Justiz und Strafvollzug: DER TOD DES HOLGER MEINS UND DER RECHTSSTAAT
Zugleich beteuern Minister, daß der Rechtsstaat die „anarchistische Gefahr“ gut in den Griff bekommen habe. Und auch die „UZ“ der DKP läßt einen Herrn“ Bockmann zu Wort kommen, der versichert, daß die „Kommunistische Partei eine zutiefst demokratische Bewegung ist“, bei der es „keine Gemeinsamkeit und keine Solidarität mit sich »kommunistisch« . . . nennenden . . . Sekten gebe“. Ferner mahnt er unisono mit anderen staatstragenden Kräften, endlich mit der „Hysterie um eine Handvoll in Gefängniszellen sitzenden Anarchisten“ aufzuhören. (UZ, 13. 12. p. 2) Dennoch, trotz geschlossener Phalanx der Rechtsstaatverteidiger von CSU bis DKP, war der Tod eines Untersuchungsgefangenen Anlaß für Minister und Parteiführer, die Solidarität aller Demokraten mit der Justiz zu beschwören. Die Justiz selbst schwor, daß alles rechtens zugegangen sei und es auch in Hinkunft so bleiben werde und trotzdem ist plötzlich der Strafvollzug, um den es sonst so ruhig ist, wie es in ihm normalerweise zugeht, Gegenstand von Zweifeln und Kritik: „Wie auch immer die genaue Untersuchung des Todes von Holger Meins ausgehen mag, Zweifel und Unbehagen werden bleiben, so oder so.“ (Frankfurter Rundschau) Die öffentliche Diskussion kopiert das Verfahren der Justiz bei der Würdigung von Sachverhalten, mit denen sie befaßt ist – sie fragt nach der Schuld.
Der Schuldfrage erster Teil: Die besondere Stellung der RAF zum Staat Die zum sogenannten harten Kern der RAF zählenden Häftlinge konfrontierten die Staatsagenten mit dem Problem, das die „Baader-Meinhof-Gruppe“ im Sommer 1973 vorübergehend zum Staatsfeind Nr. 1 der BRD werden ließ: die organisierte, politisch motivierte Gewaltanwendung, den Angriff aufs Recht in einem demokratischen Rechtsstaat. Mit ihrer Inhaftierung schien zunächst das Problem beseitigt, die sozial-liberale Koalition prunkte im Wahlkampf mit ihrem „Sieg“ über den „politischen Terror“ in unserem Staat. Der Kurzschluß liegt auf der Hand: bei den RAF-Mitgliedern handelt es sich eben nicht nur um Kriminelle. Der Kriminelle im klassischen Sinn des Strafrechts verletzt das Recht. Der Rechtsbruch wird durch die Strafe geheilt, wie die Jurisprudenz sich gepflegt ausdrückt, wenn sie jemanden in den Knast schickt, im Idealfall zeigt der Täter Reue und gelobt Besserung. Im Normalfall vermeidet er es, mit seinen Taten zu prahlen, akzeptiert die Strafe, indem er sie absitzt, sich im Gefängnis gut führt und dadurch sogar früher entlassen wird. In solchem Handeln zeigt sich das unausgesprochene Einverständnis des Delinquenten mit seinen Richtern, daß das Recht für alle gelten soll. Diese Komplizenschaft zwischen der Justiz und der RAF, vermittelt über das Recht, konnte natürlich nur blindes Vertrauen für Recht und Ordnung oder politisch motivierte Schönrednerei unterstellen und zunächst erfolgreich der Öffentlichkeit verkaufen. Ein auch nur flüchtiger Blick in die Publikationen der RAF selbst die Äußerungen Inhaftierter machen deutlich, daß die RAF als „Kampf gegen den Kapitalismus“ gerade und besonders den Staat und seine Institutionen im Auge hat, vor allem auch die Justiz als Ausdruck staatlicher Gewalt. Es konnte also keinesfalls eine Kooperation der Baader-Meinhof-Häftlinge beim Prozeß der Rechtsfindung erwartet werden, geschweige denn ein braves Harren der Dinge, die auf den „harten Kern“ zukommen: man ließ ihnen vorsorglich eine Sonderbehandlung in der U-Haft zuteil werden. Isolation von den „gewöhnlichen Kriminellen“, verschärfte Kontrolle der Verteidiger u a. m. in der Einschätzung, diese Häftlinge würden auch im Knast das bleiben, was sie draußen waren, Feinde des Staates und seiner Institutionen Die einsitzenden RAF-Mitglieder reagierten auf die Sonderbehandlung ganz anders, als sie vorher mit dem Recht umgesprungen waren: plötzlich besannen sie sich auf das Recht. Sie traten in den Hungerstreik.
Der Schuldfrage zweiter Teil: Hungerstreik bis zum Ende Wenn wir hier den Widerspruch einer Gruppe konstatieren, in den sie sich gegen ihre eigene politische Programmatik begab, so geschieht dies nicht mit der hämischen Rancune derjenigen, die meinen, Gegner des bürgerlichen Staates hätten per se keinen Anspruch mehr auf die Bürgerrechte, sondern in der Absicht, die Fehleinschätzung der Wirksamkeit des Mittels Hungerstreik im Falle der RAF aufzuzeigen. Von Anfang an mußte klar sein, daß die Öffentlichkeit an deren humanitäre Gefühle appelliert wurde, nahezu geschlossen gegen die Ziele der RAF ist, sowohl diejenigen, wegen deren Verfolgung sie in den Knast gekommen war, ais auch diejenigen, die sie mit dem Hungerstreik verfolgte. Mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit der Delinquenten vermochten die Vollzugsbehörden und die Justiz ohne größere Schwierigkeiten die Legitimität und die Adäquatheit ihrer Maßnahmen der Öffentlichkeit zu vermitteln. Dies spürte z. B. Sartre, der während einer halbstündigen Pressekonferenz den gesamten fragwürdigen Respekt verlor, den ihm die bundesdeutsche Presse immer noch zollte, als er sich die These von der Isolationsfolter zueigen machte. Der Kampf der hungerstreikenden RAF- Mitglieder verengte sich folglich auf eine Auseinandersetzung zwischen den Häftlingen und ihren Anwälten einerseits, der Justiz und den Vollzugsbehörden andererseits. Das Kalkül der RAF zielte auf die Bestimmung des Gesetzes, daß die Vollzugsbehörden mit allen Mitteln den Tod der Streikenden verhindern müssen. (Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Carstens macht sich mit seinen Überlegungen übers Sterbenlassen Hungerstreikender letztlich strafrechtlich relevante Gedanken, die sich juristisch in Termini wie Beihilfe zum Selbstmord oder Tötung auf Verlangen fassen ließen. Daran ändert auch der Verweis auf englische Praxis nichts, denn in der BRD gilt immer noch das StGB.) Damit ist aber ausgesprochen, daß die RAF einen Hungerstreik bis zum physischen Ende mit einkalkulierte. Dies produziert einerseits jene erschreckend wahnhaften Äußerungen, z. B. des Holger Meins, in denen sich revolutionäre Politik nur noch zwischen den Alternativen Sieg oder Tod bewegt, andererseits überantwortet es das Schicksal der Streikenden der akribischen Pflichttreue der Vollzugsbeamten. Dies besonders merkwürdig: ist für die RAF jeder Staatsagent a priori ein Schwein, so sollen andererseits die Schweine Garantie dafür bieten, daß man nicht draufgeht. Daß letzteres den RAF-Mitgliedern als Widerspruch bewußt ist, zeigt ihre Haltung zum Tod, die mit Kommunismus nun gar nichts mehr zu tun hat, sondern nur noch mit Kategorien der Mystik erfaßt werden kann. So Meins im Knast: ,,Es stirbt allerdings ein jeder. Frage ist nur wie und wie du gelebt hast und die Sache ist ja ganz klar. Kämpfend gegen die Schweine als Mensch für die Befreiung des Menschen: Revolutionär, im Kampf – bei aller Liebe zum Leben: den Tod verachtend. Das ist für mich: dem Volke dienen – RAF.“ Gerade wer sich als Kommunist, als Revolutionär versteht, sollte mit Brechts Herrn Keuner sagen: Gerade ich muß überleben! Auch der von der RAF gerne zitierte Mao Tse-tung bringt sein Gleichnis vom Tod des Revolutionärs, der schwerer als der Tai-Berg wiegt, als Nachruf auf einen gefallenen Genossen und nicht als Aufforderung zum Selbstmord. Der Tod in den Äußerungen der RAF erhält seine eigene Dignität, als Tod für die Sache. Im verzweifelten Ausruf „Holger lebt!“ steckt mehr Religion als Revolution.
Der Schuldfrage dritter Teil: Der Tod des Holger Meins ,,Es ist keine Frage von Zuneigung oder Abneigung für die Baader-Meinhof- Gruppe: Aber für den Tod des Holger Meins werden die zuständigen Behörden auch nicht mit noch so schönen Worten eine Verantwortlichkeit hinwegreden können.“ (Abendzeitung, München) Dies der unserer Kenntnis nach weitestgehende Kommentar der liberalen Öffentlichkeit. Einher geht mit ihm allerdings immer die Erklärung für ein etwaiges Versagen der „zuständigen Behörden:“ „Dieser Widerstand gegen alles, was Justiz und Vollzug für unerläßlich hallen, dazu das feste Bekenntnis zum Terror als politischer Methode und die Erinnerung an die in früheren Jahren durch sie praktizierte Gewalt mit Bomben und Pistolen, all das zusammen signalisiert wohl auch für den jüngsten Wachtmeister eine Art bisher nicht bekannter Gefährlichkeit von Häftlingen.“ (Frankfurter Rundschau) Nimmt man beide Äußerungen zusammen, erhält man die Lösung der Schuldfrage, wie sie sich für aufrechte Demokraten nur stellen kann: sollte gegen Bestimmungen des Rechts durch Vollzugsbeamte verstoßen worden sein, so ist dies zu verurteilen. Jedoch ergeben sich allemal mildernde Umstände für die Täter, wegen der Gefährlichkeit ihrer Opfer, die sie zu Kurzschlußhandlungen verleiten können. An Holger Meins zeigt sich extrem zugespitzt der Widerspruch im Strafvollzug: er soll die Gesellschaft vor jedem Bruch des Rechts schützen. Besonders gefährliche Rechtsbrecher verlangen besonders harte Schutzbedingungen. Dabei gerät das zu Schützende in Gefahr, selbst wieder verletzt zu werden, das Recht. Ob dies nun einer extensiven Auslegung der Paragraphen oder der Privatwillkür des Vollzugsbeamten geschuldet ist, ändert nichts an diesem Sachverhalt. Seine Ursachen liegen jenseits obiger Faktoren im Strafvollzug selbst.
Recht oder Willkür im Strafvollzug Die Lösungsversuche der Schuldfrage führen darauf, daß im Strafvollzug selbst das Problem steckt, als dessen Lösung er sich ausgibt. Auf dreierlei Weise haben sich Kritiker Gedanken gemacht. Die Law & Order Vertreter Ihnen zufolge hat sich am Fall RAF der Rechtsstaat zu schwach gezeigt. Er muß Flagge zeigen (Posser, NRW). Es ginge nicht an, daß geschworene Feinde des Rechts unbegrenzt in den Genuß aller seiner Segnungen gelangten. Diese Position hat mittlerweile sich in Gesetzesvorlagen niedergeschlagen, als da sind: Einschränkung der Verteidigerrechte, nicht mehr unbedingt notwendige Anwesenheit der Angeklagten bei der Hauptverhandlung, bis hin zur Einführung einer Zensur für Schrifttum, in dem die Gewalt verteidigt wird (letzteres sicherlich nicht durchführbar, wegen des Kahlschlags, den ein solches Gesetz in der Literatur anrichten würde.). Die liberale Position Sie argumentiert – prototypisch Peter Merseburger – nach dem Motto aus allem das beste machen“ und fordert die Bewährung des Rechtsstaates auch und gerade beim Umgang mit seinen ärgsten Feinden. Die RAF muß das Paradebeispiel eines fairen Prozesses bekommen, gerade um sie zu widerlegen in ihrer Behauptung, das geltende Recht sei eigentlich ein Unrecht. Dieser Position sind „Pannen“, wie der Tod des Holger Meins schmerzlich. Sie sieht dabei den Rechtsstaat leiden und leidet mit. Die fortschrittliche Variante Sie tritt in die Kritik des Strafvollzugs ein und entdeckt in ihm einen Mangel: Der Rechtsstaat bestraft die Rechtsbrecher durch Freiheitsentzug, doch hat dies für den Betroffenen ihm unterworfenen aus und solche Folgen widersprechen dem demokratischen Rechtsstaat, der unter allen Umständen die Individualität seiner schwerwiegende Konsequenzen: die Mittel des Strafvollzugs wirken sich zerstörerisch auf die Individualität des Subjekte erhalten muß. Dazu verpflichten ihn die Menschenrechte. Radikaldemokraten fordern daher seit Jahren eine „Humanisierung des Strafvollzugs“. Ins Deutsche übersetzt, heißt das nichts anderes als die „Vermenschlichung der Unfreiheit“ und erhellt den ganzen Widerspruch, der solche Versuche kennzeichnet.
Die Justiz als Garant und Wiederherstellung des Rechts gegen seine Brecher ist für jeden rechtsstaatlich denkenden Menschen die geordnete Form, in der der Gegensatz zwischen dem „Interesse der Gesellschaft“ an ihrem reibungslosen Funktionieren und dem Interesse des einzelnen Rechtsbrechers, der durch seine Tat eben dieses Funktionieren stört, .stattfindet. Durch die Bestrafung des Täters soll nun der Rechtszustand wiederhergestellt werden. Bei gravierenden Rechtsverstößen wird der Täter inhaftiert. Offenbar ist die Isolierung der Straftäter von der Gesellschaft in bestimmten Füllen einziges Mittel, um das gesellschaftliche Leben zu schützen. Damit hat sich die Justiz aber ein Problem aufgehalst: den Strafvollzug. In ihm soll ein freier und gleicher Bürger der Gesellschaft zwangsweise verwahrt werden, d. h. aber auf jeden Fall Aufhebung seiner Freiheitsrechte und in vielen Fällen kommen noch etliche andere Bürgerrechte hinzu, die man ihm wegnimmt (= „Aufhebung der bürgerlichen Ehrenrechte“). Dieser Widerspruch hat Folgen: Längerer Freiheitsentzug ruiniert den Inhaftierten psychisch und physisch – und zwar jeden! Dies sollten diejenigen nicht vergessen, deren humanitäre Empörung nur bei Isolationshaft oder extrem langer U-Haft geweckt wird. Klar ist, daß solche extremen Formen der Isolation nur extremer Ausdruck einer Strafvollzugspraxis sind, welche die Tendenz zur Zerstörung der inhaftierten Person schon in sich trägt. Der Extremfall im Strafvollzug konfligiert allerdings bisweilen mit grundgesetzlichen und menschenrechtlichen Bestimmungen und läßt sich daher noch im Rahmen des geltenden Rechts lindern. Erfolge, die hier erzielt werden, beseitigen Auswüchse, nicht aber den allgemeinen Sachverhalt. Hier muß festgehalten werden, daß die Zerstörung der Individualität beim längerwährenden Strafvollzug nicht dem Privatsadismus der Vollzugsbeamten entspringt (obwohl dieser sicherlich noch sein Teil beitragen kann), sondern durch geltendes Recht sich legitimiert und damit „rechtens“ ist. (Neuerdings sind die Resultate dieses Strafvollzugs Stoff für Fernsehsendungen geworden, die von der ARD als Krimi neuer Art, nämlich authentisch, angeboten werden.) Besonders „geschickte“. Gegner der Todesstrafe haben deshalb darauf hingewiesen, daß der Tod für den Verbrecher „angenehmer“ sei als „Lebenslänglich“, während nicht unerhebliche Teile des Volkes der Auffassung sind, selbst der Versuch der Erhaltung der Individualität, wie er im Strafvollzug ja auch geschieht, sollte aus Kostengründen unterbleiben' (.Die Mörder fressen sich voll auf Steuerzahlerkosten!“). Der Strafvollzug, wie er nach geltendem Recht stattfindet, ist das Ergebnis der Justiz: die rechtliche Qualifikation eines Rechtsbruchs, seine Bestrafung als Verbrechen, ist das gewaltsame Vorgehen des Staates gegen die rechtsbrechende Gewalt. Die Gewalt des Staates taucht jedoch im Recht nicht als Verbrechen auf, sondern als Strafe: in der Strafe verbirgt sich eine bestimmte Stellung der Gesellschaft zu ihren Rechtsbrechern: auf individuelle Gewalt reagiert sie gewalttätig, d. h. sie hebt die Freiheit eines Bürgers auf bei gleichzeitiger Anerkennung seiner Freiheit und Gleichheit. (Die Strafe als Sanktionierung des Rechtsbruchs, der sich immer, gegen Freiheit oder Eigentum eines bestimmten Mitglieds der Gesellschaft oder dieser insgesamt in den Staatsdelikten richtet, ist Gewalt des Staates, die sich gegen das Eigentum oder die Freiheit des Rechtsbrechers richtet. Ihre Verbüßung ist die Wiederherstellung des Rechtszustandes. In diesem Gewaltcharakter der Strafe liegt auch die Affinität der mit ihrer Durchführung beauftragten zum Sadismus begründet.) Dies reflektiert in der Strafprozeßordnung und im Strafvollzugsrecht. Gerade weil das Recht auch den Straffälligen als freien und gleichen Bürger behandelt, ist ihm dessen Individualität gleichgültig. Wille, Bewußtsein, soziale Stellung des Täters interessieren nur als Tatmotiv und finden dort ihre rechtliche Würdigung („niedrige Beweggründe“ u. a ). Im Begriff der Schuld ist diese Reduktion des Individuums auf die Rechtsperson vollzogen. Im Terminus „schuldig“ ist ausgesprochen, daß die Gesellschaft vor dem Schuldigen geschützt, dieser bestraft werden muß. Strafe folgt also aus der Verwandlung bewußten Handelns in rechtlich erfaßbare Kategorien unter Abstraktion von der Individualität des Täters. Ob jemand eine Bank überfällt, weil er besser leben, oder mit dem Geld eine Gesellschaftsordnung beseitigen will, die ihn daran hindert, ist für den Richter ausschließlich ein Problem des Vorsatzes, der die Schuld begründet.
Was heißt: Reform des Strafvollzugs? Eine Veränderung des Strafvollzugs will an der Konsequenz des bürgerlichen Rechts etwas andern, ohne dieses selbst ernsthaft in Frage zu stellen. Damit ist nichts gegen Erleichterungen im Strafvollzug eingewandt, nur gegen das oftmals damit einhergehende Mißverständnis. Der Westberliner Anwalt Otto Schily fordert deshalb vom Strafvollzug das Unmögliche: „Der Widerspruch zwischen staatlichem Strafverfolgungs-(Sicherungs-)interesse und körperlicher Unversehrtheit des einzelnen Gefangenen muß im Rechtsstaat zugunsten des Gefangenen gelöst werden.“ Würde Schily diese Forderung konsequent zu Ende führen, müßte er die Freilassung aller Inhaftierten fordern. Da er dies nicht tut, wohl wissend um die Irrealität einer solchen Forderung, gerät er bei bestem Willen in die Gesellschaft derjenigen, die in unverhohlenem Zynismus von den Annehmlichkeiten des Gefängnislebens reden. Haft ist immer Gewalt gegen Psyche und Physis des Häftlings.“ Hat man diesen Sachverhalt einmal offen ausgesprochen, gelangt man zu wesentlich realistischeren Einschätzungen der Möglichkeiten einer Reform des Strafvollzugs, wie dies R. Wassermann, ein Verfechter des Rehabilitationsgedankens, tut: „Bei alldem muß beachtet werden, daß die Arbeit in den Strafanstalten unter einem fundamentalen Widerspruch steht. Resozialisierung in der Strafanstalt bedeutet, daß in Unfreiheit zur Freiheit erzogen werden soll.“ In Otto Schilys Aufsatz im „Spiegel“ ist die Forderung nach einer, an den Interessen der Häftlinge orientierten Strafvollzugspraxis soweit getrieben, daß sie faktisch auf das Ansinnen hinausläuft, der Strafvollzug solle sich selbst aufgeben, obwohl das nie ausgesprochen wird, weil Schily sicherlich weiß, daß damit die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft zur Diskussion steht. Kurz zusammengefaßt argumentiert Schily so: der Strafvollzug soll Strafvollzug bleiben, aber ihm soll seine zerstörerische Wirkung auf den Häftling genommen werden. Immer dann, wenn der Strafvollzug seine unausbleibliche Wirkung zeigt, die Individualität des Häftlings tangiert, „macht sich“ – so Schily – „Willkür breit“.
Der Tod des Holger Meins und die Justiz Das Brandmarken skandalöser Auswirkungen der Rechtsanwendung läuft mit makabrer Ironie zumeist auf eine Rechtfertigung der Justiz hinaus. Gegen das Recht sei verstoßen worden, wenn die Zerstörung der Individualität des Häftlings einmal bis zum Tode führt, zieht immer den Schluß nach sich, das normale Procedere des Strafvollzugs sei in Ordnung. Die ungewollte Übereinstimmung deckt die Positionen der Reaktion mit denen des flammendsten linken Protestes ab: sowohl die Dregger und Carstens, die alles in Ordnung finden, noch den toten Meins als „Fanatiker“ denunzieren, als auch die ML-Gazetten, die vom „Mord an Meins“ schreiben, lassen keinen Gedanken darüber aufkommen, am Recht überhaupt sei etwas faul. Das Ausschlachten des Todes von Meins als Justizskandal, ebenso wie seine Vertuschung affirmieren letztlich die Justiz und ihren Strafvollzug. Und das liberale, fortschrittliche Bewußtsein, das, der Humanität verpflichtet, gelegentlich noch dasjenige am Strafvollzug verspürt, was die Humanität zerstört, gelangt bestenfalls zu dem unfreiwilligen Zynismus, eine Vermenschlichung des Unmenschlichen zu fordern, eine „Humanisierung des Strafvollzugs“, die Einrichtung des gemütlichen Elends im Knast. Spätestens an den Resultaten des Strafvollzugs, den entlassenen „Sträflingen“, wird ihnen jedoch das Problem erneut präsentiert, das sie schon gelöst wähnten.
aus: MSZ 3 – Februar 1975 |