Als jüngst das Nachrichtenmagazin der Deutschen unter seiner Sparte „Kultur“ Stichwort „Philosophen“ von der Erschütterung des zähesten Dogmas des Marxismus berichten konnte, hat es mit Behagen keinen gewöhnlichen bürgerlichen Ideologen zitiert. Laut SPIEGEL hat der „bedeutende Sozialphilosoph“ Jürgen Habermas bei einer anthropologischen Überprüfung des Übergangs von Aff zu Mensch herausgefunden, daß nicht, wie Marx meinte, die Menschheit erlöst wird, wenn sie morgens zur Arbeit marschiert, sondern ihre Erfüllung findet, wenn sie abends zur Familie zurückkehrt: „Karl Marx hatte in der Arbeit einen Segen gesehen, den Weg der Menschheit zur Selbsterlösung, das, was den Menschen zum Menschen macht. Nun kommt Habermas und verkündet etwas, was die Linke (nicht etwa den SPIEGEL) verstören muß: Nicht die Arbeit, sondern die Familie macht den Menschen zum Menschen.“ So durfte sich der SPIEGEL ein weiteres Mal für die hinteren Seiten eines Mannes der deutschen Wissenschaft bedienen, dessen im Zuge der Studentenbewegung bekannt und nützlich gewordenes Lebenswerk der sonderbaren Aufgabe gewidmet ist, derartige Feinheiten im ideologischen Kampf gegen Linke mit dem Anspruch zu präsentieren, es ginge um die Bewahrung des Marxismus!
Die Perversität, sich auf eine Theorie zu berufen, die man für unbrauchbar hält, ist eine Gepflogenheit, die in der bürgerlichen Wissenschaft sonst nicht üblich ist. Sie hat zwar Profis in Sachen Marxismus abgestellt – aber Marxologen wollen mit Marx nichts zu tun haben. Und andererseits pflegen die Marxisten unserer Tage ihr bürgerliches Zeug nicht als Angriff, sondern als Verteidigung von Marx, auf den sie sich berufen, vorzubringen. Jürgen Habermas hingegen, der jetzige „Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen (und sonst keiner!) Welt“ zu Starnberg, ist stets seinem Anliegen gerecht geworden, noch die dicksten Hämmer bürgerlicher Ideologie für die Diskussion von Marx zu präparieren. Es ist unter anderem daran zu erinnern, daß der Professor Habermas den Anführern der „studentischen Protestbewegung“ mit Entschiedenheit entgegentrat, als er bemerkte, daß diese Studenten der bürgerlichen Universität nicht die nötige Ehrfurcht entgegenbrachten, weil sie mit der Ausbildung etwas anderes vorhatten als sich an deren Reform zu beteiligen (nachzulesen in: „Protestbewegung und (!) Hochschulreform“, insbes. 43f) – um gleichwohl im Rahmen der Sommerschule auf Korčula vor seinem Publikum einen Vortrag zu halten, der sich über „einige Bedingungen der Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaften“ ausläßt. Das neueste Werk des Professors trägt den gewichtigen Titel: „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ – und gleichwohl hat der SPIEGEL keine Mühe, neben dem oben angeführten Witz noch diejenige Stelle dieser Rekonstruktion zu finden, bei der der Autor auf die Möglichkeit hofft, von „anthropologisch historischen Forschungen“ derart „genötigt“ zu werden, daß er nicht umhin kommt, „eines Tages“ „die marxistische Sozial- und Geschichtstheorie“ doch noch „preisgeben“ zu müssen! Wir können also dem SPIEGEL in diesem Fall nicht folgen, wenn er die Frage aufwirft: „Ist Habermas noch Marxist oder nicht?“ Hier muß mit Helmut Kohl gefragt werden: was eigentlich geht im Kopf dieses Mannes der Wissenschaft vor, eines Marxisten, der sich von der bürgerlichen Wissenschaft mit Lust vergewaltigen läßt? Was ist der Grund dafür, daß Habermas seine Feindschaft Marx gegenüber nicht eingestehen will, wenn seine professorale Forscherei doch nichts anderes zu bieten hat als einen Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts mit Ergüssen moderner Anthropologie zu widerlegen, aus denen erst einmal deren Unfähigkeit hervorgeht, auch nur Adam und Eva zu erklären? Wieso kömmt ein bürgerlicher Professor darauf, jahrzehntelang „auszukundschaften“ und zu „testen“, was man vom Marxismus aufgeben müßte, ohne ihn aufzugeben, wobei er stets die wahrlich unschuldige Auffassung wiederholt (diesmal 168), die Preisgabe des Marxismus hinge von der Anerkennung der These von der Geschichtlichkeit des Menschengeschlechts ab? Welche Funktion übt ein solcher Schreiber, dem verwandte Schreiberlinge schon länger „insgeheimen Konservativismus“ vorwerfen und dem von bürgerlicher Seite eine Mischung von Anerkennung und Zweifel zuteil geworden ist, für das Einerlei unserer inzwischen in die Jahre gekommenen kritischen Wissenschaft aus?
Den Grund, weshalb der Sozialphilosoph Habermas sich als Anwalt des Marxismus fühlt, findet man weder in den Marx-Zitaten, die er aufzuführen pflegt, um seine Phantasie an ihnen auszulassen, noch erahnt man ihn, wenn man die bürgerliche Vorstellung von Marxismus zu Rate zieht. Wenn Habermas den Delegierten des 17. Deutschen Soziologentages darlegt, daß er sich „den theoretischen (!) Anspruch des Historischen Materialismus“ „zu eigen machen“ ,,möchte“, dann eignet sich Habermas Marx nicht als den Kronzeugen dafür an, daß das kapitalistische Gemeinwesen sein Ende nehmen soll, sondern daß es seinen Fortgang nehmen muß. Es kommt diesem Professor in den Sinn, an Marx „anzuknüpfen“, weil er in ihm nicht den Kritiker des Kapitalismus, wohl aber den Kulturkritiker vermutet, dessen Sorge dem moralischen Schicksal der Menschheit gilt: „Nach marxistischer Auffassung besiegelt der Sozialismus nicht nur die Selbstzerstörung(!) der bürgerlichen Welt; er soll zugleich deren legitimer Erbe sein, der die produktiven)!!) Kräfte der bürgerlichen Welt bewahrt, freisetzt und fortentwickelt.“ (Rekonstruktion, S. 49) Derartige Statements, die der Professor stets in seine nur an Umfang reichen Gedankengänge „einläßt“, um die Selbstverständlichkeit herauszustreichen, mit der er sich als Marxist verstehen darf, bringen zutage, daß wir es mit einem bürgerlichen Professor zu tun haben, der sich das Gewissen des Revisionismus(1) zu Herzen genommen hat. Deshalb sei kurz daran erinnert, um welche Gewissenlosigkeit es sich handelt, an der der Professor philosophisch interessiert ist. Während Karl Marx im „Kapital“ zeigt, daß die periodisch anfallende ökonomische Erschütterung der kapitalistischen Produktionsweise eine Krise in der Verwertung des Kapitals ist, unter der die vom Kapital ausgebeuteten Arbeiter auch dann zu leiden haben, wenn für das Kapital die Krise vorbei ist (vgl. MSZ 8/1975 „Die Krise“), sind revisionistischer Politik die Tätigkeiten des kapitalistischen Staates, die dafür sorgen, daß dieses Verhältnis so bleibt, der Anlaß, die Massen mit dem Wunschbild von der Krise des Kapitalismus zu traktieren. Aus der Tatsache, daß es in dieser Gesellschaft dauernd kracht, macht der Revisionist den Standpunkt, daß die bürgerliche Ordnung veraltet ist. Indem er dem munter wirkenden Kapital den grandiosen Vorwurf macht, daß es sein historisches Recht verwirkt habe, meldet er seinen Anspruch an, der rechtmäßige Erbe für das Lenken der Geschicke der Gesellschaft zu sein. Er meldet mit anderen Worten seinen Anspruch an, im Klassenstaat (dem in der Rekonstruktion auf Seite 108 mit Berufung auf Hegel und Marx der Persilschein ausgestellt wird, er sei kein „wirklicher“, bloß ein „existierender“ Staat: „Solange die Gesellschaft Klassenstrukturen aufweist, muß die staatliche Organisation Teilinteressen gegenüber Gesamtinteressen privilegiert zur Geltung bringen,“) ein demokratisches Wort mitzureden, um ihn in ein Instrument des ganzen Volkes zu verwandeln. Seitdem die Ideale des Revisionismus den Gang des Kapitalismus begleiten, wird deshalb das Kapital auch nicht bekämpft. Stattdessen haben etliche der Zerstörung anheimgefallene Generationen der Arbeiterklasse auf die Unvermeidlichkeit des kapitalistischen Zusammenbruchs enttäuscht hoffen müssen. Und dort, wo der legitime Erbe der bürgerlichen Welt das Sagen im Staat hat, dürfen sich die Massen der „Bewahrung, Freisetzung und Fortentwicklung der produktiven Kräfte der bürgerlichen Welt“ erfreuen, wie der Professor Habermas treffend, allerdings mit unverschämter Naivität vermerkt: denn ein Sozialphilosoph seines Schlages meint, das Kapital der bürgerlichen Welt bestehe aus Bildungsplanern, Künstlern und seiner eigenen Wenigkeit!
Daß nun Habermas den Marxismus als Sorge über das Schicksal der bürgerlichen Welt hinstellt und dem bürgerlichen Staat mangelnde Demokratiebereitschaft vorwirft, bedeutet keineswegs, daß hier ein bürgerlicher Professor sein politisches Engagement begründet hätte. Weder versteht Habermas sich als Parteigänger des demokratischen Sozialismus noch ist er ein Kamerad des Genossen Steigerwald, um mit marxistischer Kulturkritik eine wichtige Teilaufgabe im Kampf um die Errichtung der antimonopolistischen Demokratie zu übernehmen. Politischen Anteil an der weltgeschichtlichen Schweinerei der letzten hundert Jahre hat der Professor Habermas nur insofern, als er sich für Marx und Engels als Theoretiker interessiert, welche die Krise der bürgerlichen Kultur reflektiert haben. Der Marxismus hat es ihm angetan, weil er in der Theorie des Klassenkampfes nicht nur ein Nein, sondern und vor allen Dingen ein Ja zur „Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft“ entdeckt hat – eine Vergewaltigung von Marx und Engels, die freilich auf gewachsenem Mist bauen kann. Seitdem es eine marxistische Philosophie gibt, steht fest, daß der Marxismus sich um die Bewahrung des kulturellen Erbes, „des Besten der Menschheit“, verdient gemacht hat; steht fest, daß Marx in verantwortungsvoller Weise die Geschichte des höheren menschlichen Bewußtseins danach abgeklappert hat, ob sich in ihr etwas Brauchbares finden läßt – obwohl bei Marx zu lesen ist, daß es eine solche Geschichte gar nicht gegeben hat. Ob es der Philosoph Lenin ist, oder ob sie Korsch oder Buhr heißen, ob es sich um eine Halbbildung aus Jugoslawien handelt – das Rätsel aus der „Deutschen Ideologie“, weshalb die herrschenden Ideen die Ideen der herrschenden Klasse sind, können marxistische Philosophen trotz fleißigen Zitierens deshalb nicht auflösen. Der Sozialphilosoph Habermas kann sich zudem mit ihm nicht anfreunden: „Obgleich die herrschenden Ideen, nach einem Wort der „Deutschen Ideologie“, die Ideen der herrschenden Klasse sind, haben Marx und Engels die Gehalte der kulturellen Überlieferung nicht einfach als ideologisches Bewußtsein verstanden; ideologisch sind für sie allein diejenigen Bewußtseinsformen, die eine zugrundeliegende Klassenstruktur zugleich verschleiern und verraten, die also(!) dazu beitragend). bestehende Rechts- und Herrschaftsordnungen zu legitimieren.“ (Rekonstruktion, S. 50) Der Kulturkritiker Habermas ist dabei, wenn es gilt, aus der Marxschen Kritik bürgerlicher Ideologie das glatte Gegenteil, nämlich deren anerkennende Würdigung, zu machen. Revisionistischer Ideologieerhaltung zufolge hat Marx das kapitalistische Bewußtsein nicht angegriffen, als er dessen Falschheit aus den „zugrundeliegenden Klassenstrukturen“ abgeleitet hat. Vielmehr trat er dem herrschenden Bewußtsein mit seiner berühmten materialistischen Methode so verständnisvoll entgegen (diese Methode, so weiß der Pseudodialektiker Habermas in legitimer Erbschaft der jahrelangen ideologiekritischen Arbeit seines Lehrers Adorno zu berichten, leistet die Verwandlung einer Ideologie in Wahrheit (indem sie die Klassenherrschaft „verrät“!) und zugleich macht sie dadurch die Klassenherrschaft unangreifbar – indem die Ideologie eine „Verschleierung“ ist!), daß er mit ruhigem Gewissen seinem Ziel entgegensehen durfte, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, und die Religion nicht zu vergessen, für die kulturelle Bildung der Proleten zu verwenden! Und weil dem Professor Habermas viel daran liegt, die überlieferten Bewußtseinsformen mit den ihnen zugrundeliegenden Klassenstrukturen zu rechtfertigen und eben nicht diese „Strukturen“ anzutasten, nimmt er Marx auch dafür her, das Blutbad, welches die Bourgeoisie bei ihrer Durchsetzung gegenüber „traditionellen Klassengesellschaften“ angerichtet hat, im Namen der kontinuierlichen Entfaltung des Menschengeschlechts zu legitimieren: „In diesem Sinne versucht beispielsweise Marx im Rahmen des Historischen Materialismus das Recht der bürgerlichen Revolutionsrhetorik(!), also das Recht jener Kritik, die im Namen der bürgerlichen Ideale an den Grundlagen traditionaler Klassengesellschaften geübt worden ist, zugleich zu relativieren und zu begründen.“ (Rekonstruktion, S. 336) Es bedarf wohl keines weiteren Beweises, daß ein kritischer Marxist wie Habermas nichts mehr verabscheut als die Kritik an den Idealen des Bürgertums! Und wer dennoch danach verlangt, dem versichert Habermas noch einmal, daß er Marx allein deswegen schätzt, weil er meint, daß dessen „kritische Einstellung“ dem Kapitalismus gegenüber nichts als Belege für die Anerkennung all dessen, was unsere Gesellschaft täglich hervorbringt, erbracht hat. Fast entrüstet weist Habermas einen „ideologiekritischen Hinweis“ eines Diskussionspartners zurück, der bezüglich des Problems, wie man als kritischer Wissenschaftler den Kapitalismus legitimieren könnte, etwas anderer Auffassung zu sein scheint: „Marx hat doch am Universalismus(!) der bürgerlichen Wertsysteme immer nur kritisiert, daß diese die Dominanz eines Klasseninteresses verschleiern, also ein verallgemeinerungsfähiges Interesse nur scheinbar zum Ausdruck bringen.“ (Rekonstruktion, S. 333) Auch dies ist keine geringe Sauerei. Nicht etwa bürgerliche Marxschmäher und Schulbücher bringen es fertig, den Atheismus und die Unmoral von Marx und Engels zu leugnen – wie sollten sie auch! Nein, es hat ein Jahrhundert marxistischer Philosophie bedurft, um all den Verdrehungen, welche die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus haben erfahren müssen, noch diese letzte hinzuzufügen. Marx und Engels haben nicht etwa einen gewissen Feuerbach deswegen kritisiert, weil er das Christentum verharmlost hätte – nein sie selbst waren es, die nichts anderes im Sinn hatten, als den Massen zuzurufen: Die Pfaffen sind zwar heute noch für die Legitimation eurer Ausbeutung da, aber wenn die Legitimation einmal beseitigt ist, dann gehören sie euch!
Der Weltgeist kann nun wahrhaftig auf einen reaktionären Kulturphilosophen namens Habermas verzichten, der in feinsinnigem Deutsch zu verkünden beliebt, daß die Aufenthalte von Marx in der Londoner Staatsbibliothek dem Ziel gedient hätten, das Christentum im Sozialismus wieder zu Ehren kommen zu lassen, nachdem es im Kapitalismus durch den dieser Gesellschaftsordnung so eigentümlich anhaftenden Zwang zur Rationalisierung aller überkommenen Lebensbereiche (vgl. bloß die erste Seite von „Technik und Wissenschaft als »Ideologie«“ ) gehindert worden ist, noch wie im Mittelalter ein „verallgemeinerungsfähiges Interesse“ darzustellen – es ist schon schlimm genug, daß die Kommunisten wie anderswo auch im anderen Teil Deutschlands die Kirchenfürsten nicht zum Teufel gejagt, sondern für ihre politischen Zwecke eingespannt haben, so daß es ihnen äußerst peinlich ist, wenn durch den Pfarrer Brüsewitz herauskommt, daß man als ehrlicher sozialistischer Pfarrer verrückt werden kann und sich wie im Mittelalter für Gott opfern muß! Doch bringen die angeführten Zitate andererseits Klarheit darüber, für welches Interesse sich der Sozialphilosoph Habermas als marxistischer Kulturkritiker gibt. Daß sich Habermas nicht an dem praktischen Versuch beteiligt, aus unserem Staat endlich ein Organ zu machen, das im Interesse des Volkes handelt, liegt daran, daß der Starnberger Direktor wie die Kritische Theorie überhaupt die marxistische Kulturkritik für Höheres in Anspruch nimmt, statt sich für die Demokratie Berufsverbote einhandeln zu wollen. Mit all seinen Schriften will Habermas, der nicht wie der SPIEGEL meint, ein „bedeutender Sozialphilosoph“, sondern ein reaktionärer Staatsphilosoph ist, nur eins klarmachen (auch und gerade wenn er damit beschäftigt ist, die hinterletzten Probleme bürgerlicher Wissenschaft zu besprechen): das Volk hat sein Auskommen in dieser Wirtschafts- und Sozialordnung, insofern ist der Kapitalismus schon in Ordnung. Was aber für Habermas nicht in Ordnung ist, sind die beklagenswerten Umstände, daß „der Staat eine Integration über(!) Normen gar nicht mehr zustandebringt“ (Rekonstruktion, S. 110), daß ,,empirisch“(!) „die Entwicklung zum Massenatheismus kaum noch zu leugnen ist“ (Rekonstruktion, S. l07), weiterhin daß die Wissenschaften durch die Pest des Positivismus verseucht worden sind: „Inzwischen ist das bürgerliche Bewußtsein zynisch geworden(!)“, indem die Sozialwissenschaften „von verbindlichen(!) normativen Gehalten“ „gründlich entrümpelt worden“ sind (Rekonstruktion, S. 10/11); (das „geworden“ bezieht sich übrigens auf Habermas’ Ansicht, daß zu Zeiten von Marx das moralische Bewußtsein der bürgerlichen Ökonomen und sonstigen Ideologen noch sauber war, so daß sie Marx „beim Wort(!) nehmen und immanent kritisieren konnten“, was allerdings zur dummen Konsequenz geführt hat, daß Marx über die „normative Grundlage“ seiner eigenen Theorie „von Anfang an“ nur „Unklarheit“ verbreitet hat (eine dicke Lüge, Herr Philosoph!). Und warum hat Marx die Welt über seine Wertvorstellungen im Nebel gelassen? Weil er meinte, „dieses Problem“ im „Handstreich“ lösen zu können, „nämlich mit einer als materialistisch deklarierten(!) Aneignung der Hegelschen Logik“'. ( – Oh Wahnsinn ... Wer sonst in aller Welt außer dem Professor Habermas kann sich von dieser Logik aushalten lassen ??) Endlich findet der Professor nicht in Ordnung, daß „die Souveränität des Staates nach außen anachronistisch geworden“ ist, „die nationale Identität zerfällt“ (Rekonstruktion, S. 30). Es besorgt Habermas, daß die Bürger diesem Faktum gleichgültig gegenüber stehen, was man z.B. daran sehen kann, daß „die Bundesrepublik die erste Armee (hat), von der der zuständige Minister erwartet, daß sie ihre Kampfbereitschaft ohne Feindbild erhält“ (Rekonstruktion, S. 29), so daß Habermas weit und breit kein Land sieht, wie sich die „bereits konstituierte Weltgesellschaft“ erhalten kann, „ohne sich auf politische(!) und normative Integration zu stützen.“ (110) Und weil der Kulturkritiker Habermas ein überaus eingebildeter Mensch ist, hat er all das, was für ihn die Probleme der Menschheit sind, auf allumfassende Weise im Titel seiner Rede zur Entgegennahme des Hegelpreises der Stadt Stuttgart (wie man sieht, bleibt auf dieser Welt nicht nur Marx, sondern auch Hegel nichts erspart) auf den staatserhaltenden Begriff gebracht: „Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?“
Dem Kasper aus Starnberg (1) sei's geklagt: „Komplexe Gesellschaften“ können nicht nur eine vernünftige Identität ausbilden, das Schlimme ist, daß die „komplexen Gesellschaften“ es laufend tun. Die Bürger dieses Landes haben praktisch mit der Identität des Kapitals zu tun; der Staat sorgt ebenso praktisch dafür, daß die Leute bei Vernunft bleiben; und die bürgerlichen Sozialwissenschaftler freuen sich darüber, daß die „vernünftige Identität“ von Bürger und Staat so schon funktioniert. Nur einem spätkapitalistischen Junghegelianer ist die existierende Propagandamaschinerie nicht genug, die Parteilichkeit der bürgerlichen Wissenschaft- nicht genug, der Imperialismus nicht genug. Nur der Saubermann Habermas kommt auf die Idee, im Interesse der Erhaltung des Kapitalismus an den Staat die kritische Frage zu richten, ob er nicht auch der Auffassung sei, daß seine Grundlage, der Kapitalismus, untauglich geworden ist. Wenn dem Kapitalismus die Vernunft abgeht, spricht unser marxistischer Kulturkritiker, dann muß nicht die bestehende Vernunft demokratisiert, sondern im Interesse der Vernunft die Grundlage des Staates beobachtet werden, inwiefern der Kapitalismus nicht, völlig aus der Rolle fällt. Nur eine Analyse der Gegenwart, die „nach der Erschöpfung des Innovations- und Anpassungspotentials der bestehenden Gesellschaftsstrukturen“ sich erkundigt, kann da helfen, und diese Analyse ist „nur zu haben“, wie Habermas zu sagen pflegt, wenn die bestehenden Wissenschaften sich aus ihrer unkritischen Parteilichkeit frei machen und sich von der Parteilichkeit marxistischer Kulturkritik alias der „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“ leiten lassen. Dieser exotische Parteigänger des Kapitals hat also nichts Geringeres im Sinn, als den Marxismus zu der staatstragenden Ideologie des Kapitalismus zu machen. Und was seinerzeit Studenten, die Marx entdeckten, die Beschimpfung als Linksfaschisten eingetragen hat, war weiter nichts als das ehrenwerte Bestreben des Professors Habermas, die Kritische Theorie aus ihrem Schattendasein (Adorno), ihrem Spontaneismus (Marcuse) und ihrer Senilität (Horkheimer) zu befreien, um sie brauchbar zu machen für die Aufgabe, die überkommenen bürgerlichen Ideologien so zu revidieren, daß deren Anstrengungen, den Klassenkampf zu verhindern, vom staatsphilosophischen Standpunkt des historischen Materialisten Habermas geprägt werden.
In all seinen Schriften verfolgt daher Habermas den Zweck, das Interesse am Marxismus auf die rechte Bahn zu bringen. War ihm seinerzeit die „revolutionäre Romantik“ des SDS ein Greuel, weil sie der Anerkennung des Marxismus in der bürgerlichen Wissenschaft nicht gerade förderlich war, so schreibt er heute gleich auf der ersten Seite seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus auf, worin der richtige Umgang mit Marx besteht: ,,Rekonstruktion bedeutet in unserem Zusammenhang(!), daß man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser(!) zu erreichen: das ist der normale (ich meine: auch für Marxisten normale) Umgang mit einer Theorie, die in mancher Hinsicht der Revision bedarf, deren Anregungspotential aber noch (immer) nicht ausgeschöpft ist.“ (Rekonstruktion, S. 9) Man beachte die Unverfrorenheit, mit der der Professor Vorschriften in die Welt setzt, wie man Marx zu studieren hat: wenn der Oberverfälscher von Marx am Marxismus Interessierten gleich mitteilt, daß Marx veraltet ist, so ist dies für Habermas fast unwichtig gegenüber seinem Interesse, die Aufmerksamkeit auf die Verwendung von Marx für seinen Zweck zu lenken, das seit Marxens Tod veranstaltete Ausschlachten seiner Gedanken für die Wissenschaft, die er bis aufs Messer bekämpft hat, einen neuen Aufschwung nehmen zu lassen! Und diejenigen, die beim Lesen des „Kapitals“ auf den Gedanken kommen, daß der Gegensatz von Kapital und Arbeit nicht sonderlich lustig ist, erklärt der Professor noch unverfrorener für „korrupt“: „Restauration würde die Rückkehr zu einem Ausgangszustand (Zustand!) bedeuten, der inzwischen korrumpiert worden ist: aber mein Interesse (eben!) an Marx und Engels ist nicht dogmatisch und auch nicht historisch-philologisch. Renaissance würde die Erneuerung einer Tradition bedeuten, die inzwischen verschüttet worden ist: das hat der Marxismus nicht nötig.“ (Rekonstruktion, S. 9) Weil Habermas immer wußte, daß mit einer derartigen Beschimpfung allein Studenten, Sozialpädagogen, Lehrern und der Gewerkschaftsjugend, die sich bei Marx aufgrund ihres Interesses an der Veränderung der Gesellschaft umschauen, nicht beizukommen ist, finden sich in seinem gesammelten Mist immer auch „Argumente“, deren Zweck darin besteht, klarzumachen, daß der Kapitalismus in Ordnung ist und keiner Kritik bedarf. Dabei geht unser Saubermann stets so vor, so zu tun, als würde er die Probleme derer, die mit dieser Gesellschaft unzufrieden sind, diskutieren. Ein Musterbeispiel für die „Erklärungsstrategie“ ist der erwähnte Vortrag über „Einige Bedingungen der Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaften“, in dem Habermas verkündet, daß der Kapitalismus gar nicht abgeschafft zu werden braucht, weil „nämlich das ökonomische Interesse (!) der Verbraucher (!) an gesellschaftliche) produzierten Gütern und Leistungen und(!) das der Arbeitnehmer(!) an reduzierter Arbeitszeit(!) befriedigt“ (Kultur und Kritik, 80) wird. Der „ungerechte Tausch“ des 19. Jahrhunderts (angeblich Grundlage der Revolutionsideen von Marx und Engels!) ist nach dem Staatsideologen Habermas durch die Herstellung „geregelter“ (!) „Tauschbeziehungen“ zwischen den Sozialpartnern aus der Welt geschafft worden, so daß Unruhe an der Basis nicht mehr zu erwarten steht. Wer also an Marx Interesse hat, der sollte wissen, daß der Kapitalismus der Endzweck der Geschichte ist, weil die Geschichte des kapitalistischen Staates so eindrucksvoll Zeugnis ablegt von seinem Funktionieren: „In den Jahrzehnten seit dem zweiten Weltkrieg ist es in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern gelungen, den Klassenkonflikt in seinen Kernbereichen latent(!) zu halten; den Konjunkturzyklus zeitlich zu strecken und die periodischen Schübe der Kapitalentwertung in eine inflationäre Dauerkrise mit milderen konjunkturellen Schwankungen umzuwandeln; schließlich die dysfunktionalen Nebenfolgen (!) der abgefangenen ökonomischen Krise breit zu filtern (!) und über quasi Gruppen (wie Verbraucher, Schüler und Schülereltern, Verkehrsteilnehmer, Kranke, Alte usw.) oder über Teilgruppen mit geringem Organisationsgrad(?) zu streuen. Dadurch(!) ist die soziale Identität der Klassen aufgelöst und das Klassenbewußtsein fragmentiert worden.“ (Rekonstruktion, S. 310) Auch wenn Habermas damit bloß eindrucksvoll bestätigt, daß er in seiner Geilheit auf das „es“ von der Tätigkeit des Staates nicht den geringsten Schimmer hat – der Sinn und Zweck solcher Abwehrarbeit besteht einzig darin, die an Marx Interessierten wenn nicht in den Kampf gegen die Gesellschaft, so doch in den Kampf gegen ... Stalin zu schicken: „Die mit Stalin festgeschriebene Fassung des Historischen Materialismus bedarf einer Rekonstruktion. Sie soll der kritischen Verarbeitung konkurrierender Ansätze (vor allem des sozialwissenschaftlichen Neoevolutionarismus und des Strukturalismus ) dienen.“ (Rekonstruktion, S. 144) Über die Maßnahmen, die der ehemalige Priesterseminarist aus Georgien ergriffen hätte, wäre er zu seinen Lebzeiten auf solche Weise vom Klassenfeind aufs Korn genommen worden, läßt sich nur spekulieren. Klarheit besteht allerdings darüber, daß der Professor Habermas nichts unversucht läßt, Leute, die andere Probleme wie unsere Kulturkritiker zu bewältigen haben, dazu zu zwingen, erst einmal die Probleme moderner Wissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. (Und ein Blick in Pädagogikbücher zeigt, daß er Erfolg hat.) Dieser Zweck, die Anerkennung des Marxismus als staatstragender Ideologie nicht zu gefährden, läßt den Professor schließlich in Hohn und Spott auf die Marx-Gemeinde an unseren Universitäten und Instituten ausbrechen, die sich in langweiligen Marx-Kommentaren (sie sind längst vergessen) oder in unfruchtbaren marxistischen Ableitungen des Staates aus der Ware (welche mit Marx nichts zu tun haben und deswegen immer „fruchtbarer“ gemacht werden) ergehen (Rekonstruktion, S. 267)!
Nachdem der Professor Habermas auf diese Weise (und dies seit seiner Antrittsvorlesung) klargemacht hat, worin sein Ansinnen besteht, sich den Anspruch des Historischen Materialismus zu eigen zu machen (nämlich das Marx-Studium zu verhindern), eröffnet sich uns wie ihm das lehrreiche Kapitel seiner Gedankenwelt, in dem er seiner Aufgabe nachgeht, seinem eigentlichen Adressaten, den vom Objektivismus befallenen bürgerlichen Ideologen, das Mißtrauen gegenüber Marx und Engels als Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts auszutreiben. So ist es sein Bestreben, der Soziologie das blöde Vorurteil zu nehmen, das Verwenden der Marxschen Ökonomie hätte stets zur Konsequenz, den unliebsamen Klassenkampf einzufangen – umgekehrt ist's, versichert der Starnberger Direktor: die Wertlehre ist das beste Instrument für den Klassenstaat: „Die Wertlehre laßt sich als ein System von Zuordnungsregeln verstehen, das gestattet. Aussagen, die den kapitalistischen Wirtschaftsprozeß unter Steuerungsgesichtspunkten systemtheoretisch beschreiben, in Aussagen über antagonistische Beziehungen zwischen sozialen Klassen zu übersetzen: „Kapital“ ist ebensosehr ein Wertausdruck, mit dem Aussagen auf der analytischen Ebene des ökonomischen Systems gebildet werden können, wie auch Ausdruck für ein Klassenverhältnis, das in handlungstheoretischen Grundbegriffen analysiert werden kann. Forschungsstrategisch hat die Wertlehre den Sinn, Probleme der Systemintegration(!) auf der Ebene der Sozialintegration(!) abbildbar zu machen. Marx konstruiert den Steuerungsmechanismus des Tausches als ein Reflexionsverhältnis zwischen interagierenden Parteien, um durch systemtheoretische Zusammenhänge auf Klassenkämpfe, also (!) auf historisch darstellbare Interaktionen hindurchgreifen zu können.“ (Rekonstruktion, S. 223) Jedes Habermas-Zitat hat zwei Seiten: die der Unverschämtheit und die der Hochstapelei. Eine Unverschämtheit sondergleichen ist es, wenn Habermas in seinen 103 Worten über die Wertlehre nicht ein Wort über den Wert verliert, nur weil er geil darauf ist, die Brauchbarkeit von Marx zu demonstrieren. Habermas zufolge hat sich Marx mit seiner Ökonomie also Regeln ausgedacht, wie man den kapitalistischen Wirtschaftsprozeß lenken könnte. Er hatte also zum Zweck, mit dem „Kapital“ den Herren Friderichs und Apel inklusive den Direktoren der Banken unter die Arme zu greifen. Marx hat sogar die Gesichtspunkte der Sozialpartnerschaft berücksichtigt, indem er seine Steuerungsregeln für die Ökonomie nicht nur als technische Anweisungen verstanden wissen wollte, sondern auch als solche, die geeignet sind, darauf hinzuwirken, daß die Tauschpartner Kapital und Arbeit in ihren Tarifrunden nicht ihre „antagonistischen Beziehungen“ austragen, sondern derart „reflektiert“ miteinander auskommen, daß das Interesse der „Sozialintegration“ gewahrt bleibt. Habermas leistet sich aber nicht nur die Unverschämtheit, seine Anbiederung so weit zu treiben, daß er Marx als einen Wissenschaftler hinstellt, der im Interesse des kapitalistischen Sozialstaats gedacht hat – der Professor Habermas ist auch ein übler Hochstapler. Wäre er doch einmal fähig, das zu tun, was er bloß verspricht! Wäre er mitsamt seinem linken Soziologenpack doch einmal in der Lage, das „Kapital“ als eine „Systemtheorie“ wirklich hinzuschreiben, Klassenkämpfe als historische „Interaktionen“ zu analysieren, statt die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens damit zu kaschieren, daß man mit dem Verweis auf die Möglichkeit, aus der Wertlehre etwas anderes zu machen als sie ist, seine Parteilichkeit demonstriert und sich's auf Kosten der Allgemeinheit gut gehen läßt!
Ebenso aber wie die Verwandlung des Ökonomen Marx in einen Soziologen, der im Interesse der Probleme des Staates eine Systemtheorie konstruiert haben soll, ist die Habermas'sche Interpretation der „Grundannahmen“ des Historischen Materialismus von dem Bemühen gekennzeichnet, als wäre Marx auf dem wissenschaftlichen Standard moderner Wissenschaft, als wäre Marx ein Methodologe. Sei es, daß Habermas die Marxsche Erklärung der Differenz des Menschen zum Tier durch die Arbeit (MEW 3, S. 21) als eine „annehmbare Erklärungsstrategie“ hinstellt, als einen gelungenen „methodischen Einfall“ anpreist (Obwohl unser Meister das Zitat selbst bringt, will ihm nicht aufgehen, daß Marx sich gerade an dieser Stelle über den Unsinn methodischen Vorgehens äußert!), um diese Erklärung dann unverzüglich in ein „Empfehlung“ umzudichten, „die Beziehung(!) zwischen Organismus(!) und Umwelt(!) auf der Ebene (!) von Arbeitsprozesse(!) zu beschreiben(!) (Rekonstruktion, S. 145), bei der das „Entscheidende“ die Verdünnung der Arbeit „in den soziologischen Aspekt der zielgerichteten Umformung von Material nach Regeln instrumentellen Handelns“ (ebenda) sein soll; sei es, daß „auch(!) Marx der Kategorie der „gesellschaftlichen Arbeitsteilung“ eine hohe Bedeutung beigemessen hat“(Rekonstruktion, S. 156), weil mit der Arbeitsteilung der Wunsch des Kulturkritikers Habermas in Erfüllung geht, „die Steuerungskapazität einer Gesellschaft“ zu steigern“ (ebda), sei es ... sei es ... sei es ..., daß Habermas auch den schwersten Brocken aus der Giftküche von Marx in Trinkwasser für bürgerliche Soziologen verwandelt. Er zitiert aus dem Vorwort zum „Kapital“ die „berühmteste Formulierung des Überbautheorems“, also die Stelle, wo Marx als das Resultat seiner Wissenschaft feststellt, daß der Witz im Leben der Menschheit die Ökonomie ist, so oder so – um erst einmal seinem Bedauern Ausdruck zu verleihen, „daß sich lange Zeit eine ökonomische Fassung (!!!) dieses Theorems behauptet“ (R 157) habe. Und warum bedauerlich? Weil das „Theorem“ in diesem Fall besagen würde, „daß Prozesse der höheren(!) Teilsysteme von Prozessen der jeweils niedrigeren(!) Teilsysteme im Sinne(!) kausaler Abhängigkeit determiniert sind.“ (ebenda), man also nicht länger den höheren Blödsinn eines bürgerlichen Professors aus den Niederungen menschlicher Existenz mit Kausalität ableiten könnte! Während Marx, sich interessanterweise an dieser Stelle gar nicht über das Problem der Notwendigkeit äußert, hat Soziologen von Engels über Kautsky bis Habermas an dieser Stelle stets gestört, daß Marx allerdings von einer Notwendigkeit spricht, nämlich von der Unerbittlichkeit, mit der das Kapital bestimmt, was auf diesem Erdball passiert. Soziologen weigern sich aber, zur Kenntnis zu nehmen, daß Marx diese Erkenntnis im Vorwort zum „Kapital“ festgehalten hat, weil er sie im „Kapital“ bewiesen hat – und zwar weigern sie sich deshalb, weil ihre Parteilichkeit danach verlangt, die Gesellschaft nicht zu untersuchen, sondern ihre Bestimmtheit in Faktoren zu zerlegen, auf der Suche nach der Garantie, daß eine Gesellschaft wie die unsrige nicht auseinanderbricht. Bei diesem Geschäft entdecken sie, daß Marx ihnen nicht weiterhelfen kann, um ihm den Vorwurf zu machen, er hätte in seiner „Systemtheorie“ den ökonomischen Faktor absolut gesetzt! So zitiert Habermas die Versicherung von Engels, derzufolge Marx es mit der Ökonomie nicht so „absolut“ gemeint habe, er vielmehr von einer „Wechselwirkung von Basis und Überbau“ gesprochen habe, fügt den Blödmann Kautsky hinzu, der gemeint hat, nur für Neuerungen in der Geschichte gelte die Marxsche Erkenntnis, und schließt dann die Diskussion über das „Überbautheorem“ mit dem Kunststück ab, daß bereits Marx, und nicht etwa Habermas ein Anhänger des berüchtigten Renegaten Kautsky war. Triumphierend verkündet er den Herren Parsons und Luhmann, „Marx führt den Begriff der Basis ein, um einen Bereich von Problemen einzugrenzen, auf die eine Erklärung revolutionärer Neuerungen Bezug nehmen muß. Das Theorem besagt dann, daß revolutionäre Neuerungen allein solche Probleme lösen, die jeweils im Basisbereich entstehen.“ (Rekonstruktion, S. 158) Auf diese Weise schafft es Habermas, Marx anzudichten, er hätte sich in seinen Untersuchungen vorkapitalistischer Produktionsweisen als Theoretiker der sozialen Evolution bewährt, hätte das soziologische Problem von dem Wandel und der Stabilität in der Evolution verfolgt, hätte behauptet, daß die Geschichte des Kapitals eine Geschichte von Versuch und Irrtum (!) ist.
Mit dieser Unterstellung ist der Professor Habermas am Ende seiner Beweisführung angelangt, Marx als einen brauchbaren Staatsideologen zu präsentieren. Umso nachdrücklicher macht er nun auf die Mängel aufmerksam, die einem Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts anhaften. Denn weil er die Marxsche Theorie in eine soziologische Systemtheorie umgelogen hat, kann sich Habermas auch besserwisserisch darüber mokieren, daß Marx nur sehr unvollkommen über den Zweck seiner wissenschaftlichen Bemühungen Bescheid wußte. Seit seiner verbrecherischen Abhandlung „Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geistes“ hat Habermas unter dem Vorwand, die Stimmigkeit von Hegels, insbesondere aber von Marx' Aussagen über Gegenstände wie Arbeit, Klassenkampf etc. zu überprüfen, kein anderes Interesse verfolgt, als mittels methodologischer Labereien über die Verwendung von Kategorien bei Marx und Hegel seine Systemtheorie zusammenzubasteln. Der abenteuerliche Vorwurf an Marx, er habe zwischen Arbeit und Interaktion nicht unterscheiden können, dient keinem anderen Zweck, als der etablierten Soziologie zu verkünden, daß sie ohne die Ergänzung seiner Anthropologie, derzufolge das Funktionieren unserer „komplexen Gesellschaft“ durch den Gebrauch von Werkzeugen („instrumentelles Handeln“) und durch die Diskussion von Normen („Interaktion“) bedingt ist, unvollständig ist. Und dem bei Marx „manchmal unreflektiert zur Geltung kommenden geschichtsphilosophischen Erbe“ (10) hilft Habermas durch die „Ersetzung“ des „zu abstrakten“ Begriffs der „Produktionsweise“ durch den soziologischen Begriff des Organisationsprinzips ab – letzterer entspricht seiner Sehnsucht nach einem Staat, der die Akkumulation des Kapitals sichert und in dem sich die Bürger ohne Zwang ihrer Moral unterwerfen können: „Das Organisationsprinzip einer Gesellschaft umschreibt Möglichkeitsspielräume; insbesondere legt es fest, innerhalb welcher Strukturen Wandlungen des Institutionensystems möglich sind; in welchem Umfang vorhandene Produktivkraftkapazitäten gesellschaftlich genutzt bzw. die Entfaltung neuer Produktivkräfte stimuliert werden kann ...“ (Rekonstruktion, S. 168) In dem Bestreben, die ernsten Bedenken der Kollegen seiner Zunft aus der Welt zu schaffen, seine Rekonstruktion des Historischen Materialismus verriete trotz aller Anstrengungen noch den unausrottbaren dogmatischen Hang eines Marxisten, langt Habermas noch einmal kräftig hin. Er äußert sich abschätzig über die Unfruchtbarkeit der unter Marxisten üblichen „Einteilung“ der Geschichte in eine feststehende „Entwicklungsreihe von Produktionsweisen“(163) (bei Habermas erfährt der geneigte Marxist, daß der Stand marxistischer Diskussion inzwischen durch die Annahme von sechs(!) universalen Produktionsweisen gekennzeichnet ist“(165)) und preist der modernen „anthropologischen und historischen Forschung“ den Nutzen seines „Organisationsprinzips“ an: „Ein Organisationsprinzip besteht aus so abstrakten Regelungen, daß in der von ihm festgelegten Gesellschaftsformation mehrere funktional äquivalente Produktionsweisen zugelassen sind.“ (Rekonstruktion, S. 169) Und weil auch diese Eröffnung Habermas nicht auszureichen scheint, um die Zweifel zu zerstreuen, stellt er gar sein Allerheiligstes zur Disposition – um klarzumachen, daß er noch niemals etwas in Frage gestellt hat: „Der Historische Materialismus braucht kein Gattungssubjekt zu unterstellen, an dem sich die Evolution vollzieht. Träger(!) der Evolution sind vielmehr Gesellschaften und die ihr integrierten Handlungssubjekte“ (Rekonstruktion, S. 154), wozu einem nur einfällt: für wie dumm hält Habermas seine Zunftgenossen eigentlich, nicht zu bemerken, daß im ersten Satz auf ein Subjekt verzichtet wird, um im nächsten deren gleich zwei zu präsentieren?
Nicht allein dieser letzte Akt in unserer Rekonstruktion des Zwecks, den der Professor Habermas verfolgt, wenn er sich die Rekonstruktion des Historischen Materialismus zu eigen macht, hat also Klarheit darüber geschaffen, daß kein weiterer folgt. Weit davon entfernt, die moderne Sozialwissenschaft durch seinen staatsphilosophischen Standpunkt zu revidieren, hat Habermas bloß bewiesen, daß er ein bürgerlicher Ideologe ist, der vom Ehrgeiz gepackt ist, sie universell zu betreiben. Ungeachtet der Tatsache, daß der SPIEGEL auch in Zukunft über die preisgekrönten „Preisgaben“ des Marxismus berichten wird (schon in den nächsten Wochen ist es so weit: Habermas hat soeben den Sigmund-Freud-Preis erhalten!), steht das Resultat dieser „Analyse der Gegenwart“ fest: der reaktionäre Mist eines bürgerlichen Wissenschaftlers. Als Ökonom hat Habermas seine Zufriedenheit darüber kundgetan, daß die Fabriken unseres Landes funktionieren und daß der Kapitalismus die erste Epoche in der Geschichte der Menschheit ist, in der für das Materielle gesorgt ist. Als Soziologe hat Habermas mit einem Blick auf das nächstliegende Soziologiebuch bewiesen, daß die „Einheit unserer sozialen Lebenswelt über Werte und Normen“ gesichert ist und bewährt sich als Funktionalist, der das herrschende Recht und Gesetz mit der Notwendigkeit legitimiert, daß der Gesellschaft sprach- und handlungsfähige Menschen erhalten bleiben müssen. Als Psychologe hat Habermas sein Interesse daran bekundet, daß die Einprägung der geltenden Moral „der für die Ich-Identität entscheidende Teil der Persönlichkeitsentwicklung“ ist. Als Historiker bewundert er die „neolithischen Gesellschaften“, weil in ihnen die „kollektive Identität“ noch unberührt ist, und stellt mit Genugtuung fest, daß der weitere Fortgang in der Geschichte durch die Anerkennung einer „Herrscherfigur“ sichergestellt wurde. Als Anthropologe hat er noch einen tieferen Blick in die Evolution geworfen und kommt zu den Affen. Denen bescheinigt er, daß sie den allmählichen Übergang zum Menschen nur deshalb geschafft haben, weil sie aus ihrer geschlossenen eine offene Gesellschaft gemacht haben (Popper läßt grüßen!) und daß dies wiederum nur gelingen konnte, weil die Affen ihre „Handlungsmotive“ „moralisiert“ haben. (Die Legitimitätsdiskussion gibts also schon ewig!) In die „Moderne“ wieder aufsteigend, beklagt Habermas den durch die Entfaltung der modernen Rationalisierung bedingten Verfall des Glaubens, der bekanntlich auch vor der Wissenschaft keinen Halt gemacht hat. Deshalb wird Habermas als Politologe tätig und fertigt eine Theorie des Staates, aus der sich ergibt, daß der Staat die „Ausgrenzung der Ökonomie“ nicht verdaut hat und es daher kein Wunder ist, wenn er keine „kollektive Identität“ mehr hervorbringen kann, die den Verfall der Sitten aufzuhalten vermag. Daher bleibt nur eines: Habermas als Staats-Philosoph. In dieser Eigenschaft gibt er erstens seiner Hoffnung Ausdruck, daß die „kapitalistische Rationalität“ noch nicht „ausgeschöpft“ ist, wobei er zum Beleg das „auffällige Beispiel“ der „modernen Kunst“, aber auch nicht so Auffälliges wie die „Entpathologisierung von Geisteskrankheiten“ und für die „Entstaatlichung der Politik“ die Curriculumplaner anführt; zweitens beschimpft er die Bürger, weil sie nicht davon abzuhalten sind, „privat verfügbare materielle Gegenstände“ „anzuhäufen“, statt „soziale Beziehungen zustandezubringen, in denen Gegenseitigkeit herrscht“; drittens legt er das Prinzip dieser Beschimpfung, seine „kommunikative Ethik“ vor, an der er ja, wie man hört, noch arbeiten soll; und viertens und letztens bekommt er Sehnsucht nach dem Fernen Osten, wenn er die vertane „Chance der Arbeiterbewegung“ bedenkt (im Sozialismus wird gearbeitet und Kritik untersagt, anstatt sich an Habermas ein Beispiel zu nehmen, der nur Kritiken erarbeitet!): Der Sozialismus „ist das erste Beispiel einer reflexiv gewordenen Identität, einer nicht mehr retrospektiv an bestimmten Lehren und Lebensformen, sondern prospektiv an Erzeugungsregeln und Programmen festgemachten kollektiven Identität. Bisher hat sich eine solche Identitätsformation nur in sozialen Bewegungen halten können; ob auch Gesellschaften im Normalzustand(!) eine derart verflüssigte Identität ausbilden können, ist fraglich. Eine solche Gesellschaft müßte sich nicht nur mit ihren produktiven Ressourcen, sondern auch mit ihren Norm- und Wertbildungsprozessen auf große Mobilität!) einstellen. Damit wird aber vorerst nur in China experimentiert.“ (Rekonstruktion, S. 30) Der Hinweis auf den Fernen Osten ist zugleich einer auf die Sehnsucht, der Habermas nun schon seit zwei Jahrzehnten die Form von soziologischen, politologischen, anthropologischen und wissenschaftskritischen Theorien gibt: Er wünscht sich Harmonie zwischen Staatsbürgern und Staatsgewalt und gestattet sich im Namen dieses Ideals, für das er sich nicht wie die Gerechtigkeitsfanatiker in revisionistischen Parteien praktisch einsetzen will, die Konstruktion von entsprechenden „Entwürfen“. Die marxistische Theorie benützt er dabei fleißig als Zeugen für sein Anliegen, was nicht anders geht als durch ihre Verwandlung in ein Plädoyer zur Verwirklichung all der Ideale, die sich die Menschheit angesichts der praktischen Kollisionen und Gewaltakte der kapitalistischen Gesellschaft zusammenträumt. Wo Marx den Grund für Konkurrenz und staatliche Gewalttätigkeit aufdeckt und zur Beseitigung des Privateigentums Politik betreibt, verfabelt ihn Habermas in einen armseligen Parteigänger „wahrer“ Menschlichkeit, „echter“ Demokratie und ungebrochener Sittlichkeit. Er zitiert ihn (und andere ernstzunehmende Männer der Wissenschaft), wenn er den „Verfall“ der bürgerlichen Öffentlichkeit beklagt; an den eintönigen Kontroversen des modernen Journalismus über die effektivste Führung der Staatsgeschäfte stört ihn das Fehlen eines „kritisch raisonnierenden Publikums“, also die Tatsache, daß das Raisonnieren zum Beruf geworden ist und von den Opfern der staatlichen Maßnahmen nicht aktiv mitbetrieben wird – und bei dieser „wissenschaftlichen“ Fassung der Sorge staatlicher Propagandatrupps entblödet er sich nicht, den Kaffeehäusern und Salons des Frühkapitalismus nachzutrauern („Strukturwandel der Öffentlichkeit“). Er zitiert ihn (und die anderen), wenn er als Zweck der Erziehung die (selbst)kritische Unterwerfung der Individuen unter die Rolle, die im Berufsleben auf sie wartet, verkündet und neben Pflichtbewußtsein auch noch „Rollendistanz“ und „Empathie“ schätzt. (Theorie der Sozialisation). Er zitiert ihn schon wieder, wenn er der längst in interessierte Standpunkte aufgelösten bürgerlichen Wissenschaft darlegt, daß nichts schöner wäre als ein „emanzipatorisches Interesse“ in (nicht an) der Wissenschaft, also „verallgemeinerungsfähige Interessen“ propagiert, die im praktischen Leben nicht vorkommen. Die Erfindung der „Konsensustheorie der Wahrheit“, die absurde Gleichsetzung von wissenschaftlicher Objektivität mit „Intersubjektivität“ steht er nicht an als Fortsetzung des Marx'schen Anliegens zu verkaufen („Kommunikative Kompetenz“) – und selbst wenn er merkt, daß seine Bemühungen in Gegensatz zu Marx stehen, behauptet er frech, er würde der „eigentlichen“ Intention von Marx zum Durchbruch verhelfen. („Erkenntnis und Interesse“; „Arbeit und Interaktion“). Usw. Wenn er nun seine vergangenen Leistungen zusammenfaßt und als „Rekonstruktion des historischen Materialismus“ unter die Leute bringt, darf er sich desselben Interesses in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit sicher sein wie bisher: noch mancher Sammelband von Rezensionen wird sich füllen, in dem die Herren Kollegen, die sich für einen effektiven Staat und rücksichtsvolle Bürger begeistern, dem Habermas’schen „Entwurf“ seinen Realismus bestreiten. Dafür, daß der Marxismus für ihr Anliegen nichts hergibt, wird selbst ihre Dummheit die Argumente finden – und die verantwortlichen Staatsmänner dürften sich angesichts der Nutzlosigkeit der „Vorschläge“, die aus Starnberg kommen, zunehmend Gedanken machen über die Auflösung jenes ominösen Instituts. Was freilich nicht bedeutet, daß Habermas als theoretischem Vorkämpfer eines vernünftigen (= harmonischen) Kapitalismus mit viel Identität, Kommunikation und mündigen Individuen das Los der Arbeitslosigkeit beschert sein wird. Seine Art, Marx fertigzumachen und die Gegensätze des Kapitalismus als nicht (mehr) vorhanden hinzustellen, ist für einen Lehrstuhl immer noch gut: das Bedürfnis nach seinem moralischen Universalismus ist schließlich gerade wegen dieser Gegensätze vorhanden! ___________________________ (1) Habermas wechselte 1971 nach Starnberg bei München, wo er bis 1981 gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt leitete. Seinen Weggang von Frankfurt kommentierte er in einem Brief an Herbert Marcuse: „Irgendwie ist es ein »symbolischer Akt«, der zum Ende der Frankfurter Schule gehört.“ (Wikipedia, Habermas)
aus: MSZ 14 – Dezember 1976 |