als „Anarchisten“ bezeichnet. Weder entsprach das dem Selbstverständnis der Mitglieder der RAF, – die sich in erster Linie als Avantgarde erst des deutschen Proletariats, nach der der diesbezüglichen Desillusionierung als diejenige der Befreiungsbewegungen der 3. Welt sah, – noch wurde und wird die RAF von den meisten internationalen anarchistischen Strömungen als Vertreter(in) des Anarchismus betrachtet.

(2) Hier leistet sich die MSZ einen klassischen Advokatenbeweis, bei dem in der Prämisse bereits das enthalten ist, was in der Conclusio bewiesen werden soll: Wenn „Terror gegen den Staat“ gleichzusetzen ist mit Anarchismus, so ist natürlich eine Organisation, die sich zu ersterem bekennt, „anarchistisch“.

aus: MSZ 6 – 1975

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