Vorspiel zum Regierungswechsel:


Wer ist hier verbraucht?

Nach allgemeinem Befund ist die Regierungskoalition „verbraucht“ (Le Soir), „Resignation und Ratlosigkeit breiten sich aus in der Führungsspitze“ (Weltwoche) und Könner der Branche, gewohnt, das Staatsgeschehen der Physiognomie seiner Repräsentanten abzulesen» entdecken um das – zu anderen Zeiten noch als „Schnauze“ geschätzte –  Kanzlerorgan Furchen, in denen „der Zweifel sitzt“ (SZ), geprägt von „lustlosen Orgien der Pflichterfüllung hinter hohen Aktenbergen“ (Hermann Schreiber im Spiegel). Dies alles angesichts einer Regierung, die regiert wie eh und je: die Vorstellung, die der Kanzler der Weltöffentlichkeit in London gegeben hat, erweckt nicht gerade den Eindruck, als habe ihn die Lust am Regieren verlassen;

weder resigniert noch ratlos werden die Gesetze zur Sanierung der Sozialversicherung verabschiedet, um die für Alter und Krankheit zweckentfremdeten Mittel zielstrebig an diejenigen zu verteilen, die damit besser umzugehen wissen; noch ist es ein „Klima der Ohnmacht“ (Le Soir), aus dem heraus ein Energieforschungsprogramm aufgestellt wird, das mehrere Milliarden darauf verwendet, dem Kapital die Entwicklungskosten für seine Energieversorgung abzunehmen.

Wenn der unzählige Male und unweigerlich in jeder Parlamentsdebatte von der Opposition geäußerte Vorwurf, „die Bundesregierung ist handlungsunfähig“ (Kohl in der SZ), nicht in den Parlamentsprotokollen verschwindet, sondern auf den ersten Seiten der Tageszeitungen plaziert wird, neben den Berichten über die diversen Maßnahmen eben dieser Regierung, dann verdankt er diese Beachtung nicht der Tatenlosigkeit der angegriffenen Figuren, sondern ihren Taten. Das Argument ist nicht neu, neu ist die Resonanz, die es in der Öffentlichkeit findet und die es zur Erklärung der in der Bevölkerung konstatierten „Staatsverdrossenheit“ (Schuster in der SZ) verwendet. Daß die größte Sorge der von den Maßnahmen der handlungsunfähigen Regierung mit Arbeitslosigkeit, Lohnverlusten und Preissteigerungen betroffenen Bürger zur Zeit ausgerechnet der „Machtverfall“ (Reiser in der SZ) in Bonn sein soll, daß die durch die zielstrebige Energiepolitik der Bundesregierung hervorgebrachten staatstreuen Bürgerinitiativen sich landauf landab mit dem ,,Zweifel an der Regierbarkeit unserer Demokratie“ (Schuster, SZ) herumquälen, läßt sich unwidersprochen allerdings nur in einem Land behaupten, dessen Bewohner tatsächlich von einem immensen Vertrauen in ihren Staat besessen sind.

Nur Staatsbürger dieser Qualität weigern sich dermaßen konsequent, in all dem, was ihnen von Seiten ihrer Regierenden widerfährt und was sich unschwer als ihre konjunkturgerechte Zurichtung für die Bedürfnisse des Kapitals erklären läßt, etwas anderes zu sehen als Verdienst oder Versagen, Könnerschaft oder Unfähigkeit der jeweiligen Staatsmänner. So bezieht denn die Lüge, die zum Repertoire jeder Opposition gehört, daß die regierenden Parteien durch Unterlassungen und nicht durch ihre diversen Aktionen gegen die Bürger deren Vertrauen in den Staat erschüttern ihre Glaubwürdigkeit nur durch deren Bereitwilligkeit, den Unmut über die unangenehmen Folgen staatlicher Aufschwungsförderung in die Frage zu verwandeln, ob es Helmut Schmidt noch bringt, ob SPD und FDP noch genügend „Ideen“ und „Tatkraft“ besitzen, kurz, ob nicht eine neue Regierung unserem Staat bei seinem Vorgehen gegen die Mehrheit, die die SPD gewählt hat, besser zu Gesicht stünde. Der ständigen Anstrengung der Opposition, sich als die bessere Alternative hervorzutun, wird nun der Erfolg beschert, sich zur allgemeinen Debatte über den Verschleiß der Regierungskoalition auszuweiten.

Weil es die Parteien sind, die die Geschäfte des Staats besorgen, sind sie es auch, die die Unzufriedenheit der Regierten zu bewältigen haben, was der jeweils von der Verantwortung ausgeschlossenen Partei, die Gelegenheit gibt, mit dem Gejammere über drohende Staatsverdrossenheit, die die Unfähigkeit der momentanen Staatsagenten verursacht haben soll, ihre Dienste zu offerieren als eine effektivere Weise, die Staatsgewalt einzusetzen.


„Wir müssen endlich diesen Geruch der persönlichen Bereicherung wegbekommen!“ (Rudi Arndt)

Nach Beweisen für den notwendigen Machtwechsel braucht man nicht lange suchen – in einer funktionierenden Demokratie gibt es sie immer. Filzokratie, Ämterpatronage, unsaubere Spendengeschäfte und Bereicherungspraktiken von SPD-Mitgliedern in Regierungsfunktionen bieten das geeignete Material, den Verfall der Partei zu demonstrieren.

Normalerweise nimmt der Bürger mit mißbilligendem Verständnis die Tatsache in Kauf, daß derlei Affairen zur Politik gehören. Die schöne Regelmäßigkeit, mit der sie aufgedeckt werden, beweist dies ebenso wie sein Zorn darüber, daß die Inhaber der Macht diese für ihre privaten Geschäfte ausnützen, erregt er sich doch nicht etwa über die Macht, die ihnen dies gestattet, sondern verschafft sich in Gerechtigkeitskampagnen Genugtuung wie etwa der Begeisterung darüber, daß einem schwarzfahrenden Münchner Bürgermeister die harte Buße von DM 20,- Strafe auferlegt wird. Während nach diesem Muster in Bayern und Schleswig-Holstein die Verfehlungen eines Staatssekretärs, der sich durch wohlwollende Behandlung des Glöggler-Konzerns verdient gemacht hatte, und eines Landtagsabgeordneten, dem die Modernisierung der Müllabfuhr ein paar Millionen einbrachte, in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen versickern, ohne daß den jeweiligen CDU-Regierungen daraus ein Strick gedreht würde, während sich niemand mehr nach dem Verbleib der Lockheed-Akten erkundigt – wie denn überhaupt die gesammelten Affairen des F.J.S. viel eher als Beweis seiner besonderen Schläue gewürdigt werden während die diversen CDU-Korruptionsskandale also auf normalem Weg bereinigt werden, gelten die entsprechenden Geschichten in Hessen und Berlin als eindeutiger Beleg für die bürgerliche Weisheit: „Die Macht verdirbt“ (Le Soir).


Der Führer der Opposition, mangels Regierungsgewalt erhaben über jeden Verdacht, sie zu mißbrauchen, der Saubermann der Nation, woran auch die matten Erinnerungen der SPD an die illegalen Koffergeschäfte der rheinland-pfälzischen Landesbank nichts zu ändern vermögen, läßt keine Gelegenheit aus, die Berliner Filzokratie und die Osswaldschen Geschäfte zu zitieren, die ja nicht nur unsauber, sondern auch noch mit dem geschäftlichen Niedergang der entsprechenden Bank verknüpft waren, was zumindest den Steuerzahler in jedem Bürger aufschreien läßt. Mit dem Lied vom sauberen Staatsmann, die Form der Agitation, die Kohls Studienratsrhetorik noch am ehesten liegt, bestreitet die CDU/CSU ihr demokratisches Geschäft: die Kontrolle der Macht und sammelt Pluspunkte auf ihrem Weg zur Macht. Dankbar über das Material, das sich während der Regierungstätigkeit der SPD angesammelt hat, entrüstet sich der Berliner CDU-Chef über die Verkommenheit der Genossen, die er allerdings nicht so ernst nimmt, seine private Freundschaft mit dem öffentlich verurteilten Klaus Schütz zu beendigen, der die „schmierigen Geschäfte“ ja zumindest geduldet haben muß, die ihn stattdessen zu immer neuen Feiern des fast schon garantierten Wahlsiegs seiner Partei beflügelt. Die Opposition braucht die Freude über die Munition, die ihr die SPD verschafft, kaum zu verhehlen. Es besteht keine Gefahr, daß ihre Nutznießerschaft die Moralpredigten als Heuchelei entlarvt: kann sie doch darauf bauen, daß sie mit der Entrüstung über den Machtmißbrauch nicht alleine steht. Der korrupte Politiker, ein Lieblingsthema der Staatsbürgermoral, zieht immer, zieht aber besonders in Zeiten, in denen der Bürger dank der Ausführung der von ihm gebilligten Staatsgeschäfte einige Lasten über das gewohnte Maß hinaus zu tragen hat, weshalb er nicht ansteht, seine Säuernis an den von ihm nicht gebilligten Privatgeschäften auszulassen, die sich die Politiker leisten. Weshalb die Führer der Opposition auf sicheren Beifall von Millionen von Rentnern rechnen können, die um ihr Erspartes geprellt keine größere Sorge haben, als daß Staatsmänner wie Osswald die budgetfreundliche Kürzung ihrer Renten der Würde ihres Amtes entsprechend besorgen, also dabei auf villenträchtige Privatbescheißereien verzichten. Das feine Gerechtigkeitsgefühl des Bürgers weiß seinen politischen Repräsentanten durchaus den gerechten Lohn für ihr undankbares Geschäft zu gönnen, man denke bloß an die unermeßliche Verantwortung, die der Gebrauch der Gewalt ihren Trägern aufbürdet, ihnen Leistungen abverlangt, die in Geld längst gemessen, aber nie aufgewogen sind, weshalb die Diätenerhöhungen der Parlamentarier auch nur dann gerügt werden, wenn sie taktloserweise zur gleichen Zeit wie unter Maßhaltedrohungen ablaufende Tarifverhandlungen stattfinden. Aber dieser elementare, weil staatsursprüngliche Sinn für Maß und Ziel ist empfindlich berührt, wenn Staatsmänner sich nicht mit den ihnen von Amts wegen zukommenden Extras „bescheiden“ und mit offenen Bereicherungsabsichten die Hingabe an das Amt, die ein Staatsvertreter zu zeigen hat, in Zweifel stellen. Und gerade dann, wenn die Krise fast überwunden, der Aufschwung noch mehr Opfer fordert, wenn der bereitwillige Bürger zu schaffen hat mit der Tatsache, daß der in Aussicht gestellte Lohn für seine Opferbereitschaft ausbleibt, wird er dadurch auf eine harte Probe gestellt, daß diejenigen, die von ihm die Opfer fordern, selbst allzu offensichtlich keine bringen müssen und wollen. Eine Probe, die er allerdings glänzend besteht: entscheidet er doch mit dem Ruf nach dem sauberen Staatmann den Vergleich zugunsten des Staats und erklärt sich abermals bereit, sich in seinem Schaden einzurichten im Vertrauen auf den Staat, das er dann hat, wenn sein Opfer auch wirklich eines für den Staat und nicht eines für die außerordentliche Eigensucht seiner Repräsentanten ist.

Dieses Friedensangebot, das die moralische Entrüstung über Fehltritte von Politikern darstellt, nehmen diese nur zu bereitwillig an und stoßen ihre ungeschickten Kollegen ab. Osswald ist aus den Führungsgremien seiner Partei verschwunden, Rudi Arndt zumindest aus der Schußlinie und in Berlin hat der Regierende Bürgermeister in eigener Person dem Volkszorn Genüge getan und mit der Freigabe seines Arbeitsplatzes die vorangegangenen Verfehlungen plus Rücktritte seiner vier Senatoren nachträglich zu einer kleinen Feier in Sachen Demokratie ausgestaltet. Denn solange wie solche Spektakel stattfinden, solange wie das Nicht-Überweisen von Aufsichtsratstantiemen die Massen empört, die vorangegangenen staatsmännischen Leistungen des Senators Kurt Neubauer aber unvergessen bleiben. (Hat er nicht sämtliche Berliner Wohngemeinschaften samt Mobiliar für die Lorenz-Entführung zur Rechenschaft ziehen lassen und überhaupt die Schlagkraft der Berliner Polizei durch sein Handgranatengesetz enorm verbessert? An seinem Grab bläst man sicher „Ich hatt einen Kameraden.“), solange weiß der Staat seine Bürger fest hinter sich. Diejenigen, die von der politischen Bühne abtreten, wobei sie um ihre Versorgung sicher nicht bangen müssen, wissen, was sie schuldig sind und tun ihr Bestes, um eine staatserhaltende Aktion daraus zu machen. Wenn sie nicht schon selber die sofortige Einrichtung irgendwelcher Untersuchungsausschüsse fordern, beteuern sie zumindest mit mehr oder weniger fadenscheinigen Erklärungen wie vergeßlichen Ehefrauen etc. ihre Unschuld, um ,,dennoch“ die volle Verantwortung zu übernehmen und mit dem freiwilligen Rücktritt zu „büßen“, auf daß der Glaube an den Staat unversehrt bleibe von den Fehlern und Schwächen seiner Diener. Unbestrittener Weltmeister in diesem Geschäft ist Richard Nixon, der noch nach Veröffentlichung der schönsten Stellen seiner Tonbänder dem amerikanischen Fernsehpublikum feuchten Auges versichert, es sei das „Herz“ gewesen, die „Liebe zur Nation“ die ihn am Präsidentensessel hätte festkleben und die bekannten Fehler begehen lassen. Wovon der störrische Albert Osswald, der immer noch deplazierte Vergleiche mit Franz Beckenbauer zieht, dem niemand seine Millionen mißgönnen würde, sich eine Scheibe abschneiden kann.


„Wir haben die Entwicklung fest im Griff.“ (SPD-Vorstand)

Die SPD ist mit vollen Kräften dabei, auf diese Weise ihrer Abdankung aus dem Weg zu gehen, schickt junge Talente aufs Abstellgleis nach Berlin zwecks „Auffrischung der Personaldecke“ (SZ) und macht in Vorwärtsverteidigung:

„Von uns Sozialdemokraten wird aus unserer Tradition heraus eine strengere Moral verlangt als von anderen. Deswegen rechne ich nicht auf und sage, schauen Sie mal nach Süddeutschland, schauen Sie mal nach Westdeutschland in die anderen Parteien hinein.“ (Koschnick im Spiegel-Interview)

Womit man einerseits gesagt hat, daß die SPD nur das gleiche macht wie die anderen Parteien, wodurch es schon halb so schlimm wird, weil es normal ist, daß man aber andererseits der SPD dennoch mehr vertrauen sollte, weil sie das, was sie gesagt hat, nicht gesagt haben will und ihre traditionellen Werte ( = der Vorteil in der BRD 17 Jahre lang Opposition und damit im Stande der Unschuld gewesen zu sein) ihr bislang schon den Ruf verschafft haben, weniger anfällig (Gelegenheit macht nämlich Diebe) für solche Skandale zu sein. Hier drängt sich eine Hypothese auf bezüglich der immer wieder gesuchten aber kaum empirisch nachgewiesenen Unterschiede zwischen den beiden großen Parteien unserer Nation. Könnte nicht eine erhebliche Differenz zwischen den Antifaschisten in der CDU/CSU und denen in der SPD darin bestehen, daß die ersteren in ihrem Engagement für den Staat rücksichtloser sind? So daß sie sich auch nie aus Gewinnsucht einen Privatkredit über lumpige hunderttausend Märker bewilligen oder ein fünfstelliges Sümmchen einzuzahlen vergessen, sich dafür aber in Geschäften üben, die in Bezug auf die gehandelte Summe Geldes und in Bezug auf den persönlichen Einsatz weit über das hinausgehen, was die Pflicht ihres Amtes fordert. Sollte sich diese Hypothese eines Tages verifizieren lassen, dann wäre auch die Erklärung für die Tatsache gefunden, daß so mancher Skandal, in den konservative Politiker verwickelt waren, keiner wurde: ohne ihren außergewöhnlichen Einsatz hätte die Bundeswehr keinen Starfighter, manchen Panzer nicht und überhaupt stünde unsere Nation schlechter da.

Werte dagegen sind zur Zeit billig und auch nicht sehr gefragt oder wie es der Genosse Bahr ausdrückt, „die Partei hat die Faszination verloren, Werten und Zielen zu folgen“ (im ZDF), ist doch gerade die Bewährung des Demokratischen Sozialismus bei der Erledigung der Staatsgeschäfte Gegenstand des Unmuts und der interessierten Verwandlung dieses Unmuts in Zweifel an der Handlungsfähigkeit der von der SPD gestellten Staatsmänner. Neben die Aufforderung an die Partei, ,,Wünsche, Vorstellungen und Ziele wieder klarer zu formulieren“ (Bahr) (weil sonst die Ziele der Macher zu klar wären), tritt daher die Demonstration des Führungswillens, zwar auf einem Nebenschauplatz, aber auf einem, wo man sich sicher sein kann, Beifall zu ernten. Die „Wünsche, Vorstellungen und Ziele“ der Jusos, die nicht ganz zeitgemäß mit ihrer Rolle als kritischer Sauerteig der Partei kokettieren, werden energisch gekontert, kommt es doch auf die Konsolidierung der Partei und ihr geschlossenes Eintreten für eine Führung der Staatsgeschäfte an, die mit dem Vertrauen gewisser Leute in den Staat endlich auch das Wachstum wieder in Gang setzt und die leidigen Arbeitslosenzahlen senken hilft. Um die Zweifel an ihrer Tauglichkeit auszuräumen, statuiert die SPD am Juso-Vorstand ein Exempel, bei dem dieser brav mitspielt und mit seinem Rat an etwa verärgerte Jusos, „jetzt nicht das Parteibuch hinzuwerfen, sondern gerade jetzt drinbleiben und über die Sache zu diskutieren“ (SZ) noch dafür sorgt, daß das Exempel die SPD nicht zuviel Austritte von arbeitswilligem Jungvolk kostet.


So billig kommt die SPD jedoch nicht davon: das Bedürfnis nach einer „Faszination der Werte“ regt sich auch auf anderen Ebenen der Partei. Das Geplänkel mit den Jusos vertreibt nicht die Sorge um den Wählerwillen und da dieser sich in bestimmten Regionen nicht mit dem Rausschmiß von Stamokaplern gewinnen läßt, sondern in aller Bescheidenheit gegen Kernkraftwerke ausspricht, geraten die basisnahen Genossen in eine arge Klemme, möchten sie doch nur zu gern von der Brokdorf-Welle gegen Stoltenberg und Filbinger ebenso profitieren wie Münchner Stadträte von den „Rechtstendenzen“ in der bayerischen Landeshauptstadt, wenn es ihnen nicht der parteieigene Kanzler so schwer machen würde. Jochen Steffen verweist sorgenvoll auf das ungenutzte Potential, „die SPD müsse wieder zu einer Sammelbewegung aller Bürgerinitiativen werden der wertkonservative Eppler rüttelt an den Strukturen „weg mit dem ganzen Atomschiß“ was die Parteiführung immerhin zu der netten Geste veranlaßt hat, mit der Bewilligung einer Denkpause über den Schnellen Brüter ihre 11 Stimmen Mehrheit im Parlament nicht zu gefährden. Die weitergehenden Spekulationen Jochen Steffens aber, ob es der SPD nicht wieder einmal gut täte, in die Opposition zu gehen, werden hart gerügt nicht etwa, weil er damit zu direkt ausgesprochen hat, was das Wechselspiel von Opposition und Regierung für die Parteien bedeutet. Als Nutznießer der Ärgernisse, die die Staatsführung auf sich zieht, hat die Opposition die Gelegenheit, durch konstruktive Kritik an der Regierung einen Vertrauensvorschuß anzusammeln,. mit dem ausgestattet die Regierungsgewalt wieder gegen ein williges Volk ausgeübt werden kann. Der Fehler von Jochen Steffen ebenso wie der Rechtsabweichler in München ist der, daß sie in der Sorge um ihr Mandat zu sehr aufs Vertrauen der Wähler schielen und vergessen, daß eine Regierungspartei Geschlossenheit zu demonstrieren hat. Daß sich nur mit einem gegen die Partei gerichteten Opportunismus ein Staat machen läßt, müssen sie sich von einem sagen lassen, der sich bei dem schwierigen Geschäft bewährt hat, sich dem Wähler mit der Würde und Distanz des echten Staatsmanns anzubiedern:

„Der SPD-Vorsitzende forderte alle Gliederungen der Partei auf, bei Kandidatenaufstellungen für Wahlen künftig sorgsam vorzugehen. Wenn keine Gewähr bestehe, daß ein Bewerber auch dann SPD-Mitglied bleibe, wenn er später um seine Wiederaufstellung bangen müsse, sollte die Nominierung besonders gründlich geprüft werden.“ (SZ)

Es gehört nun einmal zum Geschäft des Staatsmanns, sich bei seinen Wählern unbeliebt zu machen, wofür Parteien manche Karrieren abbrechen, wobei der Ersatz gleich zur Stelle ist, solange wie der Wähler die Enttäuschung seines Vertrauens vertrauensvoll zum Anlaß nimmt, es den Ersatzfiguren zu schenken.


„An der FDP wird die Koalition nicht scheitern!“ (Genscher)

Dabei ist das Problem der FDP, sich und den Wählern diese Prozedur ersparen, den Ersatz der Regierung durch ein neues Bündnis mit der CDU/CSU von heute auf morgen bewerkstelligen zu können, und sich damit die Regierungsgewalt zu erhalten, ohne daß sie diesen Wechsel jedoch mit dem Verlust der eigenen Glaubwürdigkeit bezahlen möchte. Als Teil der Regierung und als kleinerer Teil bemüht man sich nach Kräften, sich vor der Öffentlichkeit unverantwortlich zu machen für die Folgen der Regierungsarbeit, die den allgemeinen Unmut auf sich vereinigen. Die FDP beteiligt sich daher eifrig an der Aktion sauberer Staatsmann, rührt selbst die alten Geschichten um Rudi Arndt wieder auf und läßt so noch in der Koalition anklingen, daß ,,die Partei in absehbarer Zeit vor Entscheidungen gestellt werden könnte.“ Sie benötigt also noch einen entsprechenden Anlaß, einen Skandal von gehobenerer Qualität (etwa die Enttarnung von Gudrun Ensslin als uneheliche Tochter von Egon Bahr. Die Nase!), um mit der SPD brechen zu können. Die heftige Distanzierung von den Skandalen und Zerwürfnissen im Lager des Partners bereitet den Abgang vor, für dessen endgültige Inszenierung noch die notwendigen Bedingungen eintreffen müssen, damit der Koalitionsbruch nicht die Glaubwürdigkeit der FDP in Frage stellt, sie etwa wieder einmal als Pendlerpartei erscheinen läßt, der es bloß um die Macht geht (als ob es je einem Politiker um etwas anderes gegangen wäre) und die sich deshalb charakterlos je nach Lage der Dinge an eine der beiden großen Parteien anhängt. Es muß vielmehr als zwingende Konsequenz da stehen, eine verrottete und erfolglose Partei aufzugeben. Daß liberale Politik auch im Verein mit der CDU zu machen ist, bringt die FDP bereits erfolgreich im Saarland und in Niedersachsen in Erinnerung, wo sie sich ja bekanntlich der Landesinteressen wegen der Regierungsverantwortung nicht entziehen konnte.


„Die CDU/CSU ist sofort zum Handeln bereit!“ (Kohl)

Die Opposition steht Gewehr bei Fuß und wartet, daß der Ruf des Volkes nach ihr ergeht, tut ihr Bestes, um im Bundesrat durch ihr Wirken den Beweis für die Handlungsunfähigkeit der Regierung zu liefern und fordert den erstrebten Partner dazu auf, „Zeichen zu setzen“ (Kohl). Dies ist aber nicht als würdelose Bettelei um die Gunst der Zwergenfraktion im Bundestag zu verstehen, vielmehr ein Rettungsangebot an die FDP, die „in den Abstiegssog der SPD mit hineingerissen werden“ (Kohl) wird. Noch mehr, es ist die „Staatskrise die droht, die die Regierung nicht mehr meistern kann, die sie selber angerichtet hat, die jedoch niemand fürchten muß, gibt es doch noch die CDU/CSU:

„Niemand muß Furcht vor einer Staatskrise haben. Wir stehen bereit und sind jederzeit in der Lage, die Regierungsverantwortung aus den Händen einer abgewirtschafteten SPD zu übernehmen.“ (Kohl)

Da freut sich der Arbeitsmann!

Spätestens diese Versicherung, das biedermännische Angebot, die erschreckten Bürger vor der Staatskrise zu bewahren, nachdem man alles dazu getan hat, ihnen die Existenz einer solchen glaubhaft zu machen, zeigt, daß es keine gibt.

Solange die Adressaten diese Sprüche beherzigen und das Gerede von der verbrauchten Regierung und der notwendigen Erneuerung der Demokratie schlucken in der irrigen Annahme, auch ihr Wohlergehen könne sich etwas von einem Wechsel der Figuren, von „neuen Ideen“  in der Politik erwarten, solange ist die Demokratie so unverbraucht wie eh und je. Denn ihre Zustimmung zur Ausübung der Regierungsgewalt erspart dem Staat jede Krise und diese Zustimmung kräftigt sich erst recht, wenn sie eine Regierung zum Teufel jagen und mit einer anderen einen neuen Anfang machen kann, wobei ihr hierzulande die FDP sogar noch die Mühe eines neuerlichen Kreuzchens auf dem Stimmzettel abnehmen kann.

Damit dieses trostlose Spektakel jedoch nicht gänzlich seinen Reiz verliert, bieten Berliner Sozialkundler eine neue spannendere Variante an:

„Es ist einsichtig, daß das Wechselspiel von Regierung und Opposition zwar die Massen eine ganze Zeit lang an der Nase herumführen kann, daß aber das Mißverhältnis, daß die Opposition sich unter dem Versprechen wählen läßt, alles besser zu machen als die Regierung, dann aber alles genauso schlecht macht wie ihre Vorgängerin, wenn nicht noch schlechter (so schlecht ist die SPD ja auch schließlich gar nicht!), an gewissen Punkten zur Erkenntnis führen muß, daß, wen man auch wählt, den Versprechungen keine Taten folgen werden, also leere Versprechungen sind. Dies hat dann Konsequenzen in zweierlei Richtung: entweder enthält sich der getäuschte Wähler der Wahl, oder er wählt eine Partei, die noch nicht verbraucht ist, und das kann letztlich (und darauf lohnt es sich zu warten!) nur heißen: Vertreter der politischen Partei des Proletariats (die Faschisten sind wohl noch zu verbraucht). Dies ist natürlich kein Wechsel über Nacht (Geduld ist die Tugend des Revolutionärs) sondern ein längerer Entwicklungsgang (sicher auch mit vielen Aufs und Abs), der Desillusionierungsprozeß über den Charakter der bürgerlichen Parteien.“ (Projekt Klassenanalyse: Materialen zur Klassenstruktur der BRD, S. 142)

Bloß schade, daß der primitive Hinweis auf die Realisierung der Versprechungen der unverbrauchten Partei jenseits der Mauer hierzulande „letztlich“ „an gewissen Punkten“ „die Massen eine ganze Zeit lang an der Nase herumführen kann“ und dem „Illusionierungsprozeß über den Charakter“ „der politischen Partei des Proletariats“ einen „längeren Entwicklungsgang“ auferlegt. Denn würden nämlich endlich den Versprechungen Taten folgen, werden sie den Proleten nicht einmal mehr den Genuß gönnen, sich beim Auswechseln der Regierungsmannschaft einzubilden, daß man es denen da oben wieder einmal gezeigt hat, und sich damit mit den neuen oben wieder einzurichten. Das gibt dann einen stabilen Staat.

 

Zum Problem der Verantwortung der Parteien vgl. auch MSZ Nr. 15/1977Die Parteien nach der Wahl: Blamiert bis auf die Knochen

 

aus: MSZ 17 – Mai 1977

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