Regierungskrise in Portugal Die Freiheit ist kein Kaufhaus
fragte Alfredo Nobre da Costa, Nachfolger des sieben Wochen zuvor gestürzten Mario Soares, die Parteien, als diese in ihrer Mehrheit den Willen bekundeten, seiner Regierung der Ingenieure und Technokraten das nötige Vertrauen zu versagen. Daß der Chef der von Staatspräsident General Eanes ins Amt gehobenen Notstandsregierung dennoch scheiterte und damit die Amtsgeschäfte nur bis zur Bildung einer neuen Regierung fortführen wird, lag dabei am allerwenigsten an seinem „ambitiösen Programm des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der finanziellen Sanierung Portugals“ – was sich schon daran zeigt, daß in der mehrtägigen Parlamentsdebatte über das Programm der neuen Regierung kaum gestritten wurde. In ihr war vielmehr die Rede davon, daß der General an der Spitze des Staates „zu früh“ den Führer der Sozialisten aus dem Ministerpräsidentenamt entlassen hatte, als es zum Bruch der Koalition zwischen PS und Demokratisch-Sozialem Zentrum (CDS) gekommen war, die Gefahren einer unabhängig vom Parlament gebildeten Regierung für die „Demokratie“ des Landes zu groß, die Mitglieder der Regierung Nobre da Costas „prokommunistisch“ bzw. „Reaktionäre und Kapitalisten“ oder gar ein „Körper ohne Seele“ seien usw. Weil der Mißtrauensantrag der Sozialisten schließlich ausgerechnet vom CDS, der die Koalition mit Soares hatte platzen lassen, unterstützt wurde, obwohl die Zentrumsdemokraten gegenwärtig nicht besonders scharf auf Neuwahlen sind, und es damit seinem Konkurrenten im rechten Lager, dem PSD leicht machte, als einzige Partei – da die Kommunisten sich der Stimme enthielten – gegen den Mißtrauensantrag zu votieren, obwohl gerade der PSD am meisten auf vorgezogene Neuwahlen als „Lösung der Regierungskrise“ spekuliert, war für den Beobachter aus den westlichen Metropolen eines klar: daß „alle Parteien im eigenen Interesse und schon mit Blick auf die kommenden Wahlen“ handelten statt im Interesse des portugiesischen Staats. Mit diesem vom Standpunkt der politischen Stabilität des „europäischen Armenhauses“ erhobenen Vorwurf wird allerdings übersehen, daß im gegenwärtigen Parteiengerangel um die Macht auf die von demokratischen Politkern sonst so beliebte Gleichsetzung des Staatsnutzens mit dem der Bürger völlig verzichtet und nur noch um die effektivste Staatsführung gestritten wird – eine Tatsache, die darauf verweist, daß die augenblickliche Auseinandersetzung in Portugal ohne die Beteiligung eines Volkes abläuft, dessen Aktivitäten noch vor wenigen Jahren auch und gerade hierzulande zu besorgten Schlagzeilen Anlaß gaben.
Die historische Leistung des „großen Sozialdemokraten“ Soares und seiner Partei bestand darin, die Hoffnungen der portugiesischen Massen auf eine Besserung ihres Elends durch einen „gerechten Staat“ zur Konsolidierung einer Staatsgewalt einzusetzen, die dergestalt Gerechtigkeit gegenüber jedermann walten läßt, daß die Misere jetzt demokratisch legitimiert ist und als Vorstufe eines künftigen Wohlstandes auftritt. Sozialdemokratische Reformpolitik bestand so vor allem in der Revision aller einschneidenden Reformen des MFA und der Regierung Vasco Goncalves: – die „Landreform“ des PS verfugte die Rückgabe eines großen Teils der enteigneten Latifundien und wurde durchgesetzt mit der Vertreibung der neuen Besitzer und der Auflösung der Landkooperativen im Alentejo – die „Sozialreform“ nahm alle weitgehenden Zugeständnisse an die Arbeiter zurück, so den totalen Kündigungsschutz, das uneingeschränkte Streikrecht und die „übermäßigen“ Mindestlöhne. Flankiert durch den Aufbau einer sozialdemokratischen Gewerkschaft gegen den kommunistisch dominierten Intersindical. Allerdings war ein Abflauen der Begeisterung für den als Volkstribun angetretenen Soares und seine Partei die unvermeidliche Folge, so daß eine Partei, die die Unzufriedenheit der Massen als demokratischen Sozialismus vertritt nicht mehr die einzige Möglichkeit demokratischer Herrschaft in Portugal ist. Dies bekamen die Sozialisten im Sommer dieses Jahres nachhaltig zu spüren. Allerdings nicht unmittelbar vom Volk, sondern vermittelt über des Volkes Stimmung durch die Konkurrenz der anderen Parteien, die erstmals ein Scheitern des Kabinetts Soares riskieren konnten, ohne Angst vor einer Quittung durch den Wähler haben zu müssen. Andererseits sichert die Angst der einst für die Demokratie begeisterten Massen vor einem erneuten Faschismus die Stabilität des Staates auch dann, wenn der ehemalige Friedensstifter, die PS, nicht mehr der Regierung vorsitzt.
Das in den klassischen Demokratien selbstverständliche Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition, in dem die Leute ihre Unzufriedenheit mit den Maßnahmen des Staates in eine Kritik an der jeweiligen Regierungspartei einbringen und in Wahlen deshalb entweder dem alternativen Staatsprogramm der Opposition zur Macht verhelfen oder weiter zu „ihrer“ Regierung als dem „kleineren Übel“ halten, eine solcherart garantierte Stabilität der Staatsgewalt durch den Wechsel der Regierungsgarnitur hat in Portugal keine Grundlage. Zu unterschiedlich sind die Konzeptionen der Parteien, mit denen sie die nationale Ökonomie sanieren und damit die Demokratie endgültig etablieren wollen: – PSD und CDS setzen auf das „Wachstum um jeden Preis“: also schrankenlose Öffnung des Landes für fremdes xxKapital, was die Wiederherstellung Portugals als lukrativer Anlagesphäre voraussetzt. Und dazu gehört eine xxArbeitskraft, die sich unter ihrem Wert verkaufen muß, eine Landbevölkerung, die frei von Grund und Boden xxsich der Industrie als Lohnarbeiter oder dem Großgrundbesitz als Taglöhner zur Verfügung stellt, und xxschließlich ein Aufbauprogramm, das die Entscheidung darüber, wo investiert wird, ausschließlich dem xxNutzenkalkül der Investoren überläßt und ihnen die Möglichkeit des völligen Rückflusses der Profite einräumt. – die Sozialisten spekulieren auf eine lebensfähige „soziale Marktwirtschaft“ in Portugal – und wollen die dazu notwendigen Mittel von der EG. Auch sie haben keine Bedenken, dafür die Massen zahlen xxzu lassen, versuchen aber Konditionen herauszuschlagen, die den aus der Arbeitskraft herausgeschlagenen xxMehrwert zum weiteren Aufbau der nationalen Ökonomie verpflichtet. – die Kommunisten schließlich propagieren die „nationale Unabhängigkeit“ und unterstützen alle Maßnahmen, die xxdiese befördern. Wobei sie einerseits in Gegensatz zu den EG-Plänen der PS geraten, andererseits von den xxRechten einen „Ausverkauf an den Imperialismus“ befürchten. Diese Position brachte sie bis an die Grenze einer xxUnterstützung des „Technokratenkabinetts“ Nobre da Costas. Die Massen, deren rücksichtsloser Einsatz in allen Programmen unterstellt ist und die dafür die Freiheit genießen dürfen, ziehen aus der praktischen Widerlegung ihrer vom MFA genährten Illusionen, der Staat sei für sie da und nicht umgekehrt, den Schluß, die Ausführung der Staatsgeschäfte ganz den Politikern zu überlassen und auf dem Lande und in den Fabriken ihre Pflicht zu tun. Die Politik hat eine Besserung der Lage nicht gebracht, weshalb man sich „illusionslos“ der Schufterei fügt und mit „ökonomischem Verstand“ auch als Arbeiter und Agrartaglöhner unter Umständen eine Rechtspartei wählt, die unter dem Motto „Schluß mit allen sozialistischen Experimenten“ wenigstens sichere Arbeitsplätze verspricht. Das Wohl der Bürger, mit dessen Beschwörung sich demokratische Staatsmänner hierzulande die notwendige Zustimmung des Volks verschaffen, bzw. die Konkurrenz madig machen, spielt in den Auseinandersetzungen der portugiesischen Partei so nur noch eine untergeordnete Rolle. Selbst die demokratische Legitimation der Regierung ist nicht mehr unbedingt erforderlich. Dies bewies Staatspräsident Eanes durch die Einsetzung der gegenwärtigen Regierung Nobre da Costa, die über keine parlamentarische Basis verfügt. Für die Parteien selbst war dies ebenfalls keineswegs Anlaß, die Regierung zu stürzen und ihrerseits eine des parlamentarischen Vertrauens einzusetzen. Indem man nur gegen sie stimmte, ohne eine Alternative zu wählen, nahm man das Verbleiben der „Technokraten“ im Amt bewußt in Kauf, weil man sicher sein kann, daß da Costa auch ohne Parlament die Staatsgewalt am Laufen hält. Die Parteien warten ab, bis eine für sie günstige Konstellation eintritt, also entweder eine neue Koalition oder Neuwahlen, wenn sich eine Mehrheit davon Stimmengewinne verspricht. Es wird sich entscheiden, wenn Eanes demnächst einen neuen Premier (oder auch den amtierenden erneut) vorschlagen muß.
„A liberdade não e um armazém!“ Im „europäischen Armenhaus“ wird sich also nichts ändern. Eine Machtübernahme der Rechten steht solange nicht an, als sich die Portugiesen durch die Angleichung ihrer materiellen Lage an die Verhältnisse unterm Faschismus nicht zu dem Gedanken verleiten lassen, auch die Demokratie diesen Verhältnissen anzugleichen. Sie stellen den vom portugiesischen Industriellenverband CIP in seinem „Jornal Novo“ beklagten Vergleich ihres Staates „mit der eigenen Vergangenheit“ an und versagen CDS und PSD immer noch mehrheitlich die Gefolgschaft, weil sie im Vergleich mit anderen Demokratien zu dem Fehlschluß gelangen, deren ökonomische Situation sei durch Demokratie auch in Portugal zu schaffen. Andererseits ist eine Rückkehr zum offenen Klassenkampf, wie er in den Tagen der MFA-Regierung ausgefochten wurde, ebenfalls ausgeschlossen, solange dessen Ziel im Bewußtsein der Massen „ein gerechter Staat“ ist. Immerhin hat ihnen Soares demonstriert, daß ein richtiger Staat in Portugal nur zu haben ist, wenn man das „gerecht“ streicht. So wird zur Zeit weder der Faschismus restauriert, obwohl ein Ex-Manager des zu den Säulen des Caetano-Regimes zählenden Industriekonzerns Champalimaud der Regierung vorsitzt, noch die Restaurierung der Eigentumsverhältnisse, wie sie unterm Faschismus herrschten, gestoppt, obwohl die antifaschistischen Parteien PS und PC im Parlament über die absolute Mehrheit verfügen. Nobre da Costa darf sich bis auf weiteres öffentlich damit rühmen, daß seine Regierung „pragmatische und wirksame“ Aktionen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik „leichter“ in Angriff nehmen könne als die dem „Zwang“, sich gegenüber ihren Wählern legitimieren zu müssen, unterliegenden Parteien, dies vermöchten. Dabei demonstrieren die Parteien ebenso wie Präsident Eanes ihre mittlerweile erlangte Souveränität dem „Souverän“ gegenüber, dem Volk also, dem man in den Tagen des April jeden Wunsch von den Augen abzulesen versprach, sobald sich der Staat erst einmal vom Faschismus emanzipiert habe. Die Verlaufsform der „portugiesischen Revolution“ erweist diese jedoch als fortlaufende Emanzipation des nun demokratischen Staates vom Volk. Dessen Zustimmung ist nur noch gefragt als Unterwerfung unter den höheren Staatszweck, den derjenige am besten zu erfüllen verspricht, der die divergierenden partikularen Interessen am effektivsten negiert. Die Beobachter in den Staaten, die durch den Sturz des Faschismus eine gewinnbringende Öffnung und Erschließung Portugals für die imperialistische Ökonomie gewittert haben, können deshalb den Parteien Portugals den Vorwurf nicht ersparen, sie seien „egoistisch“ auf ihre Macht versessen und gefährdeten durch ihren „Starrsinn“ die Konsolidierung der bisher erreichten demokratischen Zustände, für die ein „Fachmann“ wie Nobre doch die beste Lösung sei. So ergeht es dem Dr. Mario Soares wie seinem historischen Vorbild in der Sozialdemokratie, dem Weimarer Reichswehrminister Noske: er hat seine Mission erfüllt und muß sich jetzt trotz seiner Verdienste um ein dem EG-Imperialismus nützliches Portugal „borniertes Machtstreben“ vorwerfen lassen. In einem Lande wie Portugal gehört jedoch die gewaltsame Unterdrückung der Interessen der Massen zur conditio sine qua non des Staates und somit zur Konsolidierung der Demokratie, weshalb die historische Parallele nur zum Teil trifft: Dr. Soares kann durchaus mit einem Comeback rechnen, wenn die Portugiesen bei den nächsten Wahlen wieder mehrheitlich auf eine Verwaltung des Elends durch den „demokratischen Sozialismus“ Wert legen und die PS erneut zur stärksten Partei machen.
aus: MSZ 25 – Oktober 1978 |