Dann ist das Leben ein Scherz
In einer Krise braucht der geplagte Mensch allerlei Ablenkung, die ihn zugleich erzieht (vgl. MSZ Nr. 8, Die Krise). Sie muß ihn nämlich bei der Anerkennung seines Schicksals dergestalt unterstützen, daß seine miese Verzichterei direkt noch vergnüglich sich darstellt. In einer langanhaltenden Krise, die für die bekannte radikale Minderheit schon längst keine mehr ist, weswegen sie sich ja auch erst recht radikal aufführt, will sie doch noch das letzte Quentchen Extraprofit aus der deutschen Arbeiterklasse herauspressen, was wiederum lange dauert. In so einer Situation also liegt das Vergnügen in der Schlichtheit sowohl der Mittel wie auch des Gemüts. An den Mitteln fehlt's zwangsläufig, also auch am Kinogeld, Alkohol und ähnlichem, was nicht heißt, man könne überhaupt darauf verzichten – also gehen zur Zeit die Schnapspreise wieder runter. Diese mangelhaften Arten der Gegenwartsbewältigung – mangelhaft, weil sie einen immer wieder darauf stoßen, daß das rechte Vergnügen infolge fehlenden Geldes sich nicht einstellen will – treten zurück, und billigere und letztendlich viel wirkungsvollere Selbsterziehungsprogramme gewinnen an Bedeutung. Der Aberglaube bleibt ein Renner, bietet er doch immer die trostreiche Erklärung, daß es an unbeeinflußbaren Mächten liegt, wenn man keine Macht über sein eigenes Schicksal gewinnt und zu den ewig Gebeutelten zählt. Freilich enthält diese Suche nach dem Sinn des Lebens, wenngleich schon längst geklärt, noch die Widerspenstigkeit, daß überhaupt gesucht wird. Besser, gleich gar nicht mehr denken, anspruchslos mit sich selbst zufrieden zu sein und nur dann sich aufregen, wenn einer mit sinnlosen Grübeleien daherkommt.
Das Fernsehen, einerseits gerade heute so wertvoll wie immer, andererseits gerade heute so schrecklich arm, wie es immer wieder beteuert, kann nun nicht die Leute laufend mit aufwendigen Moral-Shows des Peter Alexander und seinen Spießgesellen bombardieren („Gitte überzeugte durch ihre persönliche Ausstrahlung, konnte auf Stargäste und pompösen Dekor verzichten“), kauft stattdessen schockweise Fernsehserien aus dem Land ein, das deswegen so unübertrefflich die zu allen Situationen des Lebens passenden Moralpackungen liefert, weil dort niemanden mehr was erschüttert, es sei denn die Aufsässigkeit einiger Panama-Neger. Billiger und ganz ohne Gewalt (den Begriff „Gewalt gegen Köpfe“ kennt das Recht ja nicht, zurecht, denn sowas muß sich ein Kopf schon selber antun), die manchem angeblich an dem amerikanischen Zeug nicht gefallen will, erledigt da das hausgemachte Frühabendprogramm dieselbe Aufgabe, wenn die einheimischen Moraltrief er in Herz und Gemüt der abgeschafften Familie sich hineinschießen. Was ist der gemütlichrunde Superstar schon gegen die herzliche Harmonie, die prompt zwischen den geladenen Ehepaaren aufblüht, wenn trickreiche Fragerei herausbringt, daß schon irgendein Gefühl zwischen ihnen noch existieren wird, was aber nur ein Umweg dazu ist, den Zuschauer sich freuen zu lassen, daß Harmonie noch über den letzten Blödsinn sich einstellt, daß dieser schon allein das Leben schöner gestaltet, wenn man sich seiner nur richtig annimmt: „Was sagte Ihr Männe, als er damals am Dingssee aus dem Boot fiel? a) Scheiße! b) Naß! c) Brr!“
„Trink, trink, Brüderlein trink,
Dann kommt jedoch der Augenblick, wo klar wird, warum dieser Mensch Erfolg haben muß. Es rückt nämlich nun sein Gesicht in den Bildschirm und sagt, ganz Lächeln, ganz Schwabe: „Auf die zwei folgenden Verse bitte ich Sie, besonders zu achten, sind sie doch sehr schön und wir können einiges aus ihnen lernen: Daraufhin singen die Blaugelben das, und die Leute vor dem Fernseher sagen nicht etwa »Jetzt reicht’s, jetzt machen wir auch Klassenkampf« – sondern singen mit.
Ein Engel geht durchs Zimmer: der vollkommene Zusammenschluß von Massensehnsucht, Sparsamkeit und Zeitgeist ist gelungen. Ein mächtiger Schlag ist geführt gegen noch die abgeschmackteste Form von Intellekt – das Denken überhaupt hat sich aufzuhören, wenn der Übergang zum Singen vollzogen ist. Solange Derrick und der Alte samt den dazugehörigen Politikern ihrer geistigen Tätigkeit nachgehen, die gesellschaftlichen Übel auszumerzen, kann sich der deutsche Arbeiter in den Sessel zurücklehnen und den Kummer und Schmerz seines Lebens einfach meiden; er nimmt sie schlichtweg nicht wahr und grölt stattdessen den Fernseher an. Man muß bedenken: Gotthilf Fischer macht hier eine pädagogische Veranstaltung, denn seine Leute lernen was, nämlich Lebensfreude und/durch Singen. So schafft er es, neben der Produktion konzentriertester Formen von Volksdummheiten selbst noch das Volkslied auf den Dieter-Thomas-Heckschen Stampfrhythmus herunterzubringen. Außerdem könnte diese Form der Selbstindoktrination ja daran scheitern, daß den Leuten ohne ihn das Singen nicht einfiele, oder womöglich an Textlücken scheiterte. So bekommen wir den Erfolg garantiert, als geschlossenen Regelkreis einschließlich Feedback, der Wünschtraum eines jeden Kommunikationstheoretikers wird wahr: in einem deutschen Durchschnittsheim befindet sich ein Aufnahmeteam parallel zur Studiosendung und sendet Bilder der aufmerksam auf Herrn Fischer hörenden Familie, die schließlich von sich aus ein Liedchen zum besten geben darf. Woraus man lernt: Singen kann jeder. Wie immer wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in so begrifflich reiner Form vorstellt, ist auch hier die Kritik als parodierende Farce gleich mitgeliefert: „Dann ist das Leben ein Scherz.“ Über die staatsbürgerbildende Funktion des Fernsehens findet sich umfassendes Material m MSZ Nr. 13/1976 „Ein Tag vor der Mattscheibe: Das Fernsehen als moralische Anstalt.“
aus: MSZ 22 – April 1978 |