Merkels Neujahrsrede

Deutsche Tugenden

„Deutschland hat die Krise wie kaum ein anderes Land gemeistert. Was wir uns vorgenommen hatten, das haben wir auch geschafft: Wir sind sogar gestärkt aus der Krise herausgekommen. Und das ist vor allem Ihr Verdienst, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Deutschland ist so erfolgreich, weil Sie Tag für Tag Ihre Arbeit machen. Sie sind früh morgens auf den Beinen. Sie arbeiten im Schichtdienst, an Sonn- und Feiertagen. Sie kümmern sich um Aufträge und um Ihre Mitarbeiter. Sie meistern Ihren Alltag, wie schwer er oft auch sein mag. Gemeinsam haben wir Enormes geleistet. Wir haben erfahren, was möglich ist. Das ist wichtig, denn wir Deutschen sind uns unserer Stärken selbst nicht immer bewusst.“

Demokratische Führer schätzen ihr Volk – so: Wenn es nur „Aufträge“ und keine Klassen kennt und wenn die untere Klasse zufrieden gestellt ist mit dem Konkurrenzerfolg der Oberen, der Kapitale und der Nation, sowie mit einem billigen Lob von oben, wie schwer ihr Alltag auch ist.

Und schwer bleibt ihr Alltag, weil von oben so befehligt. Das kündigt die Kanzlerin an:

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
so wie wir mit Hoffnung in die Zukunft blicken, so tun das auch die Menschen in anderen Teilen der Welt. Auch sie haben Vorstellungen davon, wie sich ihr Land entwickeln soll. Damit fordern sie auch uns Deutsche heraus, nicht stehen zu bleiben.“

Deutschland will die Krisenkonkurrenz gewinnen, Unternehmenspleiten und Staatsbankrotte sollen auch weiter woanders anfallen, da erlaubt Deutschland kein Ausruhen; wegen der Konkurrenz, die nicht schläft, suggeriert Merkel. So ähnlich die fremden Völker dem deutschen Volk sind – auch sie lassen sich tugendhaft ohne Rücksicht auf Verluste von ihren Führern rannehmen für den Konkurrenzerfolg ihrer Nation –, so sehr muss das deutsche Volk sie fürchten! Welcher aufgeweckte Bundesbürger glaubt auch schon den Quatsch von friedlichen Kooperieren der Völker im Weltmarkt. Den fremden Völkern darf er es schon gar nicht glauben, hetzt die Kanzlerin ihn auf.

„Dafür brauchen wir Sie: die Menschen, die etwas besser machen wollen, die sagen: Geht nicht, gibt’s nicht, die eine Idee haben und den Mut, sie auch umzusetzen.“

Dafür eben: Für Deutschlands Wirtschaftserfolg auf Kosten anderer Nationen und ohne Rücksicht auf eigene Verluste.

Klar dass Merkel den lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern für 2011 nichts verspricht, sondern wünscht, was hart macht:

"Gesundheit, Kraft, Zufriedenheit und Gottes Segen“

Internationalistisch ist der deutsche Nationalismus schon:

„Europa steht in diesen Monaten inmitten einer großen Bewährungsprobe. Wir müssen den Euro stärken. Dabei geht es nicht allein um unser Geld. Der Euro ist ja weit mehr als eine Währung. Wir Europäer - wir sind zu unserem Glück vereint. Das vereinte Europa ist der Garant für unseren Frieden und Freiheit. Der Euro ist die Grundlage unseres Wohlstands. Deutschland braucht Europa und unsere gemeinsame Währung. Für unser eigenes Wohlergehen wie auch, um weltweit große Aufgaben zu bewältigen.“

Europa ist für Deutschland da, Mittel des deutschen Nationalismus und Imperialismus, so und nur so ist Europa vom Deutschen zu respektieren! Also „weit mehr“ als Geld, gar genug davon für kleine Leute! Europa ist Grundlage für Deutschlands Großtaten weltweit. Und da blüht der deutsche Internationalismus noch edler als im Wirtschaftskampf:

„Unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan mussten in diesem Jahr den Tod von neun Kameraden verkraften.“

Warum „mussten“ sie das? Die Frage lässt die Oberbefehlshaberin erst gar nicht aufkommen. Die Toten adeln die nationale Mission und verdienen den Dank des Vaterlandes, den sie gerne spendiert.

„Auch wenn kein Wort von mir das Leid der Familien und Freunde der Gefallenen tatsächlich mildern kann, will ich von Herzen sagen: Ich vergesse sie nicht. Auch die körperlich und seelisch Verwundeten vergesse ich nicht. Ich hoffe so sehr, dass sie rasch wieder gesund werden können.
Die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan haben mir erzählt, dass viele Menschen, auch ganz unbekannte, ihnen zu Weihnachten Briefe und Päckchen geschickt haben. Sie haben mich ausdrücklich darum gebeten, Ihnen dafür zu danken. Das tue ich hiermit sehr, sehr gerne.“

Das kann man durchaus glauben.

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Geniale Idee zur Armutsbekämpfung im Zwielicht

Mohammed Junus und die Mikrokredite

Einem Wohltäter der Menschheit, hören wir, wurde dieser Tage böse mitgespielt. Mohammed Junus, als Erfinder der sogenannten Mikrokredite zum Friedensnobelpreisträger geadelt, wurde „wegen Verleumdung angeklagt und aus seinen Ämtern gejagt“ und ist seitdem sehr traurig, wie die Süddeutsche Zeitung mitleidsvoll berichtet. Junus musste nämlich den Chefsessel seiner Grameen Bank für Mikrokredite in Bangladesh räumen.

Das ist wirklich ungerecht. Schließlich hat sich kaum jemand so verdient gemacht wie Junus um die Versöhnung von Armut und Finanzkapital. Er war es, der den Armen den Zugang zur Verschuldung eröffnet und dem Finanzkapital die Erschließung der massenhaften Armut als neuer Geschäftssphäre ermöglicht hat, ein fruchtbares Verhältnis, in dem beide Seiten das bleiben können, was sie sind: die einen arm, die anderen erfolgreiche Kapitalvermehrer.
Junus ist bekanntlich der Entdecker der Tatsache, dass das, was den Armen dieser Welt am meisten fehlt, nicht etwa genug zu essen, ein Dach überm Kopf und andere Dinge zur Befriedigung ihrer elementaren Lebensbedürfnisse sind, auch keine wohlmeinenden Geldspenden, um sich das Nötigste zu kaufen, sondern Geld als Kredit, Geld mit eingebautem Vermehrungszwang, der Stoff eben, für den das Finanzkapital zuständig ist. „Machen wir uns klar“, sagt Junus,

„das Bankensystem ist ausgerichtet auf die Bedienung der Reichen. Es war nie dazu da, die Armen zu bedienen.“

Das gilt es zu ändern, dachte er sich und gründete eine Bank für die Armen. Die leiht ihnen Minibeträge, die sie in eine Kuh oder eine Nähmaschine oder sonstiges Kleinunternehmer-Kapital investieren sollen. Von dessen Geldertrag dürfen sie dann die durchaus stattlichen Zinsen ihres Mikrokredits aufbringen und diesen schließlich zurückzahlen. Auch die armenfreundlichen Mikrokredite bewähren sich schließlich nur dann als Kapital für die Bank, die sie ausgibt, wenn Zinsen und Rückzahlung klappen. Deshalb ist es wichtig, dass die Schuldner vorzugsweise Frauen sind. Die, so hat der schlaue Bankier Junus herausgefunden, sind zuverlässiger als Männer, was Zinsen und Rückzahlung angeht – vermutlich weil sie die Armut ihrer Familie am härtesten ausbaden müssen. Noch besser, wenn man gleich an kleine Gruppen von Frauen im Dorf Kredite vergibt. Dann machen die sich gegenseitig zum Agenten des Zwangs zur Rückzahlung. Natürlich muss sich die Armut der Kreditnehmer, also das Fehlen jeder pfändbaren Kreditsicherheit, in kräftigen Risikoaufschlägen auf den Zinssatz niederschlagen. Die machen aber immer noch höchstens die Hälfte der Wucherzinsen von 120% und mehr aus, mit denen sich bislang die örtlichen Kredithaie an der Not ihreer Kunden schadlkos hielten.

Auf diese Weise hat sich Nobelpreisträger Junus, wie die „Financial Times“ anerkennend vermerkt, in der Welt des Finanzkapitals bleibende Verdienste erworben. Er hat eine ganze große Abteilung von Menschen zu verlässlichen Schuldnern gemacht hat, die von den Banken bislang mangels Zahlungsfähigkeit und überhaupt mangels hinreichend entwickelter Geschäftstätigkeit ignoriert wurden. Er hat den Anstoß gegeben, so die Financial Times, für ein

„60 Mrd.$-Geschäft mit ca. 100 Millionen Kunden als fruchtbarer Boden für kommerzielle Anbieter, was zeigt, dass kleine Kredite – oft mit wucherischen Zinsen – große Gewinne erzeugen können.“ (FT 20.7.10)

Entsprechend begeistert haben sich daher auch die Finanzkapitalisten der Welt auf diesen neu erschlossenen Kreditmarkt geworfen, so dass er inzwischen über die ganze Südhalbkugel der Erde verbreitet ist. „Auf einmal sind Mikrokredite nicht mehr nur was für Wohltäter, sondern auch für gierige Anleger“, zitiert die Financial Times einen aus der Branche. Sie sehen das noch längst nicht ausgeschöpfte Potential, nämlich „3 Milliarden Menschen, die von weniger als zwei Dollar am Tag leben,“ wie sich Großinvestoren und Anlageberater begeistern.

Die ersten spezialisierten Mikrokredit-Großbanken in Indien, Mexiko, Argentinien sind bereits erfolgreich an die Börse gegangen. Denn das Geschäft brummt. Immerhin fallen für Mikrokredite meist 30%-60% Zinsen pro Jahr an und trotzdem lag die Ausfallquote bislang bei weniger als 2% – dank des

„Gruppendrucks und des Zögerns der Schuldner, ihre einzige Geldquelle versiegen zu lassen“,

wie Financial-Times-Experten kennerhaft die Kreditbonität echter Armut erläutern.

Die Armut wird mithin zu einer dank ihrer Massenhaftigkeit milliardenschweren Kapitalanlagesphäre, für die sich immer neues Finanzkapital gewinnen lässt. Inzwischen hat sich fast jede Großbank ihre eigene Mikrokreditabteilung zugelegt, nicht nur, weil das so schön wohltäterisch aussieht, sondern weil das Mikrokreditgeschäft sich auch bestens als eigene Quelle der Kapitalbeschaffung eignet. Mit einer finanziell wie moralisch gleichermaßen höchst ertragreichen Anlagemöglichkeit für ihre Ersparnisse lassen sich neue, gerade ethisch besonders sensible Kundenkreise mobilisieren, für die das finanzkapitalistische Treiben ansonsten höchst anrüchig ist. Mit eigenen Fonds und anderen ungemein „nachhaltigen“ Finanzprodukten bieten die Banken ihnen eine ebenso saubere wie profitable Kapitalanlange. So hat sich die Deutsche Bank mit der moralisch schwer verantwortlichen Oikocredit-Bank zusammengetan, um ihren Anlegern „sehr gute Anlagemöglichkeiten“ und „sichere Investmentgelegenheiten“ zu bieten, die ethisch dazu noch das Prädikat „Besonders Wertvoll“ tragen.

Die derart erfolgreich in Gang gebrachte Kapitalbeschaffung macht den Banken den süßen Sachzwang auf, ihr Geschäft ständig auszuweiten. Schließlich muss die Masse Armer, bei denen man ein paar Milliarden 100-Dollar-weise unterbringen kann, erstmal aufgetan werden. Daher blüht inzwischen die Konkurrenz der Mikrokreditbanken um die Armen und auf die geschäftsdienliche Verwendung der Mikrokredite wird eher nicht so genau geachtet. Längst kommt es da auch nicht mehr darauf an, ob der Schuldner mit dem Kredit ein Geschäft aufmacht. Denn dem Finanzkapital ist es im Prinzip egal, was seine Schuldner mit dem ihnen geliehenen Geld machen, Hauptsache der Kredit bewährt sich durch Zins und zuverlässigen Rückfluss als Kapital in den eigenen Bilanzen.

Da bekommt schon mal ein armen Schlucker gleich von mehreren Banken einen Mikrokredit aufgedrängt, obwohl ihm dazu in seiner Not nichts anderes einfällt als ihn mit seiner Familie zu verfressen. Oder auf einer Dorfstraße machen auf einmal vier Verkaufsstände gleichzeitig nebeneinander auf und ruinieren sich gegenseitig ihr spärliches Geschäft, jeder von einer anderen Bank per Mikrokredit finanziert. Für die Finanzexperten liest sich dieses Problem so:

„Leichtes Geld überflutete den Markt und machte es für arme Dörfler und Slum-Bewohner zu einfach, an Geld zu kommen“ –

und so sollte das natürlich nicht gemeint sein.

Denn wenn auf diese Weise zur ganz normalen Armut auch noch der Zwang der Kreditrückzahlung tritt, treibt das schon mal die eine oder die andere Schuldnerin in den Selbstmord und auf diese wie auf weniger dramatische Weise die Kreditausfallquoten in die Höhe. Andererseits ist dieses Risiko in den happigen Zinsen ohnehin längst mehrfach „eingepreist“. Von Finanzkrise ist daher beim Mikrokreditgeschäft des Finanzkapitals bislang kaum die Rede. Auf die Armen dieser Welt ist eben Verlass.

Dennoch ist in letzter Zeit Kritik an dieser menschheitsbeglückenden Idee aufgekommen, allerdings deshalb, weil sie die Möglichkeiten des Geschäfts gar nicht richtig ausnutzt. Die Mikrokreditbanken haben es, wie die FAZ anmerkt,

„nicht geschafft, das Problem zu lösen, dass Finanzdienstleistungen in Afrika immer noch stark unterentwickelt sind.“

Wirkliches „empowerment“ bedeutet nämlich, so die Financial Times,

„über Mikrokredite hinauszugehen zu Sparkonten und anderen Finanzprodukten, so dass die Armen dieser Welt ein volles Spektrum an Finanzdienstleistungen zur Verfügung haben.“

So wird die Tatsache, dass für Milliarden Arme auf der Welt Geld zum unerlässlichen Mittel für das schiere Überleben geworden ist, zur Grundlage dafür, ihnen noch ganz andere Finanzgeschäftsangebote zu machen als bloße Mikrokredite, auf dass auch diese Sphäre der Not zu einer sich stetig erweiternden Reichtumsquelle für das Finanzkapital werde.

Zurück zu Mohammed Junus: den bekümmert nicht nur seine Entlassung, sondern die ganze Entwicklung, die seine Idee genommen hat. Er will für was anderes stehen, für das gute Finanzkapital im Dienste der Menschen. Und da weiß er sich einig mit den zahlreichen Freunden der Dritten Welt. Für die sind Mikrokredite einer der gelungensten Anwendungsfälle jenes ohnehin nur in dieser Verwendung zu zweifelhaften Ehren gekommenen und mit altchinesischer Weisheitsgarantie versehenen Leitspruchs der sogenannten „nachhaltigen Entwicklungshilfe“: „Gib einem Hungernden einen Fisch und er wird einmal satt, lehre ihn Fischen, und er wird nie mehr hungern“. Wahrlich, wahrlich, was kann so gut diese „Nachhaltigkeit“ garantieren wie Mikrokredite, die Wunderwaffe der „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Für sie alle noch mal langsam zum Mitschreiben die modernisierte Version dieses Sprichwortes:
Nimm einem vom Kapital bislang verschonten Drittweltlandbewohner seine Subsistenzgrundlage, seinen Acker, seine Weide- und Fischgründe, weil die für kapitalistisch produktivere Zwecke gebraucht werden, so wird er zum Hungernden. Wenn du ihm dann Geld gibst, um Brot zu kaufen, so wird er einen Tag satt. Wenn du ihm aber durch einen Mikrokredit den Zwang aufmachst, Geld zu verdienen, um die Forderungen des Finanzkapitals zu bedienen, dann wird er nie mehr aufhören, sich für die Vermehrung des ihm geliehenen Kapitals nützlich zu machen, sich diese vielmehr zu seinem Lebensinhalt machen – die Banken, Fonds und ihre „nachhaltig“ und „sozial verantwortlich“ denkenden Investoren wissen es zu schätzen.

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Journalisten und Politiker im Dialog über humanitäre Kriegsintervention

Sollen, müssen, können wir, was wir dürfen?

Am 26.Mai 2011 melden die heutigen Machthaber Serbiens die Verhaftung von Ratko Mladić. Für die Süddeutsche Zeitung ist dies Anlass, an Hand des „Exempel Mladić“ an „die zum Zeitpunkt der Anklage aufgestellten Prinzipien“ zu erinnern und deren Gültigkeit auch für heute anzumahnen. Deutschland verstößt nämlich aus ihrer Sicht insbesondere im Fall Libyen klar gegen diese Prinzipien:

„Srebrenica, die zur Chiffre des Schreckens gewordene größte Untat des Generals, hat vor 16 Jahren die Welt verändert. Das Massaker war unmittelbarer Auslöser für die amerikanischen Luftangriffe auf serbische Stellungen rund um Sarajevo, die binnen weniger Tage den dreieinhalb Jahre tobenden Bosnien-Krieg beendeten. Danach war `Srebrenica´ das Hauptargument für den Militäreinsatz des Westens im Kosovo, der einen weiteren Völkermord verhindern sollte. Von Srebrenica schließlich lässt sich eine Linie ziehen bis nach Bengasi und Misrata in Libyen. Doch diese Verkettung ist heute wieder sehr umstritten.
Srebrenica steht für Einmischung. Die Stimmung, nicht zuletzt in Deutschland, sagt eher: heraushalten. Nach den zähen Kriegen in Afghanistan und im Irak wird die militärische Intervention als zu gefährlich, zu langwierig und zu kostspielig abgelehnt. Dafür gibt es im Einzelnen gute Gründe – doch sie dürfen nicht das Prinzip in Frage stellen, wonach die Schwachen von den Starken geschützt werden müssen, wo immer das geht. Massenmorde müssen verhindert werden, Massenmörder müssen gestoppt werden – das ist die wichtigste Lehre aus Mladićs blutigen Taten.“ (SZ, 27.5.)

Klar, der bosnisch-serbische General Mladić hat im Zuge von Militäraktionen, die auch auf ethnische Säuberung von Gebieten aus waren, im Juli 1995 in der Umgegend von Srebrenica eine Massenexekution an bosnisch-muslimischen Männern veranstaltet. Ähnliche Sauereien sind, insbesondere auf dem Boden des heutigen Bosnien-Herzegowina, von allen Parteien dieses von Anfang an von außen betreuten Kriegs um die Auflösung bzw. Bewahrung des Vielvölkerstaates Jugoslawien wiederholt begangen worden. Da aber Deutschland und die USA (erst am Ende auch Frankreich) von Anfang an am „Kleinarbeiten“ des Bundesstaats zugunsten ethnisch definierter Kleinstaaten interessiert waren, so dass Serbien als letzte Bastion zur Verteidigung eines jugoslawischen Gesamtstaats als Feind ins Visier kam und ein entsprechend selektives Feindbild aufgestülpt bekam, waren „die Serben“ damals der Bösewicht schlechthin. Folgerichtig kam es schon im November 1995 vor dem UN-Tribunal in Den Haag zur Anklage gegen Mladić wegen „Völkermords“. Dass die Luftangriffe der Amerikaner gegen serbische Stellungen nicht nur rund um Sarajewo wegen der Massaker von Srebrenica erfolgten, ist freilich keine historische Wahrheit, sondern eine Legende, die gezielt verbreitet wurde und wird. Der SZ-Autor sollte die Fakten kennen: Während der Tage des Massakers (11. Juli ff.) bat der örtliche UN-Blauhelm-Kommandierende (Dutchbat) Karremans um Luftunterstützung, die er nicht bekam (vgl. Wikipedia-Stichwort zu Srebrenica). Als die USA dann zuschlugen, ging es nicht um die Verhinderung von Greueltaten, sondern schlicht um die Kapitulation der bosnisch-serbischen Kräfte und umgekehrt um Geländegewinne von bosnisch-kroatischen bzw. –muslimischen Milizen, um ein nicht serbisch dominiertes Neubosnien aus der Taufe zu heben (im sog. Dayton-Abkommen dann festgeklopft). Als „Hauptargument“, wie der Autor schreibt, kam Srebrenica aber schon zu Ehren, zur Garnierung des westlichen Kriegseinsatzes mit einem garantiert moralisch ehrenwerten Rechtfertigungstitel. Gerade in Deutschland war diese Art Begründung für die erste Nachkriegs-Militäraktion mit deutscher Beteiligung, die Außenminister Fischer mit seinen Erinnerungen an „Auschwitz“ (zur Niederkämpfung aller pazifistischen Positionen auch in seiner Partei) auf die Spitze trieb, besonders opportun, weil damit das Töten und Verwüsten im staatlichen Auftrag als selbstloser Dienst an höheren Werten erscheint und kein staatliches machtpolitisches Interesse, das irgendwie an Hitler erinnern könnte, damit verknüpft werden muss.

Für das süddeutsche Zeitungsorgan ergibt diese Geburtsstunde einer westlichen Kriegsführung, die als Kampf der Guten gegen Feinde der Menschlichkeit verkauft wird, ab sofort eine verselbstständigte Leitlinie der Betrachtung. Die westlichen Staaten hätten sich damals zu „Prinzipien“ bekannt, für die sie jetzt aber auch einzustehen hätten: Wo immer Menschen in einem Ausmaß schlecht behandelt werden, das an „Massenmord“ erinnert (da fängt das Böse ganz sicher an!), seien die „Starken“ gefordert, helfend „einzugreifen“. So ähnlich wie im Fall von U-Bahn-Schlägereien, wo einzelne Bürger Zivilcourage beweisen müssten, auch wenn es unangenehm und gefährlich wird, seien die starken Militärstaaten des Westens, die wahrscheinlich genau deshalb all ihre Hightech-Waffensysteme angeschafft haben, gefordert, bei Übeltaten fremder Staatsgewalten größeren Kalibers den „Schwachen“ zu Hilfe zu eilen. Wie berauscht von der wohlfeilen Kriegsbegründungsstrategie westlicher Weltordnungsmächte, die dem Rest der Welt Wohlverhalten verordnen möchten und zwar im eigenen Interesse und nicht in dem von irgendwelchen „Menschen“, die dafür aber gerne ideologisch ins Feld geführt werden, wird der SZ-Schreiber radikal und unzufrieden.

Sorgen bereitet ihm „die Stimmung, nicht zuletzt in Deutschland“. Sein Raisonnement über die Kriegspflichten aus Humanität führt ihn schnurstracks  zur prinzipiellen Aufforderung an die deutschen Verantwortlichen, dem „libyschen Wüterich Muammar al-Gaddafi“ und dem „für die Rolle als größter zu jagender Schurke“ ebenfalls bereitstehenden „Syrer Baschar al-Assad“ das Schicksal des serbischen Generals zu bereiten, weil „sich eine Linie“ vom verhafteten General bis zu ihnen „ziehen lässt“. Ob er beim Linienziehen die Objekte der zäheren Kriegsfälle, die Taliban und Saddam Hussein, miteinbeziehen möchte oder nicht, kann hinsichtlich seines „Argumentations“-Ziels locker offen gelassen werden …


Die Politik antwortet auf den journalistischen Kriegsantrag

„Wir können nicht überall eingreifen, wo eine Regierung ihr Volk drangsaliert.“

In diesem Sinn rechtfertigen der deutsche Verteidigungsminister de Maiziere und Außenminister Westerwelle die deutsche Enthaltung bei der Abstimmung zur UN-Resolution, die einen Kriegseinsatz in Libyen fordert. Dass sie zuständig und berechtigt sind, wie Scharfrichter darüber zu wachen, wie sich fremde Regierungen gegenüber ihrem Volk aufführen, davon gehen deutsche Politiker aus. Dass die Öffentlichkeit daraus eine Pflicht für sie ableitet, immer und überall zuzuschlagen, wo sich andere Staaten nach unseren Vorstellungen danebenbenehmen, halten sie allerdings für absurd. Das imperialistische Kalkül, das sie anstellen, wenn sie befinden, welche Regierung, die im Streit mit ihrem Volk liegt, „wir“ für illegitim erklären und gegebenenfalls militärisch fertig machen, und welche nicht, wird gegenüber der fordernden Öffentlichkeit gar nicht aufgedeckt. Stattdessen kleiden sie ihre Abneigung gegen einen Kriegseinsatz, bei dem sie in der Konkurrenz zu anderen Aufsichtsmächten wenig gewinnen können, in eine Ohnmachtserklärung, die jeder nachvollziehen kann: Wer kann schon immer und überall „eingreifen“? Gemessen an dieser fraglos irrationalen Omnipotenzfantasie ist doch die getroffene deutsche Entscheidung zur militärischen Zurückhaltung ein Zeichen der staatspolitischen Vernunft, vor allem, wenn daneben oft genug betont wird, dass „wir“ auf etwa sieben internationalen Schauplätzen eh schon militärisch unterwegs sind und „unseren Beitrag leisten“. Das Recht der Völker besteht in unserer Einmischung, das ist klar; aber „wir“, als die moralisch Zuständigen, müssen unsere Kräfte einteilen.

Im jüngsten Fall, Syrien, macht Deutschland nun Druck, treibt Sanktionen gegen das Regime des Baschar al-Assad voran, und demonstriert damit, dass es das angemaßte Richteramt in Anspruch zu nehmen weiß. Gegen die russische Vetomacht, die in diesem Fall einen weitergehenden Vorbehalt gegen den Westen anmeldet und mit Blick auf den Krieg der NATO gegen Gaddafis Libyen Verstöße gegen die einschlägige UN-Resolution anklagt, kontert der deutsche Außenminister:

„Man kann nicht mit dem Blick auf das eine Land dem Volk eines anderen Hilfe verweigern.“ (B5-aktuell, 21.6., Westerwelles Kommentar zu Medwedjews Ankündigung, gegen jede antisyrische Resolution des Sicherheitsrats ein russisches Veto einzulegen.)

Auf die Predigt von Prinzipien verstehen sich nicht nur deutsche Journalisten, sondern genau so deutsche Politiker, wenn es ihnen passt.

Dieses Pingpongspiel von Öffentlichkeit und Politik ist eine bemerkenswerte demokratische Errungenschaft. Da können demokratische Staaten mit all ihrer technologischen Überlegenheit militärisch draufhauen, wie im Fall Libyen 6000 Angriffe aus der Luft starten und alles kurz und klein schlagen, was ihnen passend erscheint, bis sogar ihnen fast die Munition ausgeht … – und keine dieser Taten steht im Verdacht, da würde etwas Anrüchiges veranstaltet. Jede Zerstörungsorgie gegen Sachen und Menschen geht in Ordnung, weil es nur und immerzu um selbstlose Dienste an ehrenwerten humanistischen „Prinzipien“ gehen soll. Wenn Kritik aufkommt, dann daran, dass dieser „Schein“ selbstlos-dienender Kriegsführung an Glaubwürdigkeit verliert, wenn man mal nicht zuschlägt, obwohl böse Staaten Böses veranstalten. Und Politiker reparieren diesen Schein dann wieder, indem sie nicht ihr Desinteresse an bestimmten Auseinandersetzungen erläutern, sondern auf ihr (leider) beschränktes Kriegsführungsvermögen verweisen. Leider können sie nicht alles, was sie eigentlich unbedingt sollten.

Demokratien dürfen nicht nur Krieg führen, weil sie die Macht haben, aber auch die allseits anerkannte Berechtigung. Sie stehen unter argem Rechtfertigungsdruck, warum sie es viel zu wenig tun! Sauber.

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Nach Fukushima

Wende in der Atompolitik?

Wie man hört, haben ja alle viel gelernt aus der Fukushima-Katastrophe. Die Welt sei eine andere geworden. Die Kanzlerin hat – mit viel Gespür für gekonnte Öffentlichkeitspolitik, wie ihr von professionellen Meinungsbildnern gleich anerkennend bescheinigt wurde – schnurstracks ein dreimonatiges Moratorium erlassen, um Deutschlands Kernkraftwerke durchzuchecken. Zwar hat dieses prompte Manöver die Wahlergebnisse nicht ganz im Sinne der Regierung rumgerissen, aber tatsächlich scheint ein gewisses Überdenken der deutschen Energiepolitik auf der Tagesordnung zu stehen. Während im Herbst die Behauptungen, „deutsche AKW’s sind sicher“ und die geplante „Laufzeitverlängerung sei „alternativlos für den deutschen Standort“, quasi als Staatsräson galten, wurden nun einige alte Meiler abgeschaltet; eine Ethik-Kommission ist zusammengetreten, um über die Atompolitik generell nachzudenken.

Um was geht es bei der seitdem heftig diskutierten Wende in der Atompolitik?

Die bisherige deutsche Atompolitik

Ein Atomkraftwerk geht kaputt, das führt zu einer anständigen Verstrahlung, die eine dicht besiedelte und industriell genutzte Zone auf Dauer unbrauchbar macht. Das ganze passiert in Japan – also nicht in einer sowjetischen Plan- und Murkswirtschaft, der man ohne weiteres so etwas zugetraut hat, sondern in einem marktwirtschaftlichen, hoch technisierten Land, das sozusagen ist „wie wir“. Das gibt Merkel & Co. zu denken.

Sie und ihre Vorgängerregierungen haben auf Atomkraft als unverzichtbaren Bestandteil des deutschen Energiemix gesetzt, weil das aus der Sicht des Verwalters eines marktwirtschaftlich konkurrenzfähigen Standorts einige unschlagbare Argumente für sich hatte:

• gebraucht wird für das erwünschte kapitalistische Wachstum eine zuverlässig vorhandene und ständig steigende Menge an Strom – und das zu einem Preis, der die deutsche Exportwirtschaft in den Stand versetzt, weltmarktfähig zu agieren; für dieses Bedürfnis stört sowohl die Abhängigkeit und entsprechende Erpressbarkeit von auswärtigen Lieferanten wie die Verfügung über eine im Land vorhandene, aber vergleichsweise teure heimische Kohle;

• nach einer entsprechenden staatlichen Anschubsuvention liefern die AKW’s zuverlässig und kostengünstigen Strom. (Zusatzargument für die Kritiker, die das bezweifeln: Die für die Entwicklung wie für die Entsorgung fälligen staatlichen Kosten werden dabei übrigens ebenso viel und so wenig in Rechnung gestellt wie etwa die imperialistischen Kosten, die für die Sicherung stetigen Öl- und Gasnachschubs fällig werden. Es ist sachlich verkehrt, diese Kosten nicht als die unumgänglichen Unkosten zu begreifen, mit denen der Staat die notwendigen Standortbedingungen eines funktionierenden Kapitalismus herbeiregiert und finanziert, und sich stattdessen sich daraus eine volkswirtschaftliche Gesamtabrechnung zu basteln, in der „wir alle“ „unseren“ Produktions- und Konsumtionsprozess bilanzieren.)

• damit macht Deutschland zugleich die nötige Energieproduktion zu einem eigenen Wachstumsbestandteil, an dem seine großen Kapitale partizipieren (Siemens, RWE etc.); es überwindet den festgestellten Nachteil, ein „rohstoffarmes Land“ zu sein und schafft sich die Verfügung über eine eigene Energiequelle;  

• durch Export der Atomtechnologie wie auch des inzwischen reichlich erzeugten Stroms werden die nötigen Anfangsinvestitionen verbilligt und gleichzeitig gewinnt man damit Einfluss auf andere Staaten in einer nicht gerade unwichtigen Sphäre;

• nicht zuletzt hat Deutschland mit der friedlichen Nutzung schon mal in puncto Wissen und Technik entsprechende Vorbedingungen für eine eventuell alternative Nutzung der Atomspaltung erworben.

(Lesetipp: Laufzeitverlängerung für AKWs beschlossen )

Diese staatliche Rechnung mit ihren überzeugenden Positivposten war der leitende Gesichtspunkt dabei, sich dann die durchaus bekannten „Risiken“ der Atomtechnologie zu durchdenken. Wenn es bei dem öffentlich beschworenen Problem  „unserer Stromversorgung“ („Gehen bei uns die Lichter aus?“) darum gegangen wäre, sich morgens ein paar Eier zu kochen und abends im Bett noch zu lesen, dann wäre die Idee, das mit dieser Technik zu bewerkstelligen, vielleicht etwas abwegig. Aber natürlich war allen Beteiligten bis hin zu den Bürgern klar, dass es bei diesem „Problem“ um eine viel gewichtigere Sorge geht – eben um die Grundversorgung der gesamten nationalen Ökonomie mit ihren Konkurrenzansprüchen, von deren Erfolg sich alle abhängig wissen (auch wenn sie sehr unterschiedlich davon profitieren).

Und für diesen Anspruch musste etwas großzügiger mit den fälligen Nebenwirkungen kalkuliert werden.

Ein Kernkraftwerk hat nämlich nicht das Risiko an sich, dass auch mal was daneben geht, wie wenn man sich mit dem Hammer auf den Daumen haut. Es ist nicht mal mit der Explosion in einem chemischen Werk zu vergleichen, deren Folgen auch nicht ohne sind. Beim AKW besteht die gewünschte Wirkung – als Energiequelle zu fungieren – gerade darin, dass man einen ziemlich bemerkenswerten Prozess in Gang setzt. Die Aussagen der Betreiber zeugen selbst davon, dass dessen Steuerung und Kontrolle ein Dauerproblem darstellen, weil er tatsächlich so funktioniert, dass er eine kaum kontrollierbare Reaktion in Gang setzt. Der Vorzug dieser Technik – sozusagen aus einer winzigen Menge Material eine enorme Wärmeentwicklung zu erzeugen – ist insofern auch ihr Problem. Und Entgleisungen der Produktion sind im Fall der Atomtechnologie nicht einfach eine Folge des kapitalistischen Kalküls mit Risiken, die in der Marktwirtschaft für eine gewisse Unfallträchtigkeit an Arbeitsplätzen sorgen, die es ohne das Diktat der Rentabilität nicht geben müsste. Gefährlichkeit und Unkontrollierbarkeit ist vielmehr die „Natur“ dieser Technik,

– weshalb die Kunst der Ingenieure vor allem darin besteht, diesen Prozess überhaupt nachhaltig unter Kontrolle zu kriegen:

– weshalb jede Störung auch nicht einfach darin besteht, dass etwas schief geht (ein Nagel krumm gehauen wird, eine Fabrik explodiert), sondern darin, dass dann Strahlung und Wärmeentwicklung nicht einfach per Knopfdruck zu stoppen sind. Die Dimension der möglichen Entgleisung ist räumlich, zeitlich und im Hinblick auf die Art der Schäden schlicht unvergleichlich.

Das wissen AKW-Betreiber und die staatlichen Aufsichtsstellen selbstverständlich sehr genau. Wegen ihrer hochrangigen Gründe – wie gesagt: nicht einfach Versorgung privater Haushalte, sondern eben zuverlässige und kostengünstige Energieversorgung der nationalen Wirtschaft! – wollen sie allerdings auf diese Technik keinesfalls verzichten. Deshalb wird jedes AKW mit diversen Sicherungssystemen ausgestattet, mit Ummantelungen, Kühlkreisläufen usw. Es ist also nicht so, dass Sicherheitsdenken fehlt – davon kann keine Rede sein.

Es ist vielmehr so, dass dieses Sicherheitsdenken selbst die immergleiche Kalkulation beinhaltet: eben die zwischen den Anforderungen des Standorts, den Vorzügen der Atomtechnik und den von daher nötigen und noch bezahlbaren Aufwendungen für die Absicherung. Oder wie es die „Experten“ dann ausdrücken:

„Sicherheit ist keine absolute Größe oder absoluter Zustand. Sicher ist eine Anlage, wenn ihr Risiko unter dem Grenzrisiko liegt, und das legt die Gesellschaft fest.“ (Frank-Peter Weiß, Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die der Bundesumweltminister als Gutachter in Nuklearfragen einsetzt, in der SZ vom 2./3.4.2011)

„Man kann sich theoretisch bestimmt vorstellen, einen Druckwasserreaktor inhärent sicher zu bauen, aber dann hat er jegliche Wirtschaftlichkeit verloren.“ (Hans-Josef Allelein, Professor für Reaktorsicherheit an der TH Aachen, SZ 2./3.4.2011)

Ohne mit der Wimper zu zucken, stellen die Naturwissenschaftler ihre Forschung und ihre Konstruktionskünste also unter Prämissen, die weniger mit Naturgesetzen als mit politischen und ökonomischen Kalkulationen zu tun haben – und rechnen dann „der Gesellschaft“ vor, mit welcher Wahrscheinlichkeit unter den getroffenen Annahmen und den bezahlbaren Sicherheitsvorkehrungen ein Störfall eintreten kann. Das Ergebnis dieser Rechnung heißt dann „Restrisiko“ – und war in der BRD bisher per staatlicher Definition vernachlässigbar klein.

Lehren aus dem japanischen GAU

Restrisiko ist also keine naturwissenschaftliche Größe, wie man vielleicht meinen könnte, sondern drückt die Kalkulation des deutschen Staats in Sachen Atomenergie aus. Diese Kalkulation wird nun „überdacht“ – und das an den haargenau identischen Maßstäben und Rechnungen wie vorher auch. Insofern ist die Welt keineswegs eine andere geworden.

Klar ist, dass die Staaten, die AKWs betreiben, allesamt eine gehörige Abgebrühtheit in Bezug auf gesundheitliche Schäden ihres teuren Volks drauf haben. Neben der beschriebenen interessierten Errechnung des Restrisikos werden Grenzwerte für die permanent laufende Verstrahlung von Land und Leuten definiert, die auch noch je nach Bedarf veränderbar sind (Arbeiter in AKWs vertragen demnach einfach mehr Strahlung). Aus den entsprechenden Leukämie-Studien in AKW-Regionen können die Verantwortlichen leider keine klaren Schlüsse ziehen – all das ist bekannt und wird im meinungsfreien Dialog seit Jahrzehnten diskutiert.

Solche schleichenden Schädigungen nimmt eine verantwortungsbewusste Regierung also durchaus in Kauf – anders wäre ein Spitzenplatz im globalen Kapitalismus eben nicht zu haben. Aber dass eine Betriebsstörung tatsächlich in einen GAU mündet und einen relevanten Teil ihres schönen Standorts in diesem Ausmaß ruiniert – das sollte natürlich nicht sein.

So weit haben sich die Entscheidungsträger tatsächlich auf die Rechnungen, die sie in Auftrag gegeben haben, verlassen und so weit haben sie sich tatsächlich die bisherigen Vorfälle in Harrisburg und Tschernobyl als Ausnahmen, die es eigentlich nicht geben dürfte, zurechtgelegt. In Three Miles Island soll ein absolut veralteter Reaktortyp schuld gewesen sein, bei den Sowjets selbstverständlich ein unfähiges und überambitioniertes System. Dagegen verfüge man in Deutschland über eine „sichere“ und dazu noch „ständig modernisierte“ Technik – wobei letzteres für sich genommen natürlich jeweils ein Eingeständnis über den Stand von gestern ist.

Nun aber hat es in Japan gekracht, in einem Land, so marktwirtschaftlich und hochtechnologisch wie man selbst. Das hätte – nach all den schönen Rechnungen, die man angestellt hat – nicht sein dürfen.

Allerdings: kaum haben sie sich ein bisschen erschrocken wegen Fukushima, stellen sich die Regierungen dieser Welt auch schon wieder in den Dienst ihrer nationalen Notwendigkeiten. Denn die oben genannten Anforderungen an ihre jeweilige Energiepolitik bleiben selbstverständlich auch „nach Fukushima“ gültig: billige und zuverlässige Zulieferung mit Strom, wann immer er gebraucht wird, ist nun mal eines der wesentlichen nationalen Konkurrenzmittel. Damit aus dem Erschrecken also überhaupt eine praktische Reaktion wird, braucht es ein paar zusätzliche Bedingungen – und das erklärt auch die Unterschiede in den kapitalistischen Ländern.

Japan, als das am härtesten betroffene Land, erklärt ziemlich unmittelbar seinen festen Willen, trotz GAU und aller noch gar nicht absehbaren Folgen an seinen AKWs festzuhalten. Auch Frankreich zeigt sich ziemlich ungerührt – selbst angesichts dessen, dass seine Atomfirmen mit dem japanischen Betreiber Tepco kooperiert haben. Die französische Stromproduktion beruht zu 80% auf AKWs und ist nicht ohne große Kosten und entsprechende Exportverluste umzustellen – also hält Frankreich das deutsche Moratorium für hysterisches Getue und bleibt selbst standhaft.

Deutschland dagegen wägt ab zwischen seiner sehr dichten und industriell genutzten Besiedlung und den Schäden, die ein atomarer „Unfall“ dafür hätte, sowie den Kosten seiner weit fortgeschrittenen Stromproduktion aus Windkraft, Solarenergie usw. Die deutsche Regierung kann also tatsächlich alternative Rechnungen aufmachen – also denkt sie sich ihre bisherige Abwägung mit Kosten und Nutzen durch, „bewertet“ tatsächlich einige Risiken neu und schaltet tatsächlich ihre sieben ältesten Möhren ab. Rückwärts betrachtet liegt durchaus ein gewisses Eingeständnis über die mit aller Macht in der öffentlichen Meinung und gegen Demonstranten durchgesetzten Behauptungen von gestern, die da hießen: bei „uns“ geht es selbstverständlich um in jeder Hinsicht gesicherte naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisse, „unsere Kernkraftwerke“ sind durch stets Modernisierung auf dem neuesten Stand und gegen alle Risiken gefeit, die nationale Stromversorgung ist „alternativlos“ auf den Beitrag der Atomkraft angewiesen.

Keine ganz unwichtige Rolle in der neuen Kalkulation spielt die Überlegung, dass sich ja vielleicht jetzt, wo weltweit über alternative Energieproduktion nachgedacht wird, doch endlich der neue deutsche Exportschlager zu  seinem Recht kommt. Was in Kopenhagen noch gescheitert ist, kriegt vielleicht durch den nuklearen Super-GAU der Japaner einen neuen Schub – wer weiß!

Dem gegenüber stehen allerdings die alten schönen Rechnungen mit den AKWs, die man auch nicht leichtfertig beerdigen will. Am Ende kommen dann auch noch die lästigen Wähler ins Spiel. Wenn eine politische Neubewertung erfolgt ist, wird man sich mit Sicherheit auf „ihren Willen“ berufen, nachdem man jahrelang den Verführungen des Populismus getrotzt und die staatliche Atompolitik gegen die Abneigung der Wähler durchgesetzt und mit aller verfügbaren Öffentlichkeitsmacht auf sie eingetrommelt hat.

Man merkt also ganz klar, dass die Kanzlerin es nicht ganz einfach hat mit ihren Entscheidungen. Wie auch immer die deutsche Energiepolitik mit ihren Notwendigkeiten zukünftig verfahren wird – in jedem Fall wird es wohl begründet sein. Dafür gibt es nämlich die entsprechenden Kommissionen. Da ist erstens die Reaktorsicherheitskommission (RSK), die bereits einen "Anforderungskatalog für anlagenbezogene Überprüfungen deutscher Kernkraftwerke unter Berücksichtigung der Ereignisse in Fukushima-I (Japan)" entworfen hat – sprich: den nötigen Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und (bezahlbarer) Sicherheit mit den neuesten Daten, die der japanische GAU geliefert hat, durchkalkuliert. Und da ist zweitens die Ethikkommission, in der Kirchenleute, Philosophen und Soziologen der Kanzlerin zur Seite stehen und über „den Menschen“, seinen „unstillbaren Hunger nach Energie“ und die Risiken von „Natur“ und „Technik“ – also auf allerhöchstem Abstraktionsniveau! – diskutieren. Eine Entscheidung über die Ausgestaltung des deutschen Energiemix könnte man durch viel stirnzerfurchtes Abwägen darüber, wie viel Risiko sich unsere „Risikogesellschaft“ zumuten will, zwar nie und nimmer gewinnen. Dafür aber eine Eins-A-Demonstration gegenüber dem in Sachen Atomkraft leicht skeptischen Volk, dass Deutschland und sein Merkel es sich mit diesem Problem wirklich nicht leicht machen, dass bei der Diskussion dieser Frage nur hohe und allerhöchste Maßstäbe zu gelten haben und dass all das bei den anerkannten Autoritäten dieser Gesellschaft bestens aufgehoben ist. „Druck von der Straße“ ist also komplett überflüssig!

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Neues aus Ägypten

„Das Gesicht der Revolution“

„Mohamed ElBaradei verkörpert den demokratischen Widerstand, im Volk hat er wenig Rückhalt.“ (SZ, 2.2.2011)

Eine interessante Meldung der Süddeutschen Zeitung. Wie soll das zusammenpassen? Ein Mann ist gleichzeitig „das Gesicht der Revolution“, „verkörpert den demokratischen Widerstand“ und hat „wenig Rückhalt im Volk“!

Offensichtlich ist ElBaradei der von uns, sprich: aus deutscher bzw. westlicher Perspektive ausgeguckte Hoffnungsträger für Ägyptens Zukunft. Dass der Nachsatz über seinen mangelnden Rückhalt im Volk eigentlich ein Dementi der Behauptung ist, dass dieser Mann den demokratischen Widerstand verkörpert, fällt diesen Schreibern vor lauter Parteilichkeit gar nicht mehr richtig auf. Dass er weniger die Lichtfigur der ägyptischen Massen als die der westlichen Staaten ist, nehmen  sie stattdessen ungemein mitfühlend zur Kenntnis – als Problem, das noch irgendwie bewältigt werden muss:  

„Mit der Rolle es charismatischen Revolutionärs tut sich Mohamed ElBaradei noch sichtlich schwer. Der distinguierte ehemalige Karrierediplomat, 68 Jahre alt, hatte zwar den dunklen Anzug mit Krawatte gegen eine legere Lederjacke getauscht, als er sich am Freitag unter Missachtung seines Hausarrests unter die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz mischte. Doch seine Worte, gesprochen in ein Megaphon, erreichten eher die internationalen Fernsehteams, die ihn umringten, als die Massen auf dem Platz. Der große Jubel blieb ihm verwehrt.“ (SZ, 2.2.2011)

Eigentlich zeugt jedes Wort davon, um was für eine organisierte Volksverarschung es sich handelt. Ein Karrierediplomat, der viele Jahre den westlichen Atomstreit gegen Iran federführend mitbetreut hat und deshalb über beste Kontakten zu den entscheidenden Staaten dieser Welt verfügt, will die Umsturz-Situation nutzen, um sich zum Führer seiner Nation aufzuschwingen. Den demonstrierenden Massen ist er eher unbekannt. Im Unterschied zu den vom Ausland mit Misstrauen bedachten Muslim-Brüdern kann er aber auf die Aufmerksamkeit und Unterstützung der westlichen Politik und ihrer „internationalen Fernsehteams“ setzen. Und weil die momentan in ihm die genehme Führungsfigur der nächsten Zeit ausgemacht haben, berichten sie nicht, dass ElBaradei bei den großen Demonstrationen keine Rolle gespielt hat. Nein, ihm ist „der große Jubel“ (auf den er anscheinend ein natürliches Recht hat!) „verwehrt geblieben“.

So denken die freien Journalisten des Westens ganz ohne jede Pressezensur die politischen Interessen ihrer Regierungen ganz einfühlsam in ihre Reportagen hinein.

PS zu Volksaufständen: Von wegen, dass sich hier der Wille des geknechteten ägyptischen Volks endlich Bahn brechen soll, wie die Berichterstattung momentan ja gerne ein wenig emphatisch suggeriert. Offenbar weiß man in den westlichen Hauptstädten inzwischen ziemlich genau, dass sich die unhaltbaren Zustände, die man in seinen Drittwelt-Hinterhöfen einrichtet, ab und zu in gewaltsamem Aufbegehren Luft verschaffen. Da heißt es, rechtzeitig dabei sein, möglichst alles im Griff behalten, die richtigen Nachfolgefiguren platzieren, die „falschen“ Volksfreunde marginalisieren – das heißt Demokratie in diesen Staaten. Beim Versuch, den Verlauf der Aufstände in seinem Sinn zu beeinflussen, wirft der Westen die hergestellten politisch-ökonomischen Abhängigkeiten ins Spiel – und die sind nicht gering! Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die ägyptischen Oppositionsgruppen ElBaradei als Vermittler gegenüber den amerikanischen/europäischen Diplomaten benutzen wollen. Sie wissen, dass ein Neuanfang in Ägypten gegen diese mächtigen Interessen sowieso chancenlos ist und fügen sich berechnend in diese Lage. Tja, wenn das also alles so ist, wird es mit der Zustimmung des Volks für den „Karrierediplomaten“ wahrscheinlich auch irgendwann klappen.

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