Der neue Philosoph Andre Glucksmann

Meisterkoch als Denkerfresser


„Es gibt Leute, die ihre Bücher in ihre Bibliothek stecken, Herr Glucksmann aber steckt seine Bibliothek in seine Bücher.“ (Chamfort)

„Schlank und schlaksig“, ein „Beau in jeans“ macht derzeit hierzulande ein Geist aus Frankreich unter dem Strich in den Zeitungen Schlagzeilen und bereichert die nächtlichen Diskussionen frustrierter Seminarmarxisten mit Gesprächsstoff zu einem alten Thema, das der Klappentext seines jüngst erschienenen zweiten Opus erfreulich klar präzisiert:

„Welche Verantwortung übernehmen die, die denken, für das, was die Geschichte aus ihren Gedanken macht?“

Während die Antwort, die der Bundespräsident neulich auf einem Philosophenkongreß auf diese Frage gab, sich durch Klarheit und Bestimmtheit auszeichnete, beweist der Meisterdenker aus Paris seine Berufung zum Philosophen darin, daß er die Antwort umständlich verdolmetscht, was sich für ihn immerhin mit dem Interesse bezahlt macht, das seine Person dadurch gewinnt:

„Er ist der absolute Publikumsliebling, so jung, so schön, und jeder ist hin, wenn er unter seinen langen Fransen hervorblickt und mit leiser Stimme so großes zu ganz simplen Sachen sagt“,

wußte eine Zeitung den Leserbrief einer Verehrerin zu zitieren, die dabei sicher an folgende „Entschlüsselung“ von Marx dachte:

„Man setze an die Stelle von »barer Zahlung« »Waffenentscheidung«, an Stelle von »Krisen« »große Gefechte«, und schon entdecken wir, wonach Marx sich sehnte: nach der Sonne von Austerlitz und dem Abend von Waterloo.“

Mit der widerlichen Eitelkeit eines Produkts der Ecole Normale Superieure kokettiert Glucksmann mit dem Verzicht auf Argumente, an deren Stelle wilde Assoziationen von literarischen, geschichtlichen und philosophischen Exkrementen der Glucksmannschen Rezeption der Geistesgeschichte treten, wie es ihm gerade für seine Agitation in den Kram paßt.

(Für den Fall, daß es jemandem gelingen sollte, zur Nachprüfung dieser These das oeuvre dieses Denkers durchzulesen, ohne daß sich ihm zwischendurch die Frage aufdrängt, wer hier eigentlich besoffen ist – Leser oder Autor – hat die MSZ als Preis nicht nur einen kostenlosen Jahrgang der MSZ 1970 (1) ausgesetzt, sondern auch das feste Versprechen, daß der Gewinner keinen gemeinsamen Tag an der Seine mit dem Autor verbringen muß.)

„Das Wahre ist Subjekt, sagt Hegel, jedes Handbuch der Philosophie weiß das. Es bedeutet auch: das Subjekt ist Wüste, die Wüste ist Subjekt; Nietzsche hat das erraten, überlassen wir uns der Mode, ersetzen wir »Subjekt« mit »Motor der Geschichte« oder irgend etwas, was noch mehr in Mode ist und bekommen dann: die Verwüstung ist der Motor der Geschichte (oder irgend etwas sonst, was an Stelle von Wüste steht). Wäre es möglich, daß die Wahrheit der Meisterdenker verwüstend ist? Daß sie die kommenden Wüsten in sich trägt und aufgenommen hat?“

Dem aufmerksamen Leser wird bei aller Mühe mit dem Verständnis beim Durchqueren dieser geistigen Wüsteneien nicht entgangen sein, daß die letzte Frage keine Frage war, wie auch die Beantwortung der folgenden – „Was brauchen diejenigen, die heute den Weg zur Macht einschlagen, mehr als gute Soldaten, Schnaps und Wurst?“ eigentlich den auf 301 Seiten geführten Nachweis erübrigt, daß alles, was in der abendländischen Geistesgeschichte Rang und Namen und damit das Pech hat, von Glücksmann der Aufnahme in sein Machwerk für würdig befunden zu werden, sich nur einem Gedanken gewidmet hat, der „Wissenschaft vom Polizeistaat“. Daß die Betätigung des Verstandes die Gewalt ist, die den Leuten den rechten Gebrauch ihres Verstandes gemeinhin beibringt, gelingt G. an jedem zu demonstrieren. Mittels einer Denunziationstechnik, die die gesamte Geistesgeschichte unter den G.schen Richterspruch subsumiert, als Gedanke Gewalt zu sein, stellt G. die Gewalttätigkeit seines eigenen falschen Denkens als seine Originalität zur Schau.

„... weil Abstrahieren, Begreifen eins ist: »Beherrschen« (Hegel). Die Meisterdenker haben immer nur die vorsichtigen, subtilen und endlosen Kommentare vom Standpunkt der Herrschenden aus vorgenommen: in ihren Augen hat der Beherrschte, in seine Besonderheit eingeschlossen, keinen Gesichtspunkt.“

Der einzige, der Gnade vor G.’s Augen findet, ist Sokrates, der schon im Athen der Sklavenhalter die demokratische Wissenschaft gepflegt haben soll und deren angebliche Selbstrelativierung G. an der klassischen Philosophie und dem Marxismus vermißt. Deshalb rammt er die idealistische Lüge, daß Geschichte eine des Denkens sei, kurzerhand mit dem Kopf in den Boden, um die Vernunft als Urheberin sämtlicher Greueltaten der Geschichte denunzieren zu können. Da jedes Denken im Grunde darin besteht, Herrschaft auszuüben, erhebt G. mit dem Hinweis auf die angeblichen Folgen des Denkens, die er in KZs und GULAGs ausmacht, die Gegnerschaft gegen jedes Argument zur moralischen Verpflichtung der Intellektuellen. „Vernunftbeleidigung = Staatsbeleidigung“, weshalb dem Denken schleunigst nur ein Zweck anzugewöhnen ist: gegen das Denken zu agitieren.

Die von G. praktizierte Sorte von gespreiztem Intellektualismus setzt sich einzig für den „Nachweis“ ein, daß Wissenschaft etwas Furchtbares ist und macht sich auf diese Weise als intellektuelle Hilfstruppe der Gewalt dienstbar, die zur Zeit dazu übergeht, die mit dem Denken eingenommene Stellung zur Welt überhaupt als eine Gefahr zu beargwöhnen und auszurotten, weil sie eine Distanz zum objektiven Geschehen zuläßt, die man sich nicht mehr leisten will. Deshalb reicht denn auch G.’s mit feuilletonistischen Wissensbrocken angereicherter antiintellektueller Amoklauf aus, um in der Öffentlichkeit als intellektuelle Leistung Anerkennung zu finden und liefert so ein schönes Beispiel für die Durchschlagskraft der Dummheit, die die Parteilichkeit für die herrschende Gewalt hervorbringt. Im übrigen ist Antiintellektualismus, die Propaganda der Irrationalität, die G. betreibt, immer noch zu einem Schlag gegen den Feind im Osten brauchbar:

„Texte dienen nicht nur der Machtausübung, sie sind diese Machtausübung selbst.“ „Mit anderen Worten: keine russischen Lager ohne Marxismus, er verflüchtigt den Grund, der es erlauben würde zu sehen, wie die Lagerwelt Schritt für Schritt um sich greift. Dieses schon in der Tugend angelegte Gift, diese Kunst des Augenschließens, diese Technik des Blindwerdens wurde nicht wahrgenommen.“

Vorsicht! Marxismus macht blind, krank und tot! Und wer es immer noch nicht glaubt, dem sagt G., daß Kommunismus nichts anderes ist als Faschismus, zumal auch Hitler ein Buch geschrieben hat:

„Dabei ließ man nur in Vergessenheit geraten, daß Stalin und Hitler mit dem Text in der Hand Gehorsam fanden.“

Die alte Kamelle des Antikommunismus, den Kommunismus als Faschismus zu entlarven, verfeinert G. auf französische Art damit, daß man das eigentliche Übel, das KZ und russische Lager möglich macht, übersehen habe – den Text,

„denn nur die Macht in jedem sagt, ich weiß“.

Und so liefert der nouveau philosophe den Intellektuellen, die wie er frustriert von den Barrikaden des Jahres ’68 heruntergeklettert sind, das Grundrezept für ein ebenso aufgeblasenes wie unverdauliches Souflé: sie haben ihre für den Sozialismus schwärmende Vergangenheit endlich zu bewältigen, indem sie sich Enthaltsamkeit in Sachen Denken auferlegen; denn diese Enthaltsamkeit ist der eigentliche Widerstand gegen die Gewalt, die sagt „ich bin die Macht, weil ich das Wissen bin.“ In der Wahl des Vorbilds des Widerstandes, der den „Messerstichen des Begriffs entgeht“ offenbart er seine Vorliebe für Sträflinge als Inkarnation des „unterdrückten Volkes“, kann man doch „in den Wunden der Plebs die Wahrheit entdecken“. G. verherrlicht nicht nur das Leid derjenigen, die in Lagern dahinvegetieren, weil man an ihnen so unmittelbar die Gewalt sehen kann –

„Es genügt die Augen auf die geschundenen und doch so standhaften Körper der Plebs zu richten“ –

sondern stilisiert ihre angeblich gedankenlose Leidensnatur zum Mahnmal für die Hybris der Intellektuellen, die sich je schon „in Thelema, träumend, theoretisierend, terrorisierend“ befinden.

Insofern werden auch alle diejenigen, die nichts zu lachen haben, zur Inkarnation der Menschenwürde. Proleten, die sich in ihr Dasein fügen müssen, erhalten die Ehre, sich nicht korrumpieren zu lassen. Ausgebeutet sein heißt, nicht zum Unterdrücker werden zu wollen.

„… der im Westen lebende Proletarier hat stets zu irgendeinem Moment beschlossen er selbst zu bleiben und nicht Aufseher oder Spitzel zu werden.“

Da sein Herz so für die Arbeiter schlägt, ist es auch begreiflich, warum er sich für Solschenizyns faschistisches Lob der Arbeit begeistert:

„Leicht verdientes Geld hat kein Gewicht, man spürt gar nicht, daß man dafür gearbeitet hat.“

Man darf sich nicht der Dummheit in den Weg stellen, sondern hat durch ihre Verbreitung dem allgemeinen Glück das letzte Hindernis aus dem Weg zu räumen: das Glück tötende Denken,          

„… von Sokrates bis zum GI-Deserteur stellt die Teilhabe am Unwissen und die vorsätzliche Verbrüderung der Unwissenden eine Erfahrung von Demokratie dar: die einzige, die wir kennen.“

Die Verbrüderung mit der Unwissenheit eröffnet endlich die Demokratie als Möglichkeit, nicht Konzentrationslager zu sein.

„Mögen die russischen Aufständischen uns an unsere eigene Geschichte erinnern und daran, daß die Demokratie von der Möglichkeit lebt, sich gegen die Gesetze der Mächtigen aufzulehnen. Straße, Streik, freie Meinungsäußerung ... denn das Anerkennen ihrer bloßen Existenz macht Konzentrationslager unmöglich.“

Stellvertretend für die jede bürgerliche Ideologie für diskussionswürdig befindende Bürobewegung hat Oskar Negt die Neue Philosophie gewürdigt und sich auch gleich die brauchbaren Irrationalismen exemplarisch lernend angeeignet.

„Sicher, eine auf gegenseitige Überwachung und Uniformität reduzierte Gesellschaft kann kein vernünftiger Marxist wollen. Aber nicht das ist das wirkliche Problem für die Neuen Philosophen; vielmehr der Umstand, daß im Hintergrund Gargantua, unsichtbar für die Betroffenen, das ganze Spiel für sich spielen läßt. Gargantua und Wotan, das sind Symbole, in denen sich Macht verkörpert, Lenin, Hitler, Mao, Zentralkomitees und Staat. So erweist sich die Suche nach dem Ring des Nibelungen als grandiose Täuschung; indem Wotan die Handelnden auf Nebenkriegsschauplätzen mit der unwichtigen Goldsuche beschäftigt, realisiert er sein Hauptinteresse: die Erweiterung seiner Macht. Da die Neuen Philosophen aber nicht wissen, auf welchen materiellen Grundlagen Macht beruht, bleibt ihnen auch verschlossen, wie sie überwunden werden kann.“

Zitate aus: A. Glucksmann: Die Meisterdenker, Hamburg 1978
XXXXXX X XXX XXX XXKöchin und Menschenfresser, 1967

_______________________________________

(1) 1970 gab es die MSZ noch nicht. (Anm. der Lektorin)

 

aus: MSZ 26 – Dezember 1978

zurück zur Startseite