Lorenzentführung: Eine Lektion in Staatsbürgerkunde
I. Das Elend des Anarchismus Am 27. 2. entführte die „Bewegung 2. Juni“ den Vorsitzenden der Berliner CDU, um die Freilassung von sechs inhaftierten Anarchisten zu bewirken. In dieser Erpressung sah die anarchistische Organisation ein Mittel für ihren Kampf gegen die Übel des Kapitalismus: „Lorenz ist von uns entführt worden, weil er als Vertreter der Reaktionäre und Bonzen, verantwortlich ist für Akkordhetze und Bespitzelung am Arbeitsplatz, für den Aufbau von Werkschutz und Anti-guerillagruppen, für Berufsverbote, das neue Demonstrationsrecht, Verteidigereinschränkung und für die Aufrechterhaltung des diskriminierenden Paragraphen 218.“ (Mitteilung Nr. 1). Die Befreiung einiger Gleichgesinnter, die deswegen in Gefängnissen sitzen, weil sie die Methoden ihrer Befreier praktiziert haben, stellt offensichtlich einen wichtigen Schritt in der Strategie dieser Gruppe dar, die damit nicht wenig riskiert, erklärt sie doch die Konfrontation mit der Staatsgewalt zum Prinzip ihrer Politik. Sie bekennt sich zum Verbrechen, dem individuellen Bruch des bestehenden Rechts als einem Verfahren, das die Realisierung ihrer politischen Ziele gewährleistet. Nicht ein politisches Programm und seine Durchführung läßt die Anarchisten in Gegensatz zu Staat und Recht treten, wie dies bei jeder auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zielenden Politik der Fall ist, sondern die Verletzung des Rechts ist für sie die einzige Form, Politik zu betreiben. Daß sie darauf verzichten, sich über ihre Aktionen hinaus an die Öffentlichkeit zu wenden, um die Gründe und Ziele ihres Handelns einsichtig zu machen, begründet sich nicht allein aus der Vorsicht, die sie üben müssen, um sich der Verhaftung zu entziehen. Ihre einzige Wortmeldung nach der Entführung kündigt zwar eine Erklärung an, „warum wir CDU-Lorenz entführt haben“, wiederholt jedoch nur das, was bereits in der Aktion zum Ausdruck kam: „Wir sind der Meinung, daß Worte und verbale Forderungen nichts nützen, um das, was in diesem Lande falsch läuft, zu verändern.“ Und die Dürftigkeit ihrer Erläuterungen, die sich im wesentlichen auf das Bekenntnis ihrer Zugehörigkeit zum „Volk“ beschränken, läßt vermuten, daß der Zweck dieses Flugblatts weniger in der Rechtfertigung ihrer Aktion besteht als darin, sich über das Versagen der Staatsgewalt und deren „Erbärmlichkeit“ zu mokieren und den eigenen – vorläufigen – Sieg im Versteckspiel mit der Polizei zu feiern. So freilich stellen die Anarchisten ihrem Tun ein schlechtes Zeugnis aus: das einzige, was an ihm noch an Politik erinnert, ist das Opfer ihrer Verbrechen. Ihre Aktionen richten sich gegen die Agenten des Staates. Sie erklären die Gewalt, die diese in Händen haben, zur Ursache für die mannigfaltigen Formen der Unterdrückung, die sie bekämpfen und widmen sich eifrig dem Versuch, durch Gewalt von ihrer Seite dem Staat Zugeständnisse abzuringen. Die Sicherheit, die sie in ihrem Flugblatt zur Schau tragen, wenn sie ihren „Kampf als Teil des allgemeinen Widerstandes“ in die Reihe der „wilden Streiks, Bürgerinitiativen, Wyhl“ etc. einordnen, ziehen sie jedoch selbst wieder in Zweifel: ihr Ultimatum endet mit der Wendung an die „Bevölkerung“ Westberlins und warnt sie vor der Hetzkampagne, welche die Organe des Staates gegen sie führen werden: „sie werden versuchen, Euch in eine Fahndung nach uns einzubeziehen“. Damit nehmen sie ihre eigene Politik zurück: ihnen ist bekannt, daß die Bevölkerung sich zu Hetzkampagnen mißbrauchen läßt – was sich in der Zwischenzeit in Gestalt der über elftausend sachdienlichen Hinweise an die Polizei bestätigt hat –, daß Lorenz gewählt wurde von den Opfern der „Akkordhetze und Bespitzelung, des Werkschutzes und des Paragraphen 218“. Was sie als Angst vor der Irreführung des Volkes ausdrücken, ist nur das Wissen darum, daß die Bürger Gründe haben, die Staatsgewalt anzuerkennen und zu unterstützen. Käme es ihnen wirklich darauf an, die staatliche Gewalt zu beseitigen, Akkordhetze, Werkschutz, Verteidigereinschränkung und den Paragraphen 218 abzuschaffen, würden sie zu ihrem Adressaten nicht den Staat wählen, sondern diejenigen, durch deren Zustimmung sich das staatliche Handeln mit all seinem Terror legitimiert. In ihrem Verhältnis zum Staat tun sie so, als sei die moderne Gesellschaft durch die unmittelbare Gewaltanwendung von solchen Typen wie Lorenz gekennzeichnet, und kaum haben sie die aus diesem Mißverständnis folgende politische Praxis eingeschlagen, fällt ihnen auch schon wieder ein, daß es so einfach, wie sie es meinen, nicht ist. Ihre nachträglichen Bemühungen, die Tat zu legitimieren und sich der Sympathien des „Volkes“ zu versichern, geraten denn auch eher zu einer Robin-Hood-Parodie als zum Nachweis des volksfeindlichen Charakters des CDU-Politikers. Es wundert keinen, daß das unfreiwillige Opfer ihrer Wohltat, „eine Mutter (25 Jahre CDU-Mitglied) mit einem mongoloiden Kind“, dem die Anarchisten 700 Mark aus dem Eigentum von Peter Lorenz zukommen ließen, mit Entrüstung von sich gewiesen hat, das »Verbrechergeld« anzunehmen, um es dem rechtmäßigen Besitzer zurückzuerstatten, worauf dieser die Gelegenheit, mit einer großzügigen Schenkung eine massenwirksame Geste loszuwerden, wohl nicht ungenutzt vorübergehen ließ.
Unterdrückung und Unterdrückte Was Anarchisten in ihren Aktionen nicht wahrhaben wollen und woran sie sich in ihren Appellen wieder erinnern, ist die Tatsache, daß die Unterdrückung, gegen die sie zu kämpfen vorgeben, auf der Anerkennung des Willens der Unterdrückten beruht, daß also die Befreiung der „Massen“ deren Einsicht in die Verhältnisse voraussetzt, unter denen sie Massen sind, und als solche „Reaktionäre“ wählen – und nicht durch Bomben, Attentate und Maschinengewehre einiger Desperados bewerkstelligt werden kann.
II. Die Reaktion des Staates Der Staat, den die Anarchisten zu ihrem Gegner erklärt haben, reagiert auf ihre Herausforderung nicht bloß mit Gewalt, sondern mit legitimierter Gewalt. Er demonstriert damit den Anarchisten, daß sie mit ihrer Angst vor einer Anfälligkeit der Bevölkerung für die Argumentation der Staatsagenten prinzipiell Recht haben. Nicht daß die Staatsmänner keine Lust hätten oder sich nicht befugt wüßten, hart gegen die Übeltäter vorzugehen, ist sein Problem, sondern daß die Härte auch eine ist, die von den Staatsbürgern gebilligt wird. Er weiß sich dem Volk verpflichtet in allen seinen politischen Schritten und zeigt, daß er bei allen alternativen Vorgehensweisen sich der Billigung durch die „Massen“ versichern will. Und diese Aufgabe löst er, indem er demonstriert, daß alles, was er tut, mit rechten Dingen zugeht. Als Rechtsstaat will er Gewalt üben und die Lesung von Bundesjustizminister Vogel im deutschen Fernsehen war eine Beweisführung, daß in unserem Lande der Staat Gewalt üben kann und er der einzige ist, der dies mit Recht tut. Und darum geht es ihm, wenngleich bei der Rechtsgüterabwägung plötzlich als neuer Gesichtspunkt die Menschlichkeit ins Blickfeld gerät. Lorenz oder die Staatsraison – so lautete die Alternative. Sich als Staat tatsächlich seinen Pflichten gemäß zu verhalten und als die einzige von allen anerkannte Gewalt sich nicht erpressen zu lassen, hätte das Leben von Peter Lorenz gefährdet. Und dieses Leben muß ihm genauso teuer sein, wie all die anderen Menschenleben, deren Schutz er in der Verfassung verspricht – wenngleich er es bei der Zerstörung von Menschenleben, die tagtäglich im Produktionsprozeß oder auch in seinen außenpolitischen Aktionen stattfindet, nicht so genau nimmt. Hier aber hing es, für jeden sichtbar, von seiner Entscheidung ab, was mit dem Bürger und Staatsmann Lorenz geschehen würde, so daß es nicht weiter verwundern muß, daß die Vertreter des Staates die Differenz von Politik und Menschlichkeit für die Entscheidung, die sie treffen mußten, ins Spiel bringen konnten. CDU-Mann Kohl betonte den „Vorrang“ der Menschlichkeit gegenüber der „Auseinandersetzung um Mandate“ und ließ durchblicken, daß die freien Wahlen, Signatur der heilen demokratischen Welt, zunächst anderen Kriterien gehorchen, als den „menschlichen“, an die unsere Politiker ausgerechnet durch Anarchisten erinnert werden: in Wahlen geht es eben „um Mandate“, darum, daß sich eine Partei mit ihrer Variante der Ausübung der Staatsgewalt durchsetzt …
Staatsraison und konkretes Leben Und mit Stolz verkündete ein anderer Vertrauter des Volkes, Maihofer, daß die gegenwärtigen Repräsentanten der Deutschen sich für das „konkrete Leben“ von Lorenz einsetzen möchten und lieber die Staatsraison in den Hintergrund stellen. Daß solche Sprüche den Opportunitätserwägungen der jeweils Regierenden entspringen, sprach nicht nur Justizminister Vogel aus, wenn er vor dem Mißverständnis warnte, mit dem Nachgeben gegenüber den Anarchisten sei ein Präzedenzfall geschaffen. Jeder Mensch mit durchschnittlichem Gedächtnis wird sich an die Olympiade 1972 erinnern, als das Interesse der Politiker der Staatsraison den Vorzug gab und ein paar kugelstoßende und diskuswerfende Israelis dem Willen jener Herren geopfert wurden, die sich als Männer des Staats der Erpressung nicht beugen wollten. (Den Verdacht, einen Präzedenzfall geschaffen zu haben, mußte damals seltsamerweise keiner der Verantwortlichen ausräumen!) Ausgerechnet die Anarchisten, deren „verabscheuungswürdigen, unmenschlichen Terror“ die Staatsmänner nicht genug verdammen können, geben ihnen nun die Gelegenheit, sich für die andere Seite, die „Menschlichkeit“ zu entscheiden, sich dessen als einer besonderen Leistung zu rühmen und damit zum Ausdruck zu bringen, daß es im normalen Ablauf ihrer Geschäfte um Menschlichkeit nicht geht.
III. Die Antwort der demokratischen Öffentlichkeit In ihrer Erwägung über die Entscheidungsalternative bekundeten die Politiker, daß es ungeachtet der gefällten Entscheidung um die Selbstbehauptung des Staates geht, aber in weiser Gesinnung auf die Grundlagen der Staatsgewalt taten sie dies in der Form der Erhaltung des Rechtsstaates. (Auch wenn alle Kämpfer wie Jäger gelegentlich über die Stränge schlagen: Kopf ab!) In diesem Punkt sind die Repräsentanten der öffentlichen Meinung, frei von der Notwendigkeit zu handeln und die Konsequenzen rechtfertigen zu müssen, offener: sie benutzten den Anlaß dazu, „an den Grenzen des Rechtsstaates“ (Heigert - Süddeutsche Zeitung) darüber zu raisonnieren, ob eben diese, wenn nicht beseitigt, so doch vielleicht versetzt werden sollten. Der erwähnte Leitartikler fragte sich angesichts der anfänglichen Hilflosigkeit der Staatsgewalt: was kann getan werden? und kam dabei auf einen naheliegenden Gedanken. Es gibt doch eine Form von Staatsgewalt, die mit dem gewaltsamen Angriff auf die Demokratie ganz anders, vielleicht effektiver umspringen kann! Wir führen diese Spekulationen darüber, ob die Diktatur hier nicht das Angemessene wäre, nicht deshalb an, weil wir dem Demokraten mit erhobenem Zeigefinger verbieten wollen, sie anzustellen. Der Witz besteht darin, daß Leute wie Heigert damit aussprechen, daß sie angesichts der Malaise der Güterabwägung, die der Rechtsstaat vorzunehmen hat, rechtsstaatliche Treue durchaus aufzugeben bereit sind – und zwar zugunsten Standpunkts, der die Frage nach der Bekämpfung von Anarchisten festmacht an der Effektivität des Mittels, mit dem diese zu beseitigen sind. Offenbar genügt ein gewaltsamer Angriff auf die Staatsgewalt, daß die Journalisten unserer freien Presse mit zu den ersten gehören, die die beschworenen Grenzen des Rechtsstaats in Frage stellen. Nicht mehr der Gegensatz zu den Prinzipien des Rechtsstaats ist es. der ein Mittel gegen Gewalttäter als nicht angemessen erscheinen läßt, sondern die Wirkung auf dem Feind: der demokratische Journalist bedauert, daß es „selbst so autoritär organisierter Staaten wie Brasilien oder Argentinien nicht gelungen (ist), nicht einmal mit Hilfe eines Gegenterrors der Polizei oder halblegalen „Todesschwadronen““, den Gegnern des Staates das Handwerk zu legen. Die Beteuerung von Journalisten, ihnen liege etwas am Rechtsstaat, wird bei solchen Anlässen durch Überlegungen wie die folgende zurückgenommen: „Es ist wenig mehr zu tun ..., solange man nicht die Prinzipien des Rechtsstaates außer Kraft setzen will. Dies aber kann niemand wollen, zumal auch der Erfolg solcher Maßnahmen, wie die Beispiele in anderen Staaten zeigen, sich mitnichten einstellen.“ Wenn solche Journalisten am Rechtsstaat mit Bedauern festhalten, weil es anders eben auch nicht besser geht, drücken sie damit aus, daß der bedingungslose Verteidiger des Rechtsstaats nicht recht hat, sondern bloß Glück: die bessere Alternative eines in Sachen Anarchismus effektiven Polizeistaates würde jedes seiner Argumente hinfällig machen. Die sonst bis zum Exzeß gepredigten absoluten Ideale der freiheitlichen Demokratie besitzen nunmehr relative Geltung – wären sie erfolgversprechend, hätte man gegen die Mittel des Polizeistaats nichts mehr einzuwenden.
Parteigänger der Staatsgewalt Der Schritt den die Politiker praktisch (noch) nicht gehen, vollziehen die demokratischen Zeitungsschreiber gedanklich: sie werden vom Verteidiger des Rechtsstaats zum Propagandisten der bedingungslosen Selbstbehauptung der Staatsgewalt. An dem Punkt, wo ein Angriff auf den Staat stattfindet, gestehen also bürgerliche Journalisten das Prinzip ein, das ihre kritischen Bemerkungen gegen die eine oder andere Entscheidung einer Regierung beherrscht, wie sie sie jahraus jahrein von sich geben. Ihre Kritik anläßlich verschiedener Maßnahmen der Staatsgewalt ist stets verbunden mit deren Anerkennung, stets sind sie tolerant, äußern Meinungen und sind von nichts weiter entfernt als von der Anstrengung, ihre kritischen Meinungen in die Tat umsetzen zu wollen. Während im normalen Ablauf des journalistischen Geschäfts ihre affirmative Stellung nur darin zum Ausdruck kommt, daß sie nörgeln statt kritisieren, nicht berücksichtigte Interessen erwähnen statt Fehler benennen, Mängel beklagen statt angreifen, decouvrieren sie sich angesichts der Erpressung des Staates als ganz gewöhnliche Parteigänger der Staatsgewalt. Und das nicht nur durch ihre Argumente, sondern auch durch die Form, in der sie sie vortragen: sie werden nicht nur zur Befürwortern der staatlichen Gewaltausübung, sondern zu aktiven, militanten, nun mit praktischen Vorschlägen nicht geizenden Verfechtern des harten Kurses.
Die Suche nach den geistigen Wurzeln Die Solidarität aller Demokraten praktizieren sie nun als eifrige Suche nach den Feinden der Demokratie. Während die Polizei bislang erfolglos die Entführer ausfindig zu machen sucht, forschen die Schreiberlinge umso erfolgreicher nach den geistigen Wurzeln. Die Ereignisse, die sie dabei zu Tage fördern, zeigen jedoch, daß es ihnen nicht um die Aufklärung der Ursachen zu tun ist. Hans Heigert z. B. stößt auf .das in den jungen Männern jeweils nur zum Teil domestizierte Aggressionspotential“ und leitet dann eine „Faszination der Gewalt“ aus der „Umwertung der Begriffe“ ab, um schließlich die intellektuellen vor ihrer „eigenen Verführbarkeit“ zu warnen, die ausgerechnet in ihrer Intelligenz angelegt zu sein scheint, während sein Kollege Bernhard Ücker vom Bayerischen Rundfunk in faschistischer Manier den Anarchismus zuerst einmal mit einer Epidemie vergleicht, um ihn dann auf die Wühlbarkeit von „Radikalen“ zurückzuführen, die durch ihre Reden systematisch den „Staat machtlos, schlecht und lächerlich“ machen, und „moralische Wertbegriffe zerbröseln“. Es geht also gar nicht darum, die Gründe anarchistischer Gewalttäter aufzuhellen, denn diese sind ja vorab als irrational, krankhaft und schlechterdings nicht begreifbar qualifiziert, so daß es für einen F. J. Strauß z. B. ausreicht, auf Hasch, Alkohol und Preludin hinzuweisen. Der tiefere Sinn der Suche nach den geistigen Wurzeln dagegen liegt in der Frage, wer noch zu den Tätern zu rechnen ist. „Die Szene der Sympathisanten“ (Heigert), die geistigen Mittäter sollen ausgemacht werden und hat man den Anarchismus bereits auf eine „Umwertung der Begriffe“ und intellektuelle Schlechtmacherei zurückgeführt, dann fällt es leicht, alle diejenigen, die überhaupt noch etwas auszusetzen haben, denen irgendetwas an der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht gefällt, zu den Sympathisanten der Anarchisten zu erklären. Ein Ücker stellt mühelos einen Zusammenhang zwischen den Lorenz-Entführern und dem unglückseligen ehemaligen SPD-Stadtrat Geiselberger her, weil dieser in seinen ehrlichen, nur leider zu weitgegangenen Bemühungen, den Ansprüchen von ihm vertretenen Bürger nachzukommen, sich bis zu der Ungeheuerlichkeit einer radikalen Bodenreform verstiegen und dadurch mißliebig gemacht hat. Und wer bereits in den Reihen der SPD Baader-Meinhof-Sympathisanten wittert, für den ist die Reduktion von Kommunisten auf Staatsfeinde längst schon klar. Kommunistische Politik erscheint in den Pressekommentaren lediglich als umstürzlerisches Treiben – umgekehrt steht für die professionellen Interpretatoren des Weltgeschehens fest, daß hinter jedem Terrorakt Kommunisten stecken. Und zur Bekämpfung aller Staatsfeinde fordern sie den Staat auf, seinen Gewaltcharakter effektiver hervorzukehren. Die Tat der Anarchisten ist ihnen nur ein Anlaß, ihr Bekenntnis zum Staat und seiner Gewalt abzulegen, und zwar in der Form des moralischen Entsetzens, der Empörung, des zur Schau gestellten Mitleids. Das ist also der Standpunkt jener Leute, die sonst so gemäßigt, weise und besonnen jeglicher staatlichen Entscheidung eine kritische Ergänzung entgegenzuhalten wissen und angesichts eines anarchistischen Gewaltakts ihre Gefühle des Abscheus und Entsetzens nicht zurückhalten können, Zeitungsspalten voller Empörung und Ekel produzieren, um nichts mehr bemüht sind als die Schärfe ihres moralischen Urteils gegen Gewalt vor aller Welt herauszustellen – und dies nur um ihre moralische Sanktion individueller Gewalt in den Ruf nach staatlicher Gewalt, notfalls jeder Couleur, münden zu lassen. Diese Sorte von Ablehnung der Gewalt ist nichts als Parteinahme für staatlichen Terror, den die Zunft der Journalisten für das Selbstverständlichste von der Welt hält, solange der Staat ihr Geseiche nicht zensiert. Und wer die Politik eines amerikanischen Präsidenten, der demokratische Spielregeln nicht gerade schätzte und dessen Entscheidungen den Tod von Hunderttausenden zur Folge hatten, mit den vielschichtigen Vater-Mutter-Beziehungen, denen der junge Nixon ausgesetzt war, erklärt (so jüngst in der SZ), dem ist nicht Ernst mit seinem Plädoyer gegen Gewalt, entzieht er doch damit seinen Gegenstand der andernorts so peniblen moralischen Kritik. (Daß diese Welterklärer damit allerdings auch die von ihnen hochgehaltene Demokratie als eine Staatsform hinstellen, die das Ausleben von „psychopathischen Neigungen“ mit der Legitimation staatsmännischen Geschichtemachens versehen kann, kümmert sie wenig.)
Ein Blankoscheck für die Staatsgewalt Wer die im Krieg sich äußernde Natur des demokratischen Staates nur noch als militärtechnisches Problem, garniert mit Totenstatistik zu präsentieren pflegt, wie das alle unsere über die Lorenz-Entführung so empörten Schreiberlinge tun, der muß angesichts eines anarchistischen Verbrechens nur eines demonstrieren: daß er ein verantwortungsbewußter Staatsbürger ist, was sich an der Bereitschaft erkennen läßt, seinem Staat einen Blankoscheck für die Bekämpfung all seiner Feinde auszustellen. Dabei kommen ihm keinerlei moralische Bedenken, denn letztlich – so meint er – ist die Bedrohung der Staatsgewalt ein Angriff auf die Existenz eines jeden Staatsbürgers. Was dem entführten Lorenz widerfuhr, „kann jedem anderen von uns, prominent oder nicht, passieren“, entschuldigt die Münchner „Abendzeitung“ ihre Variante von Staatstreue. Sie vergißt kurzerhand, daß Anarchisten, die doch beanspruchen im Namen der „Massen“ zu handeln und den Staat angreifen, daher Staatsagenten zum Opfer ihrer Aktionen auswählen und daß der Staat sich selbst auch nur dann bedroht sieht, wenn das Leben einer seiner Funktionäre auf dem Spiel steht – die Entführung eines einfachen Bürgers würde als ein normaler krimineller Akt der Polizei anvertraut, ohne daß die Krisenstäbe der Parteien zusammentreten müßten. Dieser kleine Unterschied wird jedoch geleugnet, um die Bürger darauf aufmerksam zu machen, daß es ihr Staat ist, der bedroht ist, indem man den anarchistischen Gewaltakt in eine Bedrohung für Leib und Leben jeden Bürgers umdichtet. Offenbar hofft man darauf, daß die Angesprochenen nicht alleine die Aufrechterhaltung ihres Staats befürworten, sondern auch noch auf den Glauben verfallen, ihr Schicksal sei mit dem ihrer politischen Repräsentanten . unmittelbar verknüpft. (Die Mitglieder des MSZ-Kollektivs jedenfalls fürchten sich mehr vor ihrem Staat als vor einer möglichen Entführung durch die „Bewegung 2. Juni.“)
IV. Des Volkes Stimme Wo Fernsehkommentatoren und Zeitungsschreiber ihre Sympathie für einen mit mehr Gewalt ausgestatteten Staat mühsam mit Argumenten zu belegen versuchen, äußert sich des Volkes Stimme offen. Der Staat, so lautet die Forderung, solle mit seinen Gegnern kurzen Prozeß machen Eine Vielzahl jener Bürger, auf die sich die Anarchisten in ihrem Angriff auf Staat und Justiz berufen, läßt in ihren Verlautbarungen zur Entführung von Peter Lorenz das Votum eines Jäger oder Dregger für die Wiedereinführung der Todesstrafe als vergleichsweise harmlose Konsequenz erscheinen: die bloße Hinrichtung der Entführer ist in ihren Augen zu milde, unangemessen menschlich. Und die Bildzeitung hilft der Phantasie der einfachen Leute auf die Sprünge, wenn sie den befreiten Häftlingen „viel Spaß“ beim Baden in Aden wünscht: „Das Meer ist von Haien verseucht.“ Wenn die Mitglieder der Westberliner Polizei bei ihren Suchaktionen die Gelegenheit dazu benutzten, das Inventar einiger Wohngemeinschaften zu demolieren, können sie sich der Zustimmung der schweigenden Mehrheit sicher sein. Es ist zwar nicht rechtens, aber verstehen kann man solche Reaktionen schon, formulierte – stellvertretend für viele – der Polizeipräsident.
Wer sind die Volksfeinde? Diese Rechnung, die die Bevölkerung den Anarchisten präsentiert, dokumentiert auf makabre Weise, was sie nicht wahrhaben wollen: daß „Volksfeinde“ wie Lorenz ihre Macht der Zustimmung des Volkes verdanken. Das Verlangen des Bürgers nach Anwendung polizeistaatlicher Methoden gegen die Anarchisten als Folge der Herausforderung des Staates zeigt, wen er als seinen Feind betrachtet – nicht den Staatsmann, sondern dessen Gegner.
V. Was lernen wir aus der Lorenzentführung? Angesichts einer Situation, in welcher der raisonierende Journalist aus demokratischen Bedenken heraus mit der Diktatur liebäugelt und das Volk nicht nur zeigt, daß CDU und andere „Volksfeinde“ mit seinem Willen regieren, sondern daß es sie auch, mit mehr Macht auszustatten bereit ist und den Faschismus weniger fürchtet als die Anarchisten, bemerken gewisse Kommunisten nicht einmal, daß es mit dem Drang der „Massen“ zum Sozialismus hapert, solange sie diesen Staat wollen und sich mit ihrer Unterdrückung einverstanden erklären. Nicht die Berufung auf das Interesse des Volkes ist also an der Zeit, sondern seine Veränderung ... ________________________________________________________________________________ NACHBEMERKUNG: Es befremdet im Jahr 2012 ein wenig, mit welcher Selbstverständlichkeit die MSZ der „Bewegung 2. Juni“ das Etikett „Anarchismus“ verpaßt, obwohl sie in der seither entstandenen Literatur nicht mit dieser Strömung identifiziert wird. Schon gar nicht ihre Nachfolgeorganisation, die RAF, die schon in ihrem Namen eher Sympathien für die Anfänge der Sowjetunion ausdrückte und von der einige Mitglieder später in der DDR Unterschlupf fanden. Die in der bürgerlichen Presse übliche Gleichsetzung von Anarchismus mit Terrorismus und Gewalt mag da etwas unreflektiert übernommen worden sein. Auch die Absicht, kommunistisches Gedankengut von jedem Verdacht des Terrorismus reinzuwaschen, kann dabei mitgespielt haben, gerade angesichts der Hetzkampagnen in der Presse, die die gesamte Linke und Studentenbewegung für diese terroristische Aktivität verantwortlich machte.
aus: MSZ 4 – Mai 1975 |