Ernst Bloch – Nachruf auf einen Philosophen


SEIN IN UNSERER ZEIT


Ernst Bloch ist zur Zeit damit beschäftigt, das „durchaus rote Geheimnis“ seines eigenen Todes zu lüften. Da ihm seine Freunde dabei nicht behilflich sein können, ergreifen sie die günstige Gelegenheit, dem toten Meister, der sie das Hoffen auf rosigere Zeiten lehrte, zu danken. Dank gebührt ihm, weil er nicht mit 56 Jahren gestorben ist:

„zwei Drittel des Oeuvres waren noch nicht publiziert“ (W. Jens. Die Zeit/12.8.77),

sondern vor allem, daß er es 92-jährig 1977 endlich tat, um so der Linken aus der Bredouille zu helfen. Damit daß er genau den 500-jährigen Geburtstag der Tübinger Universität abwartete, um zu sterben, läßt sich beweisen, daß ein geistiger Ziehvater der Linken stets als verantwortungsbewußter Deutscher handelt. Das eigentlich Bewunderungswürdige seiner Philosophie ist daher – aufgrund des nicht verheimlichten Standpunktes ihres Verfassers:

„hier mußte man zu einem Manne Stellung nehmen, der mit seiner ganzen Person hinter seinem Werk stand.“ (SZ/5.8.77) –

ihre vielseitige Verwendbarkeit gegen die Feinde der westdeutschen Demokratie:

1. er wies die DDR in ihre Schranken:

„So hat Bloch während der Jahre seiner Leipziger Professur seit 1949 den Studenten in der DDR unverhohlen klargemacht, daß ihr sozialistischer Staat sich fast noch in der gleichen astronomischen Entfernung zum utopischen Ziel befindet wie die Länder des Kapitalismus.“ (SZ/5.8.77),

2. er verwandelte den Marxismus in eine „Revolutionsphilosophie“ (Dutschke. AZ/5.8.77),

3. er beschimpfte als „produktivster Ketzer im Marxismus“ die Dogmatiker der ML-Gruppen, die, in „Tageskämpfe“ um „Nahziele“ verstrickt, „die Fernziele aus den Augen verlieren“ (O. Negt).

Wenn so der tote Ketzer seinen Anhängern Mittel ist, ihren Konformismus unter Beweis zu stellen, so heißt das nicht, daß er selbst, wenn er noch unter uns weilte, nicht das Wort ergriffen hätte, um seinen Sumpf trockenzulegen: Es bleibt eine Sauerei, was kritische Demokraten zu ihrer eigenen Säuberung mit einem Toten anstellen, auch wenn sie sich das, was sie über ihn sagen, nicht aus den Fingern saugen.

Bloch ist seiner Jüngerschar nützlich, nicht nur weil er zu politischen Tagesereignissen den mahnenden Zeigefinger erhoben hat, sondern vor allem, weil er eine Philosophie gemacht hat, deren Verdienst darin besteht, daß kritische Menschen heute wieder Heimat sagen können, ohne rot werden zu müssen, weil man sie für Faschisten halten könnte:

„er hat das Gestohlene, Verkitschte und Geschändete ins Haus zurückgebracht, in das es gehört. Heimat, Innigkeit, Segen – Ernst Bloch allein ist es zu danken, daß wir die Worte wieder sprechen können. Nicht weil er sie umfunktionierte, sondern weil er ihnen den ursprünglichen, von der Räuberideologie befreiten Sinn zurückgab.“ (W. Jens, Die Zeit/12.8.77)

Bloch hat sich also um die Demokratie verdient gemacht, weil er in ihr den Sinn des Menschen aufspürte, und um andere durch den Faschismus geschändete Begriffe wie Leben, Tod und Front, um die bekanntlich sein Denken kreiste:

„Hat sich der Mensch erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Bloch. Das Prinzip Hoffnung/1628. Im Folg. zit. DPH)

und mit dieser Antwort auf die Sinnfrage die Philosophie aus den Händen des Räubers Heidegger befreite, in dessen kitschiges Haus sie von Rechts wegen nicht gehört, weil er mit der Reklamierung des Sinns für den Führer die ganze Philosophie in Mißkredit brachte. Dem demokratischen Intellektuellen, dem der Nutzen der Philosophie kein Geheimnis ist, verbietet sich daher ihre Kritik:

„Der Hunger nach Sinn gärt in diesem Werk wie Hefe im Brot ...“ (FR/5.7.77),

Vorgegoren aber ward die Hefe im Werk Heideggers, wodurch allerlei am Seinssinn interessierte Philosophen „ermöglicht“ wurden: engagierte Nihilisten und katholische Existenzphilosophen in Frankreich, positive Existenzphilosophen und kritische Ontologen in Deutschland sorgten gleichermaßen dafür, daß die Frage nach dem Sinn des Seins nicht verweste.


Der Zweck der Frage nach dem Sinn des Seins

I. Philosophie zwingt Sinn rein

Heidegger begründet die Aufgabe der Philosophie folgendermaßen:

„Die Seinsfrage zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst. Alle Ontologie ... bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe begriffen hat.“ (Sein und Zeit/11, i. Folg. zit. SuZ)

Indem er die Bedingung der Möglichkeit der Einzelwissenschaften, die den Nutzen aller Gegenstände für die bürgerliche Welt bestimmen, erörtert, leugnet er nicht nur ihre Existenz, sondern spricht ihnen ihre Existenzberechtigung ab. Heidegger ist der instrumentellen Erkenntnis feindlich gesonnen. Sie ist unnötig:

„Daß Wissenschaft sein soll, ist niemals unbedingt notwendig.“ (zitiert nach: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie/350, i.Folg. zit. MLWdP)

und unmöglich:

„Geschichte, Kunst, Dichtung, Sprache, Natur, Mensch, Gott bleiben der Wissenschaft unzugänglich.“ (ibid.)

Denn nur die Philosophie gelangt zum erforderlichen „Seinsverständnis“, da sich ihr das „Wesen der Dinge“ in der „Wesensschau“ offenbart:

„Wahrheit versteht sich hierbei in der Auslegung des griechischen Begriffes der »alatheia« als das raubend-entbergende Zwingen der Dinge in ihren jeweiligen Sinn.“ (Das Fischer Lexikon Philosophie/249)


2. Der Sinn des Seins: die Möglichkeit des Opfers

Einem, der dem Sinn des Seins lauscht, erteilt dieses tautologischen Bescheid:

„Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist es selbst.“ (Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit/76) –

was jedoch nur kritische Seinsphilosophen als keine Antwort vorsätzlich mißverstehen können:

„ ... die Fundamentalontologie ... verbaut sich die Antwort, was eigentlich sei, durch die Gestalt der Frage.“ (Adorno, Negative Dialektik/117, i. Folg. zit. ND)

Vielmehr verrät die Tautologie das Interesse des Philosophen, der Menschheit als Sinn ihres Seins jene Drohung zu verkünden, mit der diese sich selbst Tag für Tag Trost und Kraft zuspricht: was sein muß, muß sein! Wenn so die Existenzphilosophie von vornherein klarstellt, daß sie alle Gewalttätigkeit, die den Menschen angetan wird und die sie sich selber antun, als Sinn des Seins verherrlicht, so sind nur kritische, von noch zu verwirklichendem Sinn begeisterte Philosophen dazu fähig, ihr den Vorwurf zu machen, sie sei „veraltet und überflüssig“ (Adorno, Wozu noch Philosophie. In: Eingriffe/11, i.Folg.zit. WnP), weil sie

„durch die Abstinenz vom Inhalt ... ihren Bankrott den realen gesellschaftlichen Zwecken gegenüber erklärt“ (WnP/12) –

um sich selbst den gesellschaftlichen Zwecken anzupreisen.

Ebensowenig wie Heidegger mit dem Begriff des Seins zum Abstinenzler wird, ebensowenig hat er mit seiner Tautologie „das Subjekt verscheucht“ (ND/76). Die Kategorie des Seins kommt nämlich als abstrakte Bestimmung nicht all dem zu, was ist – dann erübrigte sich ja die Frage nach dessen Sinn –, sondern ziert als Möglichkeit lediglich den eigentlichen Menschen:

„Das Sein des Menschen ist ein Möglichsein.“(SM/148)

Mit dieser Aufforderung an die Menschen, sich auf ihr besseres Selbst zu besinnen, hat die Ontologie einen sehr bestimmten Inhalt: mit der Klärung der Bedingungen der Möglichkeit existenziellen Menschseins ist sie die vernichtende Kritik all jener unmoralischen Lebewesen, die sich dem Sinn des Seins verschließen. Nicht er selbst ist der Mensch, wenn er in „Seinsvergessenheit“ dem Alltag „verfallen“ ist, wo der sinnlose „Zeugzusammenhang“, das „uneigentliche Umwillen“ regiert. Um in den Genuß seiner Existenz zu kommen, muß ein Mensch lernen, daß „Existenz kein endgültiger, fester Bestand ist“, denn „Sein“ und „Haben“ schließen sich gegenseitig aus:

„Da der Mensch von allem, was er hat, erfahren kann, daß es ihm im letzten Sinne äußerlich ist, ist »Sein«, »Existenz« dasjenige was bleibt, wenn von allem »Haben« abgesehen wird.“ (Der katholische Existenzphilosoph der Hoffnung Marcel, referiert nach: MLWdP/559)

Die Welt, in der der schnöde „Umzu-Zusammenhang“ herrscht, erhält dann ihren Sinn, wenn sie der „Möglichkeit des Seins“ dient – schließlich entspringt sie ja derselben:

„Wie wollen wir erfahren, was das Zeug in Wahrheit ist? ... Wir wählen als Beispiel ein gewöhnliches Zeug: ein Paar Bauernschuhe ... Das Zeugsein des Zeug besteht in seiner Dienlichkeit. Aber wie steht es mit dieser selbst? ... Müssen wir nicht das dienliche Zeug in seinem Dienst aufsuchen? Die Bäuerin auf dem Acker trägt die Schuhe. Hier erst sind sie, was sie sind ... Ein Paar Bauernschuhe und nichts weiter. Und dennoch. Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal der Arbeitsschritte ... Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft und das Zittern in der Umdrohung des Todes ... Das Zeugsein des Zeugs besteht zwar in seiner Dienlichkeit. Aber diese selbst ruht in der Fülle eines wesentlichen Seins des Zeuges. Wir nennen es die Verläßlichkeit ... Die Verläßlichkeit des Zeuges gibt erst der einfachen Welt ihre Geborgenheit und sichert der Erde die Freiheit ihres ständigen Andranges.“ (Heidegger, Holzwege)

Indem Heidegger so die nützlichen Gegenstände in ihren Sinn gezwungen hat, Mittel der Entbehrung zu sein, und den arbeiten Menschen mit der Geborgenheit eines mühseligen Daseins beglückt hat, die ihm von einer verläßlichen Instanz garantiert wird, hat er den Menschen die alltägliche Wirklichkeit, die in Verzicht und Opfer, Not und Mangel besteht, als den Sinn ihres Daseins verherrlicht. Und da er diese Wirklichkeit als Möglichkeit bezeichnet, sind ihm die Opfer nie groß genug, weshalb er sich um die Bedingungen der Möglichkeit kümmert, d.h. die „Seinsvergessenen“ als Charakterschweine beschimpft.

Um sich gegenüber den vielen, die da sind („Man“), als einer, der existiert, hervorzutun, muß der Mensch aus dem Angebot der Möglichkeiten, die das Sein für ihn bereithält, die ihm eigenste ergreifen:

„Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins. Das Sein zu ihr erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinkönnen, darin es um das Sein des Dasein schlechthin geht.“ (SuZ/263) –

und im Wissen, daß es um ihn als Daseienden sowieso nicht schad ist, sein Dasein dem Sein zur Verfügung stellen, um so dessen Sinn zu erhaschen:

„Dem Dasein kann offenbar werden, daß es in der (mit EK1 mit Schwertern und Eisenlaub) ausgezeichneten Möglichkeit seiner selbst dem Man entrissen bleibt, d.h. vorlaufend sich je schon ihm entreißen kann. Das Vorlaufen (!) erschließt der Existenz als äußerste Möglichkeit (!) die Selbstaufgabe.“ (SuZ)

Der eigentliche Mensch hat den Sinn seines Seins, d.h. alle Beschränkungen, die ihm „das Leben“ (unter der Gewalt des Staates) auferlegt, verinnerlicht, so daß er sein Schicksal nicht als eine fremde Macht über sich ergehen läßt, sondern sich zur Aufgabe seines Selbst als dessen Verwirklichung entschließt:

„Die ergriffene Endlichkeit der Existenz bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals ... Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-Sein wesenhaft im Mitsein mit anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes ... Im Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei. Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner »Generation« macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus.“ (SuZ)

Die erste Bedingung eines sinnvollen Lebens ist somit „der Mut zur Angst vor dem Tod", denn einer, der „die Grundstimmung der Angst, in der das Nichts unmittelbar aufbricht“, nicht auszuhalten imstande ist, bringt schwerlich die Kraft auf, das Nichts zu nichten.

„Die Angst ist der Wirbel der Freiheit, denn in ihr wird der Mensch zur Entscheidung gedrängt, ob er die Angst auszuhalten wagt (!) und darin die Eigentlichkeit seiner Existenz zu erreichen vermag oder ihr gegenüber versagt und in den lärmenden Betrieb der Welt flieht, um die Angst zu übertönen.“ (Kierkegaard. Zit. nach W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilophie/150, i. Folg. zit. SM)

Die zweite aber und eigentliche Bedingung eines eigentlichen Menschen ist sein Gewissen, das ihn im „Ruf des Daseins auf sich selbst“ zum Gehorsam gegenüber den Anordnungen des Seins ruft. Das Gewissen – auch wenn es manchen „wie eine fremde Stimme erscheint“ (SM/171) – flüstert dem Menschen, sich selbst für seine Gespaltenheit verantwortlich zu machen:

„Das, was der Gewissensruf offenbar macht, ist das Schuldigsein des Daseins. Darunter versteht Heidegger ... die wesenhafte Nichtigkeit des Daseins, die vor allem in dem antinomischen Charakter des Menschseins besteht, daß der Mensch einerseits den Grund seines Seins selbst zu legen hat, da er als Möglichkeit über sich selbst erst entscheiden muß, andererseits sich aber doch bereits in die Tatsache seines Seins gestellt findet, dieses also nicht von sich aus begründet hat, weshalb er seiner selbst nie ganz mächtig werden kann.“ (SM/172)

Und wenn auch der Mensch nie das Sein begründen kann, so kann er seiner selbst doch mächtig werden: er kann sich voll zu seiner Schuld bekennen, indem er in den Tod „vorläuft“. Mit diesem Totalangriff auf die Bedürfnisse der Menschen und der umstandslosen Verherrlichung aller Opfer ist die Ontologie ebensowenig überflüssig wie veraltet. Sie fragt nach dem Sinn des Seins, obwohl er als Wachstum des Kapitals jedermann bekannt ist – und ist damit unzufrieden mit der Durchsetzung dieses Sinns, weshalb sie sie perfektionieren will. Sie fragt nach dem Sinn des Seins, um so das kümmerliche Dasein der Menschen in ein unerklärliches Geheimnis zu verwandeln, das die Menschen für alle Entbehrungen dadurch entschädigt, daß sie ihnen einen Sinn zuspricht.

Sie fragt nach dem Sinn des Seins, obwohl er als Wachstum des Kapitals jedermann bekannt ist – und ist damit unzufrieden mit der Durchsetzung dieses Sinns, weshalb sie sie perfektionieren will. Sie fragt nach dem Sinn des Seins, um so das kümmerliche Dasein der Menschen in ein unerklärliches Geheimnis zu verwandeln, das die Menschen für alle Entbehrungen dadurch entschädigt, daß sie ihnen einen Sinn zuspricht. Indem sie den Menschen, der als in Staatsbürger und Bürger verdoppeltes Wesen existiert, weil er nur so unter der Gewalt des Staates seine Bedürfnisse befriedigen kann, in ein eigentliches und uneigentliches Wesen verdoppelt, fordert sie ihn auf, ganz Staatsbürger zu werden und auf die beschränkte Verfolgung seines Interesses zu verzichten, da diese dem eigentlichen Wesen des Menschen unangemessen ist. Solche Verherrlichung des Staates, die ihn dafür rühmt, die Menschen zu beschränken, um ihnen so ein sinnvolles Opferdasein zu ermöglichen, ist noch jedem Staat von Nutzen – und erst recht der Demokratie, die so ihre instrumentelle Wissenschaft korrigiert, die den Leuten verkündet, welchen Beschränkungen ihr Interesse unterzogen werden muß, um es realisieren zu können.

Die Ontologie wird also nicht dadurch faschistisch, daß ihr Verfasser sich zum Führer bekennt, wenngleich es ihn dazu notwendigerweise treibt. Und auch wenn Heidegger den philosophischen Beweis erbringt, daß sich das Sein nicht denken läßt, gibt er damit den Faschisten keine Beweise an die Hand, daß sie auf die Ontologie verzichten könnten: schließlich verleiht er ihren Brutalitäten den nötigen Sinn. Gegen jene aber, die als Denker sich ihrer Aufgabe widersetzen, das Sein zu bejubeln, liefert er die fälligen Argumente. Der Sinn des totalen Staatsbürgers besteht in gehorsamer Arbeit und Dienst, weshalb auch nur dies als Denken bzw. zu denken erlaubt ist. Der Faschismus verfolgt jene Intellektuellen, die sich ihrer ihnen einzig zugedachten Aufgabe nicht anbequemen wollen – und treibt sie so in die Opposition. Deshalb verfaßt der Philosoph Bloch 1938 den Aufsatz „Der Intellektuelle und die Politik" , worin er mit Thomas Mann in der Erinnerung an die Freiheit aufklärerischer bürgerlicher Geister schwelgt, um dann als „Ziel der sozialen Revolution“ zu fordern, „zunächst wieder die bürgerlichen Freiheiten herzustellen“ (In: Widerstand und Friede/49). Zur Erlangung dieses Ziels bedient er sich der Philosophie, die daher kritisch auftritt.


Die Sinnfrage kritisch:

1. Der Antifaschist bleibt Philosoph

„Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“ (DPH/1)

fragt sich Bloch nicht etwa in einem Zustand momentanen Gedächtnisschwundes, sondern zu Beginn seines philosophischen Hauptwerkes. Die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens ist es, die ihn im amerikanischen Exil quält, so daß schon mit dem ersten Satz seines dreibändigen Wälzers klar ist, daß er als Antifaschist der Philosophie treu bleibt. Er ist sich mit seinem Antipoden Heidegger einig darin, daß die Philosophie zuallererst gegen die wissenschaftlichen Staatsdiener kritisch aufzutreten hat, weil sie die Sinnfrage nicht stellen – weshalb er ihnen folgendes schöne Kompliment macht:

„Das bürgerliche Denken ist betrachtender Verstand, der die Dinge nimmt, wie sie gerade sind und stehen ...“ (DPH/2)


2. Die kritische Antwort auf die Sinnfrage

Bloch hat daher an Heidegger nicht auszusetzen, daß er seinen Gegenstand – der Mensch, der über sich hinausgeht“ – erfindet, um seine Moral an den Mann zu bringen, da auch ihn „das übersteigen, überschreiten“ dessen, was „bloß“ ist, interessiert. Vielmehr gefällt ihm an der Antwort auf die Frage nach dem Sinn nicht, daß sie bei Heidegger so negativ ausfällt:

„Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst ... Doch nun wird ... ein uns gemässeres Gefühl fällig.
Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt, statt ins Scheitern ... Die Arbeit dieses Affektes ... erträgt kein Hundeleben, das sich ins Seiende nur passiv geworfen fühlt, in undurchschautes, gar jämmerlich anerkanntes. Die Arbeit gegen die Lebensangst...“ (DPH/1)

Während bei Heidegger die Menschen die Angst aushalten sollen, um ihrer „endlichen Stellung im Weltganzen gewahr“ zu .werden, so daß sie alles andere als passiv – bereit werden, sich selbst für ihren Staat aufzugeben, besteht für Bloch der Sinn des Seins im „positiven Affekt Hoffnung“.


3. Die Kritik der kritischen Philosophie

Damit sieht auch Bloch die Aufgabe der Philosophie darin, der Menschheit als moralische Lebenshilfe unter die Arme zu greifen, denn sie bedarf noch etlicher Nachhilfestunden, um das Hoffen – und auf diese Weise den „aufrechten Gang“ – zu lernen. Und dazu gehört, daß sie sich abgewöhnen, ihr Hoffen auf die Beseitigung ihrer materiellen Sorgen zu richten, anstatt sich die Verwirklichung ihres eigentlichen Menschseins zum Inhalt zu nehmen:

„Hoffnung, die auf Ich und Du und Müllers Kuh und sonst nichts im Leben geht.“ (Verfremdungen 1/21X)


4. Der Gegensatz von Hoffnung und Verzicht

Bloch konstruiert in seiner „Ontologie des Noch-Nicht“ (DPH/12) einen Gegensatz zwischen der Hoffnung, die dazugehört, wenn Opfer ausgehalten werden sollen – und davon hat Heidegger durchaus eine Ahnung:

„Das Dasein ist nicht erst zusammen, wenn sein Noch- nicht sich aufgefüllt hat, so wenig, daß es dann gerade nicht mehr ist. Das Dasein existiert je schon immer gerade so, daß zu ihm sein Noch-nicht gehört.“ (SuZ/ 243) –

und dem Verzicht, in dem Heidegger den Sinn des Seins erblickt. Als Ontologe, der in der bürgerlichen Welt keinen Sinn sieht, verfällt er auf die Verrücktheit, der Welt die Hoffnungen der Menschheit kritisch als ihren Sinn entgegenzuhalten. Im Gegensatz zu Heidegger, der begrüßt, daß dem kritikablen Zeugzusammenhang der Welt durch Gewalt abgeholfen wird, findet er ausgerechnet in den Ideologien, mit denen die Menschen sich dieser Gewalt unterwerfen, den Sinn: das Noch-Nicht.

„Das Noch-Nicht-Bewußte, Noch-Nicht-Gewordene, obwohl es den Sinn aller Menschen und den Horizont alles Seins erfüllt ... dies blühende Fragengebiet liegt in der bisherigen Philosophie fast sprachlos da.“ (DPH/4)

Damit hat sich Bloch folgende drei Brutalitäten geleistet:
1. Es liegt am mangelnden Sinn, daß die Menschen unzufrieden sind (Heidegger: an den Menschen liegts, die sich dem Gewissensruf verschließen).
2. Deshalb muß Sinn in die Welt gebracht werden (Heidegger: Sinn gibts schon längst).
3. Der Grund dafür, daß es der Welt an Sinn ermangelt, liegt in den Menschen, die es versäumten, ihre „eigentlichste“ Fähigkeit auszubilden: das Hoffen (womit die Menschen an ihrer Unzufriedenheit selbst schuld sind).


Wie lehrt Bloch das Hoffen:

1. Ins Blaue bauen!

Weil das gegenwärtige Dasein keinen Sinn hat und so auch bis auf den heutigen Tag noch niemand „wirklich“ gelebt hat:

„Aber indem gerade unser nächstes eigentlichstes, unaufhörliches Dabeisein keines ist, lebt noch kein Mensch wirklich.“ (DPH/341),

ist der Sinn der Gegenwart nicht erlebbar:

„Wogegen das eigentliche Da unserer Selbst, wenn es sich zu melden anschicken sollte, nur seelisch vorkommt. Sei es auch bloß als Merken des Nicht-Da, worin wir genau unser nächstes Jetzt zwar leben, doch nicht erleben.“ (Verfremdungen 1/7) –

weshalb sie auch von einem Ontologen nicht erkannt werden will:

„Nicht das Fernste also, sondern das Nächste ist noch völlig dunkel und ebendeshalb, weil es das Nächste, das immanenteste ist: in diesem Nächsten steckt der Knoten des Daseinsrätsels.“ (DPH/341).

Die Philosophie hat vielmehr die Aufgabe, in das „Dunkel des gelebten Augenblicks“ das Licht einer sinnvolleren Zukunft scheinen zu lassen, wodurch der Gegenwart ein Licht aufgesetzt werden soll:

„ ... bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet ...“ (Geist der Utopie)

In seinem philosophischen Haß gegen die Fakten erfindet Bloch sich seinen Gegenstand: es ist alles das, was es nicht gibt und heißt – das Utopische.


2. Die Welt als „Stoff der Hoffnung“

Eine Philosophie, die „nicht am Gegebenen festklebt“ (DPH/1623), arbeitet nach der Devise: „Denken heißt überschreiten“. (DPH/2) Da es die Zukunft noch nicht gibt, nimmt sie sich alle Gegenstände der Welt zum Material, indem sie sie in das „Totum ihres Blicks“ zwingt. Sie behandelt sie nicht als das, was sie sind, sondern als das, was sie sein könnten oder hätten sein können. Sie entdeckt an allen Fakten das „über sie Hinausweisende“, indem sie sie als „Stoff der Hoffnung“ betrachtet. Bloch verkündet seine Heilsbotschaft „der Mensch ist wesenhaft von der Zukunft her bestimmt“ (DPH/3), indem er „die Zukunft in der Vergangenheit“ aufspürt. Und da „primär jeder Mensch lebt, indem er strebt“ (DPH/2), interessieren ihn an der Vergangenheit zunächst alle menschlichen Sehnsüchte und Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen, denn sie belegen, daß die Menschheit stets die Blochsche Hoffnung teilt, daß eine bessere Welt möglich sei. Weil Bloch kein Interesse daran hat, warum die Menschen hoffen müssen, sondern die Hoffnung als Grund menschlichen Handelns behauptet:

„Der Wunsch schafft Wirkliches.“ (DPH/1622),

entdeckt er die „Kategorie des Utopischen“ nicht nur in den Träumen und Wünschen, sondern in allem menschlichen Handeln und Schaffen:

„Kampf um Gesundheit, die ärztlichen Utopien – Wille und Natur, die technischen Utopien – Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektonische Utopien – Eldorado und Eden, die geographischen Utopien etc. pp.“ (DPH/XII ff.)

Indem er alles, was die Menschen tun, seines wirklichen Zwecks beraubt und als Ausdruck der Hoffnung interpretiert, hat er – im Gegensatz zu Heideggers „Hermeneutik der Faktizität“ – eine "Hermeneutik der Hoffnung“(DPH/ 5) geschaffen, in der er „in verwegenen Assoziationen Fakultätsgrenzen“ (einschließlich der veterinärmedizinischen) „sprengt“ (W. Jens. Die Zeit/12.8.77):

„Kant und intellegibles Reich; Platon, Eros und die Wertpyramide“ (DPH/987)
„Weshalb Amerika neuheidnisch genug ist, um das Lamm mit seiner notorisch geringen prosperity durch den vitalen Stier, den Erfolgsbullen zu ersetzen. Das alles sind spätantike Reste oder Beleihungen eines Äskulap-Jesus ...“ (DPH/X363)

Dem Sinn aber kommt man nur auf die Spur, wenn man ihn beschwört, weshalb für Bloch die Sprache –

„die ekstatische Rede, das Pathos der Poesie, die Sprache an der Grenze von Gedanken und Bild“ (W. Jens. Die Zeit/12.8.77) –

Mittel ist, keinen klaren Gedanken, sondern die richtige Stimmung aufkommen zu lassen:

„Man ist ohnehin. Das Ich bin ist auch zuweilen wie da. Doch immer nur halbwegs, sich zu nahe. Kein Bin geht schon aus sich heraus ...“ (Verfremdungen 1/7)


Marx sprach: Es werde Hoffnung

„Der etwas zu große Fortschritt von der Utopie zur Wissenschaft“ (Marx, aufrechter Gang, konkrete Utopie. In: Über Karl Marx/175)  



1.  Der Ontologe Marx

Weil Bloch als kritischer Ontologe davon lebt, der Wirklichkeit „Träume vom besseren Leben“ (DPH/9) vorzuschwärmen:

„nach vorn hin offen sein, in Künftiges hin, nicht bereits Vorhandenes meinen, auf das Veränderliche setzen, das Zufällige, das Neue.“ (Verfremdungen 1/ 213),

stößt er auf einen Kritiker, den er neben Jesus für seinen wichtigsten Vorfahr hält. Karl Marx nämlich liefert den Beweis, daß Bloch kein utopischer Spinner ist. In seinem Oeuvre lasse er Hoffnung „konkret werden“ und liefert Bloch die Gewißheit, daß Utopie imstande sei, „den natürlichen Gang der Dinge zu überholen,“ (DPH/11). Die Bedingungen der Möglichkeit der Veränderung sind mithin gegeben, da der Fortschritt die unaufhaltsame Tendenz der Gegenwart ist. Bloch, der als echter Philosoph vor allem eine moralisch hochwertige Persönlichkeit ist, läßt bescheiden Marx das Verdienst, die Menschheit mit der Entdeckung beglückt zu haben, daß Hoffnung „eine Grundbestimmung in der objektiven Wirklichkeit insgesamt“' (DPH/15) ist. Marx hat daher nicht die Gesetze des Kapital kritisiert, sondern war der erste, der der bestehenden Welt nicht nur die Möglichkeit einer besseren entgegenhielt, sondern auch hartnäckig auf die Verwirklichung seiner Tagträume pochte. Marx ist also so recht ein Wissenschaftler nach Blochs Geschmack:

„Erst Marx setzte statt dessen das Pathos des Veränderns, als den Beginn einer Theorie, die sich nicht auf Schauung und Auslegung resigniert. Die starren Scheidungen zwischen Zukunft und Vergangenheit stürzen so selber ein, ungewordene Zukunft wird in der Vergangenheit sichtbar, gerächte und beerbte, vermittelte und erfüllte Vergangenheit in der Zukunft. Isoliert gefaßte und so festgehaltene Vergangenheit ist eine bloße Warenkategorie, das ist ein verdinglichtes Faktum ohne Bewußtsein seines Fieri und seines fortlaufenden Prozesses. Wahre Handlung in der Gegenwart geschieht aber einzig in der Totalität dieses rückwärts wie vorwärts unabgeschlossenen Prozesses ...“ (DPH/7)

Marx „bezeichnete die Wende im Bewußtwerden des konkreten Überschreitens“ (DPH/14),
– weil er als Rächer unerfüllter Wünsche seinen Haß an den starren Scheidungen zwischen Zukunft und Vergangenheit ausließ,
– weil er die Fakten haßte wie sonst nur Hegel – „so wenig ... wie Hegel anerkennt Marx Tatsachen als solche, sie sind ihm nur Momente von Prozessen“ (Subjekt-Objekt/411), weshalb er auch Bloch den Tip gab, daß „Elemente der ... Kategorie ... im Begriff ... stecken ... (nämlich die der) ...Waren ... im Faktum“. Allerdings nur „wahrscheinlich“ weil er als erster mit dem „Pathos der Veränderung“ die Parteilichkeit für den Menschen bewußt in den Mittelpunkt der Wissenschaft rückte:

„je wissenschaftlicher der Marxismus, desto konkreter hat er gerade die Sorge um den Menschen im Mittelpunkt“ (DPH/306)

d.h. weil er als erster die Wissenschaft in den Dienst der Sinnfrage stellte:

„Jene letzte langdauernde Einsicht bei Marx: die Wahrheit sei keine für sich selber, sondern eine der Emanzipation, eine Interpretation der Welt zum Zweck und Sinn ihrer Veränderung.“ (Marx, aufrechter Gang, konkrete Utopie/172)


2. Marx als Retter der Philosophie

Indem so Bloch Marx in eine ihm „gemäßere“ Form gebracht hat, kann er ihn begründen lassen, daß es Philosophie geben muß:

„Wobei also die Philosophie bei Marx ihr Werk durchaus noch zu tun hat ... Nirgends verschwindet sie als solche, das ist, in der Weisheit und Praxis ihres Zusammenhangs-Wissens, Ziel-Gewissens.“ (über den Begriff Weisheit. In: pädagogica/142f.)

Als „medicinae mentis“ (pädagogica/40) ist die Philosophie gerade für Marxisten unerläßlich, die leicht in Gefahr geraten, im „Kältestrom des Durchschauens“ (Marx und Abtun der Entfremdung/144) zu erfrieren. Der analytischen Kälte der Erkennens hilft die Philosophie mit der Frage nach dem Wozu ab, wodurch sie den Marxismus mit seinem eigenen Wärmestrom heilt:

„Doch das gesuchte Wozu, das menschhaltige Fernziel dieses Durchschauens gehört eben so sicher zum Wärmestrom im ursprünglichen Marxismus, ja unleugbar zum christförmig zuerst gebildeten Grundtext vom ,Reich der Freiheit“ selber.“ (Marx und Abtun der Entfremdung/144. Im Folg. zit. MuAdE)

Weil also dem Marxismus von seinem „zu grossen wissenschaftlichen Fortschritt“ die Gefahr des menschenfeindlichen „Dogmatismus“ und der fortschrittsfeindlichen, da phantasielosen „Sterilität“ (vgl. über Karl Marx/176, 170) drohen, verbindet Bloch ihn schöpferisch mit der Utopie. Der trockene Marxismus muß „interessant“ gemacht und dem „blühenden Fragengebiet“ der Philosophie erschlossen werden:

„Der Prozeß-Ernst (!) des Totum macht den Marxismus zum Problem- und Antwort-Gebiet jeder noch möglichen Philosophie überhaupt. Da ist das Organon der ... Gesamterkenntnis des real-Möglichen.“ (Universität, Marxismus, Philosophie. In: pädagogica/73)

So handelt er nicht nur die Feuerbachthesen ab, um nach dem „Sinn des Losungswortes“ (DPH/319) zu fragen. Auch das Marx-Zitat:

„Es wird sich zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“ (MEW 1/346)

ist ihm Material, um zu belegen, daß es sich bei Marx um einen „deutschen Philosophen“ (DPH/623) handelte. Denn er wollte nicht etwa „die Sache“ begreifen, sondern mit Bloch Träume deuten – weshalb sich das Zitat im „Prinzip Hoffnung“ auch ein wenig anders liest:

„Es wird sich zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von dem sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“ (DPH/1613)


3. Der von Marx vernachlässigte „Überschuß“

Da Bloch nicht um die Tatsache herumkommt, daß Marx sich sein Leben lang mit der Kritik falscher Hoffnungen beschäftigt hat, kann er ihm Kritik nicht ersparen:

„Niemals zu vergessen hierbei, daß ohne vorangegangene Beschäftigung mit der Religion und der sich anschließenden Religionskritik die Entfremdungslehre und Warenkritik MARXENS kaum entstanden wäre.“ (MuAdE/144)

Dies vergißt Bloch deshalb niemals, weil er sich neuerlich mit der Religion beschäftigen will, da Marx nur die Kritik als Ergebnis seiner Beschäftigung festgehalten hat – und nicht mehr dazu gekommen ist, sich der Religion „als Ausdruck der Hoffnung“ anzunehmen:

„Vielmehr arbeitet und leuchtet in der konkreten Utopie auch die Rettung all jenes fort und fort uns betreffenden Überschusses in Kulturen ..., der mit abgelaufener Ideologie nicht erschöpft ist.“ (ibid./145)

Bloch geht es also darum, „das Kulturerbe anzutreten“, um so die „Klage“ abzuweisen, daß

„die materialistische Geschichtsauffassung ... keinen Sinn fürs Höhere habe“ (Universität, Marxismus, Philosophie/63. I. Folg. zit. U,M,P).

Als rechtmäßigen Erben nicht nur des bürgerlichen Kulturerbes weist er den Marxismus aus, indem er den Bürgern Verrat an der eigenen Fortschrittlichkeit vorwirft:

„Also verwerflich ist keinesfalls Parteilichkeit selber, sondern lediglich die niedergehende.“ (Parteilichkeit in Wissenschaft und Welt. In: pädagogica/86),

weshalb nun das Beste von dem, wofür die Bürger einst Partei ergriffen/in den Besitz der Marxisten übergehe,, so daß das Erbe in „Ideologie-Anteil“ (ibid./64) und „fortschrittliches Erbmaterial“ zerfällt wird:

„Die Ratio des noch fortschrittlich gewesenen bürgerlichen Zeitalters ist das nächste Erbe (minus der standortgebundenen Ideologie und wachsenden Entleerung von Inhalten) ... Selbst mancher Mythos gibt einer Philosophie, die die bürgerliche Erkenntnisschranke überwunden hat, gegebenenfalls (!) fortschrittliches Erbmaterial ab, wenn auch ... umzufunktionierendes.“ (DPH/7)

Das Ideologische an der Kultur ist das „Zeitgebundene“, was ein geschulter Philosoph in glücklichen Fällen „ohne Zwischenglieder“ auf den Unterbau zurückführen kann:

„Die Violine wird erfunden, die oben spielt, das markiert den Sieg des Individuums wie es ökonomisch im Unternehmer (der bekanntlich immer oben auf ist!) sichtbar wird. ... Wir haben hier die Musik als einen Überbau, der sich fast (!) ohne Zwischenglieder mit der Basis berührt.“ (Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance/9)


4. Die Welt – ein rotes Geheimnis

Weil Bloch mit seiner Philosophie den Sinn seiner Leser auf das Höhere lenken will, kann er nicht dabei stehenbleiben, Marx Versäumnisse vorzuwerfen. Denn vom Standpunkt der „marxistisch dastehenden Philosophie" aus betrachtet, die

„die besondere Verpflichtung zu bewähren hat, daß sie die mächtige Stimme des Wohin und Wozu kenntlich macht“ (U,M,P/71),

sind nicht so sehr die kapitalistischen Verhältnisse kritikabel, sondern die Menschen:

„Der Mensch liegt im Argen.“ (DPH/9),

weil sie nicht wissen, wohin sie gehen, woher sie kommen – und sich so ihrem eigentlichen Selbst „entfremdet“ haben:

„Denn die wirkliche Selbstentfremdung ist nicht nur eine in falscher Gesellschaft erzeugte und mit ihr als der einzigen Ursache verschwindende; es gibt zur Selbstentfremdung doch auch noch einen tieferliegenden Ursprung.“ (MuAdE/145)

Was nützt einem schon die Erkenntnis des Kapitalismus, solange „das durchaus rote Geheimnis, daß überhaupt eine Welt sei“ (MuAE/145) nicht enthüllt ist. Wenn Bloch nicht so sehr an „offenen Fragen, Unauflösbarkeiten, wohin man blickt“ (W. Jens. Die Zeit/12.8.77) interessiert gewesen wäre, hätte sich ihm beim durchaus roten Marx alles Nötige zum Fehler und zum Zweck seiner Frage auftun können:

„Wenn du nach der Schöpfung der Natur und des Menschen fragst, so abstrahierst du also vom Menschen und von der Natur. Du setzest sie als nicht-seiend und willst doch, daß sie sich als seiend dir beweise. Ich sage dir nun: Gib deine Abstraktion auf, so gibst du auch deine Frage auf, oder willst an deiner Abstraktion festhalten, so sei konsequent, und wenn du den Menschen und die Natur als nicht-seiend denkend, denkst, so denke dich selbst als nicht-seiend, der du doch auch Natur und Mensch bist. Denke nicht, frage mich nicht, denn sobald du denkst und fragst, hat deine Abstraktion von dem Sein der Natur und des Menschen keinen Sinn. Oder bist du ein solcher Egoist, daß du alles als Nichts setzt und selbst sein willst?“ (MEW-Ergänzungsband 1/545)

„Die kritische Kritik als Geheimniskrämer.
Seine Kunst besteht nicht darin, das Verborgene zu enthüllen, sondern das Enthüllte zu verbergen.“ (MEW 2/58)


5. Der Sozialismus – „Das Reich der Freiheit mit Sinn“
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx(Marx und Abtun der Entfremdung/147)

Marx hat Bloch immerhin die Arbeit abgenommen, „das Gesetz des Fortschritts“ zu entdecken, was sich unlängst an der Niederschlagung des Faschismus (der sich nicht aufgrund etlicher Millionen unwirklicher, da nicht auf Dauer toter Leichen, sondern vor allem aufgrund des Reichtagsbrandes nicht im Einklang mit der Wahrheit befand) durch die Uhrzeiger der Wahrheit glänzend bestätigte.

„Unwahres kann, als nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmend, überhaupt keinen konkreten Erfolg auf begründete Dauer bringen. Daher gelangen die (!) Reichstagsbrände auf die Dauer doch nicht ..., daher geschieht die soziale Revolution nur im Uhrzeigersinn der Wahrheit, das heißt in der Richtung und im Einklang mit dem Sonnenlauf der wahren Wirklichkeit und ihres Prozesses.“ (U,M,P/66 f.)

So kann sich die Philosophie nun ungestört mit den Problemen des „kommenden Sozialismus“ beschäftigen. Sie muß sich diese Probleme antun, denn wenngleich der Sozialismus kommen tut, so kann doch nur sie garantieren, daß endlich Sinn in die Welt getan wird – die Revolutionäre vertun über den Tageskämpfen allzuleicht ihre eigentliche Aufgabe.

Die sozialistische Revolution läuft nämlich dann in die verkehrte Richtung, wenn sie sich die Bedürfnisbefriedigung zum Ziel setzt, anstatt dem Professor bei der Beantwortung der letzten Menschheitsfragen behilflich zu sein:

„Fragen eines Lebens ... jenseits der Arbeit“ (DPH/15)

Im Sozialismus verschwindet nicht etwa die Sinnfrage, sondern stellt sich gerade dann besonders akut:

„Ein alter Weiser sagte und klagte, der Mensch sei leichter zu erlösen als zu ernähren. Der kommende Sozialismus, gerade wenn alle Gäste (!) sich an den Tisch gesetzt haben, sich setzen können, wird die herkömmliche Umkehrung dieses Paradoxons als besonders paradox“ (ächz!) „und schwierig“ (stöhn!) „vor sich haben: der Mensch sei leichter zu ernähren als zu erlösen.“ (MuAdE/145)

Bloch, dem die Erkenntnis des „alten Weisen“ daß die Rede von der Erlösung noch stets ein bewährtes Mittel war, den Massen die Ernährung zu verweigern, gerade recht kommt, um neuerlich Klage gegen die „erlösungsbedürftigen“ Massen zu erheben, schreckt daher auch nicht davor zurück, den Sozialismus, der schon „das Urproblem des Jetzt und Hier“ (DPH/11) am Hals hat, auf die Suche nach dem „Kraut gegen den Tod“ (DPH/1383) zu schicken. Er entdeckt im Klassenbewußtsein „ein novum gegen den Tod“ (Wow!) (DPH/1380) und hat damit Heidegger links überstiegen:

„Der rote Materialist stirbt als Bekenner, überlegen wie nur Je ein Urchrist oder Täufer ... als wäre die ganze Ewigkeit sein. Das macht: er hatte vorher schon aufgehört, sein Ich so wichtig zu nehmen, er hatte Klassenbewußtsein.“ (DPH/1379)

Die „sozialistischen Märtyrer“ werden nicht etwa im Kampf gegen den Kapitalismus getötet, sondern weil sie der zukünftigen Menschheit Sterbehilfe leisten wollen:

„Wobei die künftigen Menschen, denen der Held sich dergestalt opfert, wieder viel einfacher zu sterben haben.“ (DPH/1381)

deshalb verlangt er vom Sozialismus, über das Dichterwort zu meditieren:

„Sieht man lange ins Dunkel, so ist immer etwas drin.“ (Yeats. DPH/1392)

Da der Tod „doch ein höchst Unnatürliches ist, das der Luft, dem Licht, der Sonne widerstreitet“ (DPH/1355), muß künftig „das Nichts mit neuen humanen Inhalten gefüllt“ (DPH/1310) werden. Das heißt, der Sozialismus hat nicht nur die Arbeit und die Bedürfnisse, sondern auch die Natur abzuschaffen, damit endlich ein „Glaube ohne Lüge“ (DPH/1382) möglich wird. Der Sozialismus hat also nur Sinn, wenn er selbigen installiert – und somit die religiösen und moralischen Ideale der Menschlichkeit verwirklicht:

„Marxismus, recht betrieben, ... ist seit Anfang humanity in action“ (DPH/1608),

denn recht betriebener Marxismus ermöglicht Demokratie:

„Menschlichkeit erlangt Platz in wirklich ermöglichter Demokratie.“ (ibid.) –

die Marx und Lenin ihr Leben lang anstrebten:

„Demokratie aber ist und bleibt bei alledem das Ziel, das echte, von Marx und Lenin aufgestellte Endziel ... Es ist ein sehr klassischer Inhalt, nämlich Herstellung realer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ...“ (Der Intellektuelle und die Politik. In: Widerstand und Friede/52f.)

So hat Bloch, indem er den Marxismus in ein philosophisches Problem verwandelt hat, alle antikommunistischen Vorurteile in Wohlgefallen aufgelöst. Er gesteht den Bürgern zu, daß die Logik des Marxismus unmenschlich sei, doch weiß er ihr mit der menschenfreundlichen Moral der marxistischen Philosophie zu begegnen. Er hat den Kommunismus als neue Form des Glaubens erwiesen, doch ist er nichts anderes als der bürgerliche Glaube an die eigentlichen Werte des Menschen. Er kommt dem Wunsch der Bürger nach zu wissen, wie die Gesellschaft nach der Revolution auszusehen habe – und den Vorwurf, daß das Paradies auf Erden unmöglich sei, entkräftet er, indem er es als die Verwirklichung ihrer Ideale kenntlich macht.


Hoffen auf die reale Demokratie

Bloch hat so die „Grundrisse (s)einer besseren Welt“ offenbart. Er schwärmt der Demokratie etwas von ihren eigenen Idealen vor und fordert sie auf, diese zu verwirklichen. Von den Möglichkeiten der Demokratie ist er so begeistert, daß er sie glatt um ihre Existenz bringt. Doch die Existenz der Demokratie gerät dadurch auch nicht ins Wanken, daß Bloch vorgibt, „Möglichkeiten zu verwirklichen“ (DPH/283). Seine Aufgabe besteht darin, als „Ziel-Gewissen“ zu fungieren:

„Für diese ( = bloße krude Tatsachen) gilt dauernd von der fundierten Hoffnung her: Umso schlimmer für die sperrenden Tatsachen.“ (Verfremdungen 1/21,6)

Er hält der Welt „das Richtmaß Humanum“ (DPH/1608) vor, damit diese „nach Maßgabe des Möglichen“ (DPH/285), d.h. mit schlechtem Gewissen auf der einen Seite und Hoffen auf bessere Zeiten auf der anderen Seite handelt.

Im Gegensatz zu Heidegger, der den Leuten das Opferbringen als ihr eigentliches Selbst anpreist und die Last, die solche Opfer mit sich bringen, bejubelt, weil die Leute diese nicht um ihretwillen, sondern wegen des höheren Ganzen auf sich nehmen, der also klipp und klar ausspricht, daß der sehr positive Sinn des Seins in der Negativität des Staates besteht, muß für Bloch „positives Sein“ (DPH/15) erst noch möglich werden. Er entkleidet den Sinn aller unangenehmen Erinnerung an die Gewalt des Staats und hält ihn der Welt als Spiegel ihrer eigentlichen idealen Positivität vor. Auch Bloch hat nichts gegen Opfer, sondern will den Leuten den Sinn geben, für den es sich diese auszuhalten lohnt:

„Man stirbt nicht für ein durchorganisiertes Produktionsbudget und sonst nichts,“ (über Karl Marx/176)

Mit diesem Schlag gegen die Staaten des realen Sozialismus zeigt Bloch nochmal, daß es ihm nicht um die Verwirklichung irgendwelcher Möglichkeiten, sondern darum geht, gegen jeden Staat sein Utopia entgegenzuhalten, in dem jeder ohne Gewalt ein idealer Staatsbürger ist.

Eine kritische Ontologie können daher nur kritische Staatsbürger genießen, die in ihr die bonmots finden, mit denen sie ihre Unzufriedenheit, d.h. kritische Staatsbegeisterung verschönen: Denn mit ihnen ringt nun die gesamte abendländische, an Kultur so reiche Geschichte ums Humanum. Doch auch Revis(1), die von diesem Ideal träumen und es verschmähen, sich auf eine bestimmte Politik festzulegen, finden bei ihrem – beim Bürgertum als Imponier- und Integrationsfigur anerkannten – Apostel die nötige Legitimation: sie stellen sich in die Kontinuität des fortschrittlichen Bürgertums, weil es hier was zu erben gibt, und können nun jene Barbaren schimpfen, die sich gegen die Demokratie stellen.

 

aus: MSZ 19 – Oktober 1977

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