Japan Das gelbe Wirtschaftswunder (II)
Der Kapitalismus in Japan setzt ein mit der Entscheidung der Feudalklasse, ihn zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung, also auch gemäß ihrer besonderen Vorstellungen, zu machen. Die Bedrohung der japanischen Wirtschaft, als die Kriegsschiffe der imperialistischen Großmächte an ihren Häfen anpochten und auf Einbezug Japans in den Welthandel drängten – wobei die traditionellen wirtschaftlichen Formen der intendierten Auspowerung nicht standhalten konnten –, ließ sich durch Absperrung der Grenzen nicht beseitigen, sondern beschwor nur die sofortige Besetzung herauf. Wie es in den Geschichtsbüchern immer so schön heißt, orientierte sich die herrschende Klasse nun nach dem Vorbild der bis dato so verhaßten Fremdlinge – d. h. sie beschloß, diese auf dem Weltmarkt mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, ihnen also wirtschaftlich und militärisch außerhalb des eigenen Landes entgegenzutreten. Dazu brauchten sie, wie jedermann sonst auf der Welt, drei Dinge: einen Staat, eine Armee und eine Wirtschaft. Die Herstellung einer einheitlichen staatlichen Gewalt, der einige Kämpfe innerhalb des Feudal-Clans, die Japan in verschiedene Hoheitsgebiete aufgeteilt hatten, vorausgehen mußten, war ohne Drumherum dem Zweck unterworfen; die benötigten Steuersummen einzutreiben – was zugleich das wünschenswerte Resultat einer verproletarisierten Landbevölkerung zeitigte –, eine Polizei und eine Finanzverwaltung aufzubauen, sowie die allgemeine Wehrpflicht zu verkünden und durchzusetzen. Die Staatsgelder wurden für den Aufbau einiger Schlüsselindustrien verwendet: Diese Industrien fußten auf der vorhandenen bzw. in den Nachbarländern schon antizipierten Rohstoffbasis – Eisenproduktion, Eisenverarbeitung, Textil, für Kriegsgerät notwendige Technologie – und brachten die gleichzeitig verfolgte Aufrüstung damit wunderbar in Einklang. Daß der Krieg der Vater aller Dinge ist, ist für den Japaner schon darum eine Selbstverständlichkeit, weil er zum Aufbau der Wirtschaft und Aufrechterhaltung der militärischen Vormacht im asiatischen Raum laufend geführt wurde, der Versuch, in einem eroberten Land einen Absatzmarkt aufzubauen, immer schon den Sprung über die Grenzen dieses Landes beinhaltete. Die nur teilweise aus ihrem Feudaldasein gerissenen Massen, noch vollständig in ihren traditionellen Lebensformen verhaftet, ließen sich dafür bestens als absolut willfähriges Arbeitsmaterial und Kanonenfutter, das um seiner bedingungslosen Treue zum Kaiser zu sterben meinte, einsetzen. Spätestens mit der Besetzung Chinas wurde der Konflikt mit den USA unausweichlich. Der Zusammenprall zweier, auf unterschiedlicher Basis, imperialistischer Staaten geriet in die kritische Phase mit der von den USA verhängten „Quarantäne“, deren wesentlicher Inhalt ein Öl- und Schrottembargo war. Die USA hatten selbst ein Interesse an der von den Japanern militärisch beherrschten Sphäre, die Japaner wiederum, die mit den USA umfangreiche Handelsbeziehungen aufgenommen hatten und darin eine gewisse Abhängigkeit notgedrungen auf sich nahmen, wollten sich aufgrund ihrer sehr einseitig ausgerichteten Wirtschaft diese Erpressung nicht gefallen lassen. Ihre folgenschwere Überlegung war einfach und logisch: die Kriegswirtschaft konnte nur weiterexistieren, wenn der Krieg weiterging – oder umgekehrt: die Vorstellung, die kriegerische Expansion an der Vormacht der USA scheitern zu lassen, war unvorstellbar, hätte sie doch Zusammenbruch dieser nur über gewaltsame Eroberung neuer Märkte sich erhaltenden Wirtschaft bedeutet. Der Angriff auf Pearl Harbor erfolgte also unter dem Kalkül, daß die USA mittlerweile auf dem europäischen Kriegsschauplätzen gebunden waren (1) und daß durch einen einzigen massiven Schlag die gesamte, die japanische Militärmacht bedrohende US-Seewaffe vernichtet werden konnte. Das Resultat ist bekannt: die militärische Überlegung erwies sich als vollauf richtig (2 Jahre lang waren die Amis in der Defensive), doch von der geheimnisvollen Stärke der amerikanischen Ökonomie hatten die Japaner eben keine Ahnung. (2)
Nach dem Krieg und nachdem die Interessenfrage geklärt war, machen die Japaner weiter wie bisher – zunächst jedoch ohne Militär. Die „kommunistische Bedrohung“ des „asiatischen Raums“, der die USA mit dem Korea-Krieg nur vorläufig Herr wurden, heizte die aufgehende Freundschaftssonne zwischen den ehemaligen Blutsfeinden kräftig auf. Gerade weil nun feststeht, daß der Ferne Osten politische Sphäre der USA ist, diese zugleich jedoch kein vordringliches ökonomisches Interesse an ihr haben, bietet sich Japan als Ordnungsmacht an. Dies setzt voraus, daß es wirtschaftlich wieder einigermaßen auf die Beine kommt, also den Amerikanern nicht auf der Tasche liegt und auch tatsächlich eine gewisse Macht darstellt. Es beginnt die völlige Wiedereinsetzung der Familien-Clans in ihre angestammten wirtschaftlichen und Staatsrechte. Die gefällte Entscheidung, auf gehabte Art weiterzumachen, beinhaltet freilich eine wesentliche Neuheit: die wirtschaftliche Expansion entschlägt sich ihrer militärischen Seite und verfährt streng friedlich. Die Wiederinbetriebnahme der Schwerindustrie muß also mit dem Manko auskommen, die bislang mit Gewehren eingetriebenen Rohstoffe mit harten Yen aufzutreiben. Unabhängig vom Zwang aber, auf der bestehenden produktiven Basis aufzubauen, ist dem Kapital diese Entscheidung eine Selbstverständlichkeit –? es entsteht also nicht das Problem, daß es sich zu irgendeinem Wagnis durchringen muß –, sind doch die einzigen Rohstoffe, die in Japan einigermaßen ausreichend vorhanden sind, diejenigen, die zur Stahlherstellung gebraucht werden. Dies ist allerdings nur eine Bedingung, die nur deswegen den Anfang des japanischen Wirtschaftswunders wesentlich mit gestaltet, weil sich diese im Weltmaßstab sehr beschränkte Basis mit Hilfe der Arbeiterklasse, die nur als eine unter das internationale Niveau der Arbeiterklasse zu drückende interessiert und dies auch selbst mitmacht, zu einer neuen, phantastischen Waffe auf dem Weltmarkt schmieden läßt: diesem fehlt es infolge des Krieges an Fahrzeugen (insbesondere LKWs) und Schiffen – und die Japaner selbst müssen nichts mehr von dem ganzen wertvollen Material für die Rüstung verbrauchen, die Arbeiter werden nicht mehr als Soldaten gebraucht.
Die auf Basis ihrer Rohstoff- und sonstigen Produktionsmöglichkeiten, sowie der genauen Einschätzung des Weltmarktbedürfnisses getroffene Entscheidung, führt zu einer ungeheuerlichen Anspannung aller nationalen Kräfte, was sich manifest in den Ziffern über Stahlproduktion, Eisenlegierungserzen und in KFZ- und Schiffexportziffern ausdrückt. Nicht zuletzt als Resultat der eigenen Anstrengungen im Krieg verfügt Japan wieder reichlich über Schrott, den man entweder im eigenen Land oder billig auf den Nachbarmärkten vorfindet. (Mittlerweile hat man mit Australien langfristige Erzlieferverträge abgeschlossen.) Insbesondere die Werftindustrie nimmt einen überragenden Weltmarktanteil ein: es gelingt den Japanern, sich an einem zentralen Punkt des wiederauflebenden Welthandels festzusetzen. Wie es sich für eine Ordnungsmacht gehört, haben sie den südost-asiatischen Markt (Philippinen, Indonesien, Malaysia) bald fest im Griff, Länder wie Taiwan, Thailand und Korea befinden sich in völliger Abhängigkeit. Die bescheidenen Ansprüche solcher Märkte kommen ihnen zunächst entgegen, da sich hier mit bescheidenen Konsumgütern und Halbprodukten (insbesondere Stahlbleche) schönste Erfolge erzielen lassen.
Dumm sind sie nicht, die Japaner. Als sie sich mit diesen Märkten expansionsfähig gemacht haben und die eigene Rohstoffgewinnung an Grenzen stößt (deutlicher Rückgang etwa ab 1960), spielen sie der Emsigkeit ihrer Arbeitsameisen zweiten Teil aus: die Zweiteilung des Kapitals in Superkonzerne und Winzigkapitalisten, die wesentlich in Heimarbeit fertigen lassen und von allen Seiten zu niedrigsten Preisen nebensächlichste Einzelteilchen herbeitragen, ist ihnen eine ausgezeichnete Basis, den Ausbau der höheren Technologien zu betreiben. Hauptangriffsland dieser zweiten Offensive – auf hohem Niveau stehende Konsumgüter – sind die USA, unter deren Schutz sie stehen, den sie auch für sich ausnutzen. Die Mischung aus Autos, Schiffen, sonstigen Stahlprodukten und gehobenen Konsumgütern verhilft ihnen zu einem massiven Einbruch auf dem amerikanischen Markt – den diese bis in die letzten Jahre aus politischen Gründen dulden und aus Gründen ihrer ökonomischen Potenz wegsteckten –, während sich die Auseinandersetzung mit den europäischen Industriestaaten (allen ideologischen Kampagnen zum trotz) auf bescheidenen Niveau bewegen. Außerdem treffen diese Offensiven auf Kapital, das genügend widerstandsfähig und diversifiziert genug ist, kleinere Verluste an anderer Stelle zu überkompensieren. Die Beschränktheit dieser zunächst auf einer sehr einseitigen Produktionsweise aufgebauten Weltmarktexpansion zeigt schließlich auf dem fremden Markt ihr anderes Gesicht. Die Rabiatheit, mit der die Japaner ihre für sie lebensnotwendige Spezialisierung durchzusetzen versuchen, trifft auf zunehmenden Widerstand, zumal wenn es sich um heimische oder neu erschlossene Weltmarktsphären handelt, die unmittelbar ins eigene Staatsinteresse fallen. Die USA, denen die EG hilfreich zur Seite steht, sehen nicht länger ein, warum sie sich von den Japanern, deren politische Bedeutung längst nicht mehr dieselbe ist, für sie zunehmend wichtige Geschäfte ruinieren lassen sollen, und erörtern die Debatte über den möglichen Handelskrieg. Die Beschränktheit dieser Expansion zeigt ihr anderes Gesicht auch in der rücksichtslosen Zurichtung des eigenen Landes. So ist Japan zwar ein Exportland – aber nur auf den beschriebenen Gebieten. Der Zahlungsbilanzsaldo hingegen ist negativ während der gesamten Zeit des Wirtschaftswunders: das Minus kommt zustande durch den Zwang, die erwirtschafteten Devisen erstens für die wichtigste Energiequelle auszugeben – das Erdöl, auf das man, wenn man massenhaft und billig produzieren will, nicht verzichten kann, was aber mit den Preiserhöhungen zu einer schweren Hypothek geworden ist –, zweitens zur Sicherung der Primärversorgung, die ja im eigenen Land nicht betrieben wird, und zwar nicht, weil man sie vergessen hatte. Japan importiert also einen beträchtlichen Batzen an Nahrungsmitteln, darunter auch Fisch, obwohl es selbst die größte Fischereiflotte der Welt hat (das hat man davon, wenn man die Massen auf zwei Nahrungsmittel reduziert); außerdem Rohholz, wobei der steigende Bedarf im Verein mit dem Bedürfnis nach anderen Rohstoffen ein treibendes Motiv der „gutnachbarlichen“ Beziehungen zu den übrigen ostasiatischen Staaten war und noch immer ist.
Natürlich kommt der japanische Staat nicht auf die Idee, daß der Widerspruch zwischen absoluter Exportorientierung und gleichzeitigem Zahlungsbilanzminus sich seiner eigentümlichen Wirtschaftsverfassung verdankt (3), sondern nur darauf, daß eben noch mehr exportiert werden muß. Zwischenzeitlich befindet sich Japan in einer Schuldnerposition, die jedoch aufgrund seiner massiven Verwicklung in den Welthandel keinen Schaden bzw. Verlust der Kreditwürdigkeit nach sich zieht, und produziert im Innern eine Inflation, die sich gewaschen hat und den Proleten das letzte bißchen Fell über die Ohren zieht. Diese Verelendung der Massen, die schon nah an ihre Ruinierung heranreicht, ist freilich – solange die Massen sich nicht rühren – nicht der Grund, daß der Staatskapitalismus eine Reform seiner Produktionsstruktur beschließt. Er erklärt sich den negativen Zahlungsbilanzsaldo mit ungenügendem Wachstum und zuwenig Export, also genau mit den Erfahrungen seiner Kapitalisten auf dem Weltmarkt: diese müssen feststellen, daß man sich auf dem Weltmarkt schließlich, doch nicht mit einigen bestimmten Produkten allein durchsetzen kann bzw. daß die Kapitalisten andere Länder sich dem Konkurrenzdruck nicht nur entziehen, sondern sogar größere Erfolge auf immer neuen Gebieten zu erzielen wissen. Wieder ist die Schlußfolgerung bestechend japanisch: die Konkurrenz muß in allen Sphären aufgenommen werden, wenn die anderen auf neuen Märkten und mit Kapitalexport bessere Geschäfte machen, muß man ihnen da sofort nach gehen und dasselbe, nur eben billiger, machen. Hiermit beginnt die Phase der wirklich tiefen Verstimmung, denn nun werden die Japaner richtig lästig, tauchen sie doch an allen Ecken und Enden auf und sind gestählt im lebenslangen Kampf um die Preisunterbietung – ein schwer zu schlagender Konkurrent auf Gebieten, die man bislang als relativ geschützte Domäne für sich glaubte. Für das Innere hat das die Konsequenz, daß eine staatlich betriebene Diversifikation der Produktion eingeleitet wird, daß der Staat also nicht auf Bereitstellung von Infrastruktur sich beschränkt, sondern diese im Zuge des Aufbaus neuer Industrien nachfolgen läßt. Äußerlich gleicht Japan sich damit dem Bild ,,westlicher Industriestaaten“ an, doch der Grund dieser Reformierung ist und bleibt ein anderer, weswegen auch in Zukunft noch einiges über die seltsam aggressive Mentalität der fernöstlichen Wundermenschen zu schimpfen sein wird. Die Japaner werden ihrerseits dasselbe von den Westlern behaupten – japanisch umgedreht halt. Verstärkt durch die sicher erheblichen Schwierigkeiten, die der Aufbau neuer Industrien im Innern mit sich bringt, glauben sich die japanischen Kapitalisten in der Defensive und angeschlagen – was bekanntlich zu gefährlichen Temperamentsausbrüchen führt –, doch die Konkurrenten werden ihre Anstrengungen schon als das zu würdigen wissen, was sie sind: die dritte Offensive des japanischen Kapitals. ___________________________________________ (1) Diese Überlegung ist nicht nachvollziehbar, da der Eintritt der USA in den II. Weltkrieg erst nachher und wegen des Angriffs auf Pearl Harbour erfolgte. Richtiger wird es wohl so sein, daß Japan damit rechnete, daß die USA sich dann in Zukunft zwangsläufig auch in Europa engagieren müßten und keinen Zweifrontenkrieg gewinnen würden. (2) Dieses Gerede von „Ahnungslosigkeit“ und „Geheimnis“ mystifiziert die Berechnungen derjenigen Macht, die da gerade einen Krieg vom Zaun bricht. Die japanische Regierung und Armee setzten darauf, daß sie durch besondere Rücksichtslosigkeit sowohl gegenüber dem eigenen Kanonenfutter als auch gegenüber jedem Kriegsgegner ökonomische Rückständigkeit wettmachen und die Versorgung statt aus dem eher mageren Hinterland durch Plünderungen der unterworfenen Landstriche sichern konnten. Der bisherige Verlauf des Krieges hatte ihnen recht gegeben, sodaß sie den Angriff auf die USA für perspektivenreich hielten. (3) Diesem negativen Urteil („kommt nicht drauf“) liegt eine etwas eigenartige Auffassung von politischen Kalkulationen zugrunde. Die zeichnen sich offenbar durch Begriffsstutzigkeit aus, und ihre Ahnungslosigkeit führt dann zu Kriegen und Exportoffensiven, sozusagen als Verlegenheitslösung.
aus: MSZ 30 – Juli 1979 |