Moro-Entführung in Italien

Das Herz des Staates

Um den „Angriff in das Herz des Staates vorzutragen“ entführten die Brigate rosse (BR) den „ehrenwerten“ Abgeordneten und Präsidenten der Democracia Christiana Aldo Moro. Die Opfer des Anschlags, fünf Kriminalbeamte, wurden in die Siegesmeldung aufgenommen:

„Wir haben den Knecht des Staates, Aldo Moro, entführt und seine Leibwächter, die Lederköpfe des Innenministers Cossiga, eliminiert. Moro ist nur der Anfang.“ (BR, Mitteilung Nr. 1)

Parallelen zur Schleyer-Entführung der westdeutschen RAF wurden in der italienischen Presse aufgezeigt: die „militärisch perfekte Durchführung des Coups“ ließ auf deutsche „Berater“, wenn nicht gar „Drahtzieher“ schließen und die Verfahrensweise der BR nach dem Anschlag läßt den „Arbeiterkampf“ des KB einen „Lernprozeß“ vermuten. Keine Ultimaten und keine Austauschforderungen, die ohnehin nicht erfüllt werden. Stattdessen die Ankündigung, den Christdemokraten „in dessen Hand seit dreißig Jahren die Fäden italienischer Politik zusammenlaufen vor ein „proletarisches Gericht“ zu stellen. Die italienische Öffentlichkeit, soweit sie von der bürgerlichen Presse dargestellt wird, suggeriert der Bevölkerung ein „Trauma, angesichts der Herausforderung des demokratischen Staates“ („II Messaggero“), von dem aber nichts zu bemerken ist, wie die (euro)kommunistische „Unita“ besorgt feststellt:

„Angesichts dieses Krieges kleinbürgerlicher Elemente, die mit der Arbeiterbewegung nichts zu tun haben, ist der von sektiererischen Gruppen propagierte Satz »Weder mit dem Staat, noch mit den BR«, der leider auch in den Fabriken und unter Studenten gedankenlos nachgeplappert wird, eine verhängnisvolle Fehleinschätzung. Der Anschlag der BR gilt nicht der christdemokratischen Mißwirtschaft, sondern der konstitutionellen Demokratie überhaupt. Jene wollen wir überwinden, auf diese sind wir alle angewiesen, wenn es uns wirklich um sozialen Fortschritt zu tun ist.“

Die „Unita“ beklagt hier die weitverbreitete Haltung eines zynischen „Spettacolorismo“, der die Mehrheit der Bürger des italienischen Staates beherrschte. Scharf wendet sie sich gegen eine Einstellung, die in Moro den Anführer jener „classe politica“ sieht, die seit drei Jahrzehnten die Pfründe des Staates unter sich aufteilt und der nun, in die Hände von Banditen gefallen, auch mal bluten müsse. Immerhin ist Moro ein Repräsentant des Staates, vom Volke gewählt und der Anschlag auf ihn einer „gegen alle Bürger“. Selbst der auch von der PCI bei Wahlen ausgeschlachtete Umstand, daß die DC eine von Korruption zersetzte Partei ist, darf nicht dazu verführen, in den Aktionen der Roten Brigaden und den Machenschaften korrupter Politiker zwei Formen des Banditentums zu sehen. Diesen Appell, den demokratischen Staat trotz und mit seinen Formen des politischen Gangstertums gegen „Gangster“ zu verteidigen, die „politische Ziele vorgeben“ zu verteidigen, hat inzwischen auch die Mafia aufgegriffen, die selbst Jagd auf die BR macht, weil ihr die ständigen Straßensperren und Razzien das Geschäft versauen.


Die Leichenfledderer

„Ganz gleich, wie es ausgeht, politisch ist Moro so gut wie tot.“ (La Repubblica)

Anders als in der BRD, wo während „der schrecklichen Ungewißheit“ die Politiker die Ausschlachtung des „tragischen Schicksals von Hanns-Martin Schleyer“ durch die „Solidarität der Demokraten“ vorbereiteten, bei der jede Seite durch Pochen auf Geschlossenheit die günstigeste Startposition zu erwischen versuchte, bieten die italienischen Politiker das Bild einer Leichenschmausgesellschaft, die nur auf das Ausscheiden des Patrons aus dem Geschäftsleben gewartet zu haben scheint:

– Die rechten Correnti der DC haben Ende März den pietätstriefenden Vorschlag gemacht, Moro in absentio zum Präsidenten der Republik zu wählen mit dem für jedermann erkennbaren Hintergedanken, auf diese Weise den Senatspräsidenten Fanfani (eiserner Gegner des compromesso storico und parteiinterner Erzfeind Moros) ins Amt zu bringen, das ihm automatisch wegen der „Amtsverhinderung“ Moros zufallen würde.

– Die PCI hat bereits einen Tag nach dem Anschlag in der Via Fani die Parole „Keinerlei Verhandlungen mit den BR“ ausgegeben und begonnen, den Bürger Moro als Vorbild aufzubauen, der die Staatsräson, die in diesen Wochen gerade die Kommunisten verkörpern, über sein eigenes Wohlergehen stellen wird (muß).

– Die Sozialisten der PSI, die sich durch den precompromesso storico, den die DC mit der PCI einging, ins politische Abseits gedrängt sah, schossen nach zwei Seiten: die Unfähigkeit des Staates, „Repräsentanten der Demokratie“ zu schützen, sei das Ergebnis von 30 Jahren „malgoverno democristiano“ (die 15 Jahre, in denen man mitregiert hat, unterschlug man dabei geflissentlich) und die Roten Brigaden, sowie der gesamte Terrorismus seien ein später „Reflex der stalinistischen Traditionen der PCI in den fünfziger Jahren.“

Alle drei gemeinsam beschlossen eine knappe Woche, nach dem Moro aus dem Verkehr gezogen worden war, die wohl schärfsten Ausnahmegesetze in einer westlichen Demokratie und lieferten bislang an die 1.000 „Linksextremisten“ in die Gefängnisse ein, die vom Volke bezahlt und in seinem Namen ausgefüllt und unterhalten werden.


Staatsmann auch im Volksgefängnis

„Es wäre für den Staat und die Demokratie besser, ein Leben zu retten.“ (Aldo Moro an den Innenminister)

Der Entführte selbst, der bislang fünf Briefe aus seinem Untergrundkerker geschrieben hat (ob mit oder ohne Druck ist in Italien heißes Diskussionsthema: So wertet der Papst den Umstand, daß Moro nicht umstandslos bereit ist, sich für die höhere Staatsmoral zu opfern, als „Beginn des Zerfalls seiner Persönlichkeit“), bleibt seiner politischen Haltung treu. Präsident einer Partei, die den Staat noch stets als ihr Mittel eingesetzt hat, muß er jetzt erleben, daß auch seine Partei an den „gemeinsamen Prinzipien“ festhält, und sich ihr Mittel erhalten will, wofür das Leben ihres Vorsitzenden als Preis nicht zu hoch ist. Während Schleyer immer betonte, er überlasse es den zuständigen Stellen, die Entscheidung über sein Schicksal „verantwortungsbewußt“ zu befinden, bestenfalls den Krisenstab mit der Erwägung anging, er habe doch einiges für den Staat getan und nun sei eine Gegenleistung fällig, schließt Moro jeden Brief aus der Gefangenschaft mit dem Räsonnement, der Staat nehme Schaden, wenn er ihn nicht loskaufe. Parteien und Presse reagieren auf diese „Anzeichen von Resignation und Verzweiflung“ mit einer heißen Diskussion darüber, ob Moro freiwillig oder unter „Formen psychischer und physischer Gewalt die Feder führe“, womit versucht wird, dem bereits eingeplanten Opfer die moralische Integrität zu erhalten, die notwendig ist, damit es für die Verteidigung des Staats brauchbar bleibt. Indessen machen ihm die Roten Brigaden den „proletarischen Prozeß“ als Parodie auf das Turiner Verfahren gegen ihren „harten Kern“, woran sich wieder einmal zeigt, daß die Terroristen so sehr Liebhaber der Gewalt sind, daß sie die Staatsgewalt bis in die Formalia hinein kopieren, wenn sich Gelegenheit bietet. Ob Moros „Enthüllungen“ dabei mit oder ohne Druck zu Protokoll gegeben werden, ist für die Mehrheit der Italiener gleichgültig. Sie haben keinen Grund am Wahrheitsgehalt Moroscher Mitteilungen über die Machenschaften des Ex-DC-Innenministers Taviani zu zweifeln.


Das letzte Bollwerk der Demokratie

„Wer anders als wir Kommunisten sollte in der Lage sein, in der gegenwärtigen Stunde der Bewährung den demokratischen Staat zu verteidigen!“ (Enrico Berlinguer)

Die PCI ist die politische Kraft, die „am entschiedensten“ zur Verteidigung der Demokratie angetreten ist. Dabei gibt sie alle Distanz zum Staat auf und schwingt sich sogar zur Verteidigung der DC auf, in der sie trotz aller „Unfähigkeit ihrer Führer“ eine der „tragenden Kräfte der demokratischen Verfassung“ feiert. So legt Gian Carlo Pajetta in einem Interview Wert auf die Distinktion zu den „sektiererischen Gruppen“, die darauf aus sind, die „DC zu zerstören“, während es der PCI „immer darum ging, die DC durch Kritik zum demokratischen Wandel“ zu bewegen. So rief die kommunistische Gewerkschaft CGIL gemeinsam mit der christdemokratischen CISL, alle „Parteien des antifaschistischen Widerstands“ zum Generalstreik am Tag der Entführung auf. Ein „Arbeitskampf“, der vom Unternehmerverband offiziell „begrüßt und unterstützt“ wurde. Die Parolen dieses „Streiks“, die sich gegen „Mißwirtschaft in Staat und Gesellschaft“ richteten und für die „Erhaltung der demokratischen Ordnung“ eintraten, konnten auch von allen unterstützt werden, lediglich der Vorschlag der CGIL, die Arbeiter sollten sich in ihrer Freizeit zu „Antiterroristischen Schutzbrigaden“ zusammenschließen, stieß verständlicherweise auf wenig Resonanz. Vorschläge gegen die Mißwirtschaft in Staat und Gesellschaft! Was der PCI ihr Einsatz bringt, wird in den Zeitungen diskutiert wie der Ausgang eines spannenden Hindernisrennens, bei dem die Toten dazugehören: Kehrt Moro zurück – compromesso storico. Wird er ermordet – Mitte-Rechts-Regierung. Zurückkehren darf er allerdings nur ohne Gegenleistung:

„Eine Demütigung des Staates würde den Weg nach rechts freimachen.“ (La Republica)

Andere sehen' s genau umgekehrt. Den naheliegendsten Einfall, daß es – ganz gleich wie es ausgeht – so weitergeht wie bisher, schreibt noch keiner hin, obwohl dies der allgemeine Eindruck der „nicht informierten“ Beobachter ist.

Wie die PCI den Staat retten will, haben wir in MSZ Nr. 13/1976 unter dem Titel „Kommunismus auf italienisch“ ausführlich dargestellt.

Wie die PCI den Staat retten will, haben wir in MSZ Nr. 13/1976 unter dem Titel „Kommunismus auf italienisch“ ausführlich dargestellt.


Ein Volk, viele Führer und wo ist der Staat?

„Das ist die Konsequenz eines Systems, das hinten und vorne nicht funktioniert. Wenn sie genauso entschlossen Gesetze in anderen Bereichen immer schon gemacht hätten, wie jetzt gegen den Terrorismus, wären weder wir noch Moro da, wo wir jetzt sind.“ XX(Ein römischer Kellner zu „La Repubblica“)

Die Schleyer-Entführung hat die westdeutsche Nation geschlossen hinter ihren Staat gebracht. Kein Kunststück, sie stand auch vorher schon dahinter. Die Begeisterung für Tat und Helden von Mogadischu waren nur ein besonders gelungener Höhepunkt im Einswerden von Staat, Regierung und Bürger. In Italien bestätigt die Moro-Affäre die Stellung der Bürger zu ihrem Staat: er taugt nichts. Hinter den populären Spaßen und Witzeleien über die mangelnde Effizienz der Staatsorgane, die angesichts der bisherigen Pleite bei der Fahndung nach Moro Hochkonjunktur haben, steckt nun keineswegs ein abgeklärtes Verhältnis der Italiener zu ihrem Staat. Lediglich die Formen, in der sie sich alles gefallen lassen, was der Staat ihnen zumutet, unterscheiden sich von den nördlich der Alpen üblichen, weil die Verhältnisse anders sind. Aus den negativen Erfahrungen haben die Italiener jene Klugheit gewonnen, die der sicherste Weg ist, aus ihnen nichts zu lernen. Die Kritik an der Regierung bewegt sich im Räsonnement für einen besseren Staat, in dem alles funktioniert, die Regierung (sprich: die Gewalt), die Wirtschaft (sprich: die Ausbeutung), die Kultur (sprich: die Verblödung). Im Grunde will jedoch keiner (außer den loyalen Parteigängern der PCI) einen anderen Staat als den existierenden, weil man sich in ihm dergestalt eingerichtet hat, daß man meint, gerade aus den „Schwächen und Disfunktionalitäten“ des Systems seinen privaten Vorteil herauszuschlagen. So akzeptiert man noch die größten Sauereien der Politiker, weil man darauf spekuliert, auch damit zurechtzukommen.

Nach vier Wochen Moro-Entführung schlagen die Italiener ihre Zeitungen wieder von hinten auf, wo die Chancen der Azzurri bei der Fußball-WM diskutiert werden und registrieren achselzuckend nebenbei, daß im Staate alles in Ordnung ist, auch ohne Moro: die Politiker machen Gesetze und die neugeprägten 200-Lire-Stücke sind auch schon wieder samt und sonders aus der Zirkulation verschwunden, noch ehe man sie in der Hand gehabt hat.

 

aus: MSZ 22 – April 1978

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