Die unheimliche Konsequenz des Terrorismus: DER STAAT SIND WIR!
Deshalb „gefährden die Terroristen unseren Staat“, eine Unwahrheit, die die Geschehnisse der letzten Wochen in jedem Schritt widerlegen, denn die RAF ist harmloser und brutaler zugleich. Sie greift den Staat nicht an: Weder ist die Regierung zurückgetreten, noch bricht das von Schleyer und seinen Verbänden vertretene Kapital zusammen; das Staatsvolk übertrifft seine Repräsentanten in der Forderung nach Entschlossenheit und Härte gegen Staatsfeinde jeder Art und der Rechtsstaat zelebriert in Stammheim unter den Augen internationaler Beobachter seine Prinzipien zum Beweis seiner Integrität und läßt sich dies einige Figuren kosten, die seiner Rechtsstaatlichkeit nicht mehr genügen. Der anarchistische(1) Angriff läßt den Staat unversehrt und hält sich an einigen von dessen Bürgern schadlos.
Während die Angehörigen erfahren müssen, daß zu dem Menschen, den der Staat schätzt, die Existenz nicht unbedingt dazu gehört, wird ihnen der Trost gespendet, daß deren Mörder schon längst keine Menschen mehr sind: sie „morden bestialisch“, mit „tierischer Grausamkeit“ , als ob jemals ein Verhaltensforscher in der Tierwelt Entführungen hätte entdecken können. Das Urteil, das der Staat und die ihm assistierende öffentliche Meinung über die Terroristen fällt, ist ein Urteil darüber, was den Menschen zum Menschen macht. Menschen sind es, die aber die Grenzen am anderen Menschen, die der Staat setzt, kontrolliert und verwaltet, und damit die Grenzen am Staat nicht achten, sie sind also keine. Eine Herausforderung an den Staat ist die Entführung und Ermordung Schleyers nicht gewesen, wohl aber ein Eingriff in dessen Befugnisse: derjenige, der bestimmt, wer ein Mensch und wer keiner mehr ist, will es sich vorbehalten, zu entscheiden, wann Menschenleben zu schützen und wann sie zu opfern sind. Das Gedeihen menschlicher Existenz zu fördern oder zu verhindern, kommt nur einem zu: er darf den Frauen bestreiten, daß ihr Bauch ihnen gehört, und seinem Arbeitsvolk die zumutbare Ruinierung ihrer Arbeitskraft diktieren. Er will vor allen Dingen den Punkt allein bestimmen, an dem der Mensch unmenschlich werden darf, wann das Erschießen anderer kein Mord mehr ist sondern eine „Befreiungsaktion“ und ein „Sieg der Demokratie“, die Liquidierung von drei Arabern der Erhaltung von Leben dient, wann die systematische Ermordung einiger Hundert oder Tausend sich völkerrechtlicher Anerkennung als Krieg erfreuen darf und Tötungsinstrumente Verteidigungswaffen sind. Von ihm hängt es ab, ob ein Staat, der am Sonntag noch als russenhörige Diktatur, die Terroristen aufnimmt, beschimpft wurde, sodaß sogar dessen Armut triumphierend als Beweis für die Minderwertigkeit dieser Nation einzustehen hatte, am Dienstag würdig erklärt wird, Entwicklungshilfe zu empfangen, die schon seit längerem in Form von Waffen und Ausbildung der Polizei geleistet wurde, was das nötigste ist, was zum Schutz der Menschenleben in einem der ärmsten Länder der Welt getan werden muß. Im Chor der EG-Staaten verurteilt unser Staat die südafrikanische Republik, weil ihr exzessiver Gebrauch der Schwarzen die Menschenwürde verletze, und läßt sich von der gesellschaftlichen Gruppe, die aus der Gleichbehandlung von Ungleichen Kapital schlägt (ihr Vertreter braucht hier nicht beim Namen genannt zu werden), erklären, daß das Recht des Gastlandes zu respektieren sei, daß das Ideal also nur dann zur Anwendung zu kommen hat, wenn anders die Benutzung der einen durch die anderen Menschen nicht zu garantieren ist. Und weil der Mensch nicht nur gleich, sondern vor allem auch frei zu sein hat, was nur in einem freien System so richtig geht, gestattet sich ein Biedenkopf in Vertretung dieser Ideale auch, die Wahrheit auszusprechen, daß diejenigen, die als Ziel des Wirtschaftens materiellen Wohlstand und nicht die Freiheit an die erste Stelle setzen, Umsturzgedanken pflegen und daß so etwas verboten gehört. (So die Kritik Biedenkopfs am CDU-Programm-Entwurf, bei dem versehentlich das Materielle vor die Grundwerte zu stehen kam).
Diejenigen, die solcherart herausgefordert worden sind, hatten deshalb vor allem eins zu leisten, in der staatlichen Antwort darauf dasjenige zu verbergen, was ihnen die Anarchisten zu bestreiten versuchen, wobei sie wieder einmal die eigentliche Kunst des Politikerberufs zur Anschauung gebracht haben. Waren die Forderungen der Anarchisten an diejenigen gerichtet, die die Macht haben, so mußten die Politiker ihre Pflichten in den Vordergrund rücken und mußten um die Erfüllung ihrer Aufgaben ringen wie die gesamte arbeitende Bevölkerung tagein tagaus. Die Angst der Geiseln im Flugzeug mußte im Gesicht der Böllings aufzufinden sein und bei der Befreiung mußte im Fernsehen die Last von deren Schultern fallen. Pausenloses Tagen der Krisenstäbe verleiht dem Geschäft der Entscheidung den Charakter von Mühe und Arbeit, die vor allem darin besteht, an den Erklärungen zu feilen – „Schmidt ist wieder pingelig bis aufs letzte Komma. Die Arbeit hat alle Beteiligten viel Kraft gekostet.“ – Erklärungen, deren Inhalt die Bekanntgabe war, daß die Politiker sechzig halbstarke Freiwillige losgeschickt haben, um unter Einsatz von deren Leben und dem der Geiseln die Herausforderung des Staates zu beseitigen. Weil also der Beruf des Politikers darin besteht, seine Macht über andere zum Einsatz zu bringen, und durch die Darstellung, daß sie mit den anderen leiden und ringen und hoffen, zu beweisen, daß es diesen Unterschied nicht gibt, und daß diejenigen, über die entschieden wird, es so wollen (dazu braucht man einen Charakter) deshalb gehört zum Geschäft der Entscheidung auch das des Dankens, der Totenklage und der Heldenverehrung. GSG 9 bekommt in Jeans und Lederjacken das Bundesverdienstkreuz an die Brust geheftet, denn ziviler, d.h. in Gestalt seiner Bürger und dennoch als Staat, hätte der Staat gar nicht zuschlagen können, und auf den Leichenfeiern wird noch einige Male gesagt werden müssen, daß der Mordanschlag nicht die im Sarg, sondern uns alle getroffen hat.
Terroristen dagegen sind Verbrecher, denn sie üben Gewalt, die ihnen niemand zugestanden hat, und jede staatliche Maßnahme beweist ihnen den Unterschied, den sie nicht wahrhaben wollen. Sie spielen Soldaten und der Staat hat Soldaten. Sie fingieren die Stellvertretung ihrer Verbrechen für andere, nennen sich Befreiungsbewegung eines Volkes, das sie ins Gefängnis bringen wenn nicht gleich erschießen will – die Politiker haben ein Volk, das sie wählt und ihre Taten gegen die RAF akklamiert. Sie brauchen Gewalt, um ihresgleichen aus dem Gefängnis zu holen, sich selbst dem staatlichen Zugriff zu entziehen, nurmehr um sich zu erhalten – die Politiker üben Gewalt als ihr Amt, was ihnen gewöhnlich ein langes und von harter Arbeit befreites Leben garantiert, und sie darüberhinaus in den Genuß allgemeiner Wertschätzung bringt.
Der Nationalstolz tobt sich aus am Beispiel Japan, das seinen Terroristen „nachgegeben hat“ und findet den Grund für diese bedauerliche Schwäche des japanischen Staates in dessen Volk: „weil die öffentliche Meinung sich noch ungefähr dort befindet, wo die Bundesrepublik zur Zeit der Lorenz-Entführung vor zwei Jahren stand.“ Zwar hat der deutsche Staat seine öffentliche Meinung fest hinter sich, aber dessen hat man sich immer von neuem zu versichern und Charakterlosigkeiten folgender Art entgegenzuwirken: ,,Mancher frühere »Scharfmacher« war in den letzten Tagen schon am Umschwenken zur Nachgiebigkeit“. Dem Volk, und vor allem den Angehörigen, wenn sie zu penetrant auf der Rettung ihrer Lieben bestehen, muß eingehämmert werden, daß sein Staat nicht anders kann als er will. Was angesichts des Ausgangs der Befreiungsaktion der 86 nicht schwerfällt und auch die Tatsache vergessen läßt, daß die Handgranaten der Entführer nur durch Zufall nicht an anderer Stelle explodiert sind. Für den Fall hätte die Zwangsläufigkeit des Opfers aber auch nur leicht modifiziert werden brauchen, wie es bereits die gemeinsame Erklärung des großen Krisenstabs vorformuliert: „Wir haben so gehandelt, weil wir die Gesamtheit der Bürger zu schützen verpflichtet waren. Indem wir uns so entschieden haben, waren und sind wir sicher, daß wir auch zum Schutz des Lebens des Einzelnen das Richtige getan haben.“ Derjenige, der das Menschenleben schützt, darf es auch opfern, um es zu schützen, weshalb er sich mit Menschenleben nicht erpressen läßt.
Wenn also der Staat seine Gefährdung durch die Terroristen an die Wand malt, dann nicht, weil er in Gefahr wäre: Was ihm Sorge bereitet, ist, daß er nicht mehr der alleinige ist, der derartige Entscheidungen fällt, daß ihm sein Gewaltmonopol in seiner Gesellschaft streitig gemacht und die Anerkennung, als einziger dazu berechtigt zu sein, von einigen der ihm Unterworfenen verweigert wird, Mit der groß angelegten Beschwörung der terroristischen Gefahr beginnt die Suche nach Leuten, die nicht wie die anderen glauben, daß ihr Staat für sie da sei, und ihm deshalb die. Entscheidungsgewalt über sich überlassen, sondern ihm Vorwürfe machen, er ließe es an Sorge um das Wohlergehen seiner Bürger fehlen und zeichne sich überhaupt durch einige Pflichtvergessenheiten gegenüber seinen eigentlichen Aufgaben aus. In seinen kritischen Liebhabern entdeckt der Staat den geistigen Nährboden. Weil es die Versagung der Anerkennung ist, gegen die er vorgeht, muß der Nährboden ein geistiger sein. Die Form theoretischer Mißbilligung, wie sie in demokratischen Institutionen gepflegt wird, die umständliche Verpflichtung auf den Staat, die ihn an seinen besseren Möglichkeiten, Aufgaben und Idealen mißt, wird angesichts des Fehlens anderer Sorten von Kritik als Vorschule des Terrorismus dingfest gemacht. Um die Bombenleger zu erwischen, soll jeder Gedanke ausgerottet werden, dem das Bekenntnis zum Staat nur mit „Wenn“ und „Aber“ gelingt. Darin, daß es an den „Köpfen“ der Leute liegen muß, wollen sie ihre Staatsbürgerpflichten nicht ordentlich wahrnehmen – beweist doch die Herkunft der Terroristen aus Nicht-Arbeiterfamilien schlagend, daß diejenigen, die Gründe hätten, sich gegen ihre Existenzbedingungen zur Wehr zu setzen, dies nicht tun, also keine Gründe dafür haben –, darin, daß es also nur um geistige Verwirrung und Verführung geht, wenn es im Volk an Gehorsam mangelt, sind sich die Parteien einig. Mit einer Differenz: Während den einen das Austrocknen des Nährbodens zu weit geht, nämlich bis an die eigene Basis – gehört doch die produktive Unzufriedenheit mit der Ausschöpfung der staatlichen Möglichkeiten zur Ausbildung des ordentlichen Reformisten –, geht es den anderen nicht weit genug, nämlich nicht bis zur Entlarvung der heimlichen Sympathisanten oder doch zumindest der Unterlasser in den Regierungssesseln, sodaß im Streit darüber, wo das Sympathisantentum beginnt, letztlich doch wieder Einigkeit besteht. Den richtigen Staatsmännern, denen, die dem Volk am effektivsten Kritik austreiben, und es auf seine Unterwerfung unter die Staatsgewalt verpflichten, gebührt die Macht. Sowenig es den Anarchisten um eine Veränderung der Gesellschaft, um Revolution und Zerschlagung des Imperialismus geht, sowenig geht es dem Staat um die Menschen, oder vielmehr so sehr geht es dem Staat um den Menschen. Denn so einer wird, wie es die bürgerliche Moral in all ihren wissenschaftlichen Verkleidungen predigt, nur der, der im Gegensatz zum Vieh sich zu beherrschen weiß, der seine Interessen und Bedürfnisse zurückstellt und auch in seinen Äußerungen deutlich macht, daß es nicht um ihn sondern um uns alle zu gehen hat und unseren Staat.
Und das Volk spielt die ihm zugedachte Rolle bisher nicht schlecht.
Die öffentlichen Institutionen haben auch begriffen, was ihre Pflicht ist, und gehen nach dem Selbstlob über ihren staatsbewußten Umgang mit der Nachrichtensperre zur Aufklärungsarbeit über. Das „bleiben Sie am Gerät“ wird zum Prinzip der Programmgestaltung, während Jerry-Lewis-Filme die fernsehende Bevölkerung in momentan unzulässiger Weise in ihrem privaten Vergnügen belassen würden, sind Fußballspiele in der Kombination mit Staatsagitation und Fahndungshilfe gerade tauglich, die Leute vom Fernseher nicht wegkommen zu lassen. Wobei auch die Sportreporter mit belegter Stimme noch daran erinnern, daß die Freude über die Siege des deutschen Fußballs im Ausland den nationalen Pflichte, deren Erfüllung jetzt ansteht, zu dienen hat.
Er sammelt Ergebenheitsadressen und Selbstbeschuldigungen aller der Wissenschaftler, deren sozialwissenschaftliche Verherrlichung seiner Funktionen als deren Problematisierung den schuldigen Respekt vermissen lassen, und in Sonderfällen geht er gleich dazu über, ihnen die Bekenntnisse vorzulegen, die sie zu unterschreiben haben. Die Einseitigkeit des Pluralismus wird diktiert und stellt offen und unüberhörbar klar, daß an den Hochschulen nicht Wahrheit zu gelten hat, sondern Linientreue.
über dieser Generaloffensive auf polizeiwidriges Denken in allen Winkeln der Gesellschaft hätten wir die tragischen Vorfall fast vergessen, die doch nach Aussagen aller Zuständigen überall Trauer und Erschütterung bzw. Freude und Erleichterung hervorrufen. Allerdings nicht über das, was dort geschehen ist. 1. Mogadischu: Die Rettung der Menschenleben durch Soldaten beruhte auf dem Glücksfall, daß Terroristen eben doch keine Soldaten sind, und umgekehrt Soldaten die einzigen sind, die mit gutem Gewissen und Perfektion Leute umbringen können. Für unseren Staat ist dies ein Siegesfanal, nicht Grund zur Freude über die Rettung, sondern Anlaß für einen Staatsakt mit Deutschland-Lied und Ordensverleihungen. Die Witwe des einzigen zu beklagenden Opfers konnte zur Mitwirkung bei der Siegesfeier gewonnen werden und durfte dort hören, daß ihr Mann sinnvoll, als Vorbild für die Jugend gestorben ist, was ihr vielleicht, mit einer Ehrenrente verbunden, einleuchten mag. 2. Schleyers Tod hat noch viel mehr Sinn, durfte er doch sein Leben für das opfern, wofür er zeitlebens war. Die Gewerkschaft bestätigt ihm, daß der Mensch Schleyer intakt war, entschuldigt sich nachträglich für „Fehldeutungen“ und ein „einseitiges Bild“, das „in diesen Stunden zurechtgerückt wurde“, und gibt dem Arbeitgeberpräsidenten so noch die Hoffnung mit ins Grab, daß die demokratische Gewerkschaft auch seinem Nachfolger keine Schwierigkeiten in den Weg legen wird. Hier ist der Mensch Schleyer zwar tot – aber seine Funktion lebt weiter. 3. Bei der Begutachtung der Selbstmorde in Stammheim schließlich wenden die Herren Politiker ihr Prinzip an: Zwar sind die Menschen gestorben, aber der Sinn ihres Todes, mit dem sie sich noch gegen die Vollstreckung des Rechts zur Wehr setzen, ist der Angriff auf den Staat und Signal für weiteren Widerstand. Der Tod des Menschen Terroristen steht im Dienste des Amtes Terrorist und dies ist eine besondere Niederträchtigkeit von Leuten, die noch nicht einmal im Sterben wissen, was sich gehört, und sich dabei Dinge erlauben, die nur im Dienste des Staates gestattet sind. Usw. So liefert jedes Detail der westdeutschen Terrorismusbewältigung den Beweis dafür, daß der Klassenkampf nicht obsolet geworden ist. Zumindest auf einer Seite lebt er munter fort – und nur eine auf den Hund gekommene Linke hält die politische Demokratie nicht für das Mittel ihrer Feinde, sondern für einen Wert, dem dieser Tage nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt wird.
aus: MSZ 19 – Oktober 1977 |