Altruismusforschung:

Kein Schwein kümmert sich um den anderen


Mit Genugtuung nimmt die MSZ-Redaktion das noch nicht allzulang verflossene Fest der Liebe zum Anlaß, um darüber zu berichten, daß diejenige Wissenschaft, die gemeinhin eher häßliche Seiten des Menschen wie ödipale Vatermordgelüste, Aggressionen und Triebe oder mehr der tierischen Verwandtschaft nahestehende menschliche Eigenschaften bespricht, in einer ihrer Unterabteilungen nun auch Figuren wie dem Hl. Martin (Mantelteiler) oder den Hirten auf dem Felde (arm, aber freigebig) ihr Interesse angedeihen läßt.

Dies allerdings nicht als Nacherzählung frommer Legenden, sondern wie es unserer verwissenschaftlichten Zeit entspricht, unter Aufbietung ihres gesamten methodischen Instrumentariums zur Erforschung der „Altruismusdisposition“ bzw. „prosozialen Verhaltens“.

Prosozial bis aufs Knochenmark

Wie man sieht, genügt das einfache „soziale Verhalten“ mit seinem schönen Doppelsinn, gesellschaftlich gut, ordentlich und wie es sich gehört, wissenschaftlichen Ansprüchen nicht mehr. „Pro“ muß es auch noch sein, das „Soziale“ nicht nur als ihm von Soziologenseite angedichtete Eigenart allen menschlichen Handelns, gesellschaftlich nützlich zu sein (zu sollen), an sich haben, sondern gleich auch noch unmittelbar als Zweck. Obwohl das „pro“ unmißverständlich zu verstehen gibt, was diese Psychologen behelligt, nämlich die Frage der Moral, sparen sie sich mit der Umbenennung in eben ein solches Verhalten den lästigen Forschungsweg zu klären, was Moral ist, und verlegen sich gleich auf Fälle, in denen sie offensichtlich befolgt wird. Die Klage über ein wenig „einheitliches Forschungsgebiet“,

„Sich bereit erklären, Knochenmark zu spenden; Geld für Kinder in Not spenden; einer Frau helfen, die von einer Leiter gefallen ist; für einen anderen bei einer Werkstatt anrufen; einem gestürzten jungen Mann auf die Beine helfen und vieles mehr“,

wiegt deshalb auch nicht schwer. Ist doch zum einen die Einheitlichkeit durchaus gegeben, Nächstenliebe steht zur Debatte, aber eben da, wo sie praktiziert wird, was neben der leider damit gegebenen Vielfalt nächstenliebhaberischer Praxis doch unbestreitbar den Vorteil hat, die Gebote der Moral als existentes menschliches Verhalten besprechen zu können. Während also solche Fälle die erfreuliche Identität von Moral und Handeln zu demonstrieren gestatten, enthüllt das psychologische Interesse für Tugenden, da, wo sie geübt werden, gleich auch seinen Grund in der Sorge, daß dies viel zu selten der Fall ist. Die amerikanischen Urheber dieses Forschungszweigs bekennen, daß das Nicht-genügende-Vorhandensein „prosozialer“ Verhaltensweisen, „Beschränkung des Engagements, Ablehnung, Verweigerung“, cura ardente*(1) den Ausgangspunkt zu ihrer Erforschung – nicht der wenig Nächstenliebe bekundenden Praxis – darstellt.

Es bereitet ihnen daher auch keine Mühe von der Untersuchung der beklagten Umstände Abstand und zur Erfindung einer Fähigkeit Zuflucht zu nehmen, die als Disposition im Menschen unabhängig von Einsicht und Willen automatisch zuschlägt, wenn sie gefragt ist.

Empathie wird einsichtig als ein wirksames und kaum ersetzbares Mittel, das uns dazu befähigt, die wachsenden Probleme des menschlichen Zusammenlebens besser als bisher zu bewältigen.“

Bei seiner Diagnose einige gesellschaftliche Einrichtungen außer acht zu lassen, die ,,das Zusammenleben“ für einen Teil der Menschheit manchmal außerordentlich schwierig gestalten, ist für einen soziologisch geschulten Psychologen natürlich ein leichtes. Die umstandslose Entschleierung des Forschungsgegenstands als Forderung, die der Psychologe an die Menschheit zwecks besserer „Selbst“bewältigung erhebt, womit er ziemlich ruckartig die geläufige Verwandlung von Wissenschaft in Beschwörung dessen, was sein sollte, vollzieht, beruht hier nun auf einer besonderen Seelenverwandtschaft des moralisierenden Psychologen mit seinem Forschungsobjekt. Moral, die Versubjektivierung der Zwänge des Rechtsverkehrs, das Einverständnis mit den Beschränkungen, als Mittel seinen Vorteil gegen andere durchsetzen zu können, hat zwar die überaus dienliche Eigenschaft, die Korrektur des Eigennutzes zu bewerkstelligen. Als diese Korrektur läuft sie jedoch auch Gefahr, durch den Eigennutz zuweilen überrannt oder hintergangen zu werden, der, wenn er staatlicherseits laufend eingedämmt wird, offensichtlich Gründe genug hat, sich zu wehren, weil er bzw. das von ihm besessene Individuum nicht auf seine Kosten kommt. So fungiert die Moral zu gewissen Teilen selbst als das Bewußtsein, was sein sollte, woran man sich aber praktisch nicht halten will oder kann, und ärgert den Psychologen, der – angetreten, die Propaganda der Moral in Gestalt empirischer Forschung, als Nachweis ihrer verbreiteten praktischen Betätigung zu betreiben – von ihr selbst als Heuchelei gelascht wird.


Eine Niere fürs peak-experience

Verärgert über seine Versuchspersonen, die als moralisch geschulte Individuen wissen, wie der Hase läuft, und dazu befragt, sich vorbehaltlos zu den moralischen Prinzipien bekennen oder im Laborexperiment das gewünschte Verhalten reproduzieren, stellt er die Differenz zum „tatsächlichen Verhalten“ fest. Und wo er bemüht ist, zu zeigen,

„daß der Mensch eine höchstwahrscheinlich angeborene (!) Altruismus-Disposition besitzt“

– eine Anregung, die mittlerweile auch die Gen-Forschung dankbar aufgenommen und mit der Entdeckung eines „Sozio-Gens“ beantwortet hat –, stößt er auf den leidigen Umstand, daß das zu Agitationszwecken der menschlichen Natur angedichtete Zeug leider auch ein

„in unserer Gesellschaft sehr erwünschtes, positiv beurteiltes Verhalten darstellt.“

„Verfälschungen z.B. durch Tendenzen zu sozial erwünschten Selbstaussagen sind dementsprechend oft zu erwarten.“

Diese in Gestalt von Methodenproblemen erörterte Form der durchaus unbestrittenen Geltung der Moral wird jedoch einen gestandenen Forscher nicht entmutigen; bei seinem Feldzug für eine jegliche Distanz ausrottende Durchmoralisierung der Menschennatur wird sich per geschickter Versuchsanordnung schon die soziale Tünche von der waldursprünglich-altruistischen Menschennatur trennen lassen. Zumal dieser ja zum Durchbruch verholfen werden muß, denn

„die Probleme und Konflikte unserer heutiger Zeit machen es notwendig, daß wir unsere Kenntnis der menschlichen Natur vertiefen; dazu gehört auch die Beantwortung der Frage, ob Altruismus ein Element der menschlichen Natur ist.“

Wobei diese Frage natürlich keine ist, weil sie ja deshalb gestellt wird,

damit die Entwicklung altruistischer Dispositionen und Verhaltensweisen auf breiter Basis (Arbeitsdienst oder soziales Jahr gefällig?) in Gang gebracht wird.“

Und im Bewußtsein dieser Notwendigkeit führt man an der Altruismusfront auch einen kleinen Krieg gegen die ältere Schwester, die Aggressionsforschung,

„die Erforschung prosozialen Verhaltens stellt in gewisser Weise einen Gegensatz zur Aggressionsforschung dar“,

gerade weil man sich im Grunde einig ist. Nur, das Plädoyer für die Moral, das die böse, triebhafte, aggressive Menschennatur erfindet, um die Notwendigkeit ihrer staatlichen Bändigung zu deduzieren, ist doch heutzutage eine lasche Sache. Nicht bloß Unterwerfung, sondern tätiger Einsatz und Begeisterung für den Verzicht seitens der Opfer steht an, denen man daher ungeahnten Lustgewinn verspricht. Nierenspender z.B. sind der lebende Beweis für die „positiven Wirkungen“ der Moral, dort wo sie sich freiwillig außerhalb des unmittelbar rechtlich geregelten Wohlverhaltens sozialstaatskostensparend bewährt.

„Es ist schließlich in Übereinstimmung mit den höchsten Idealen unserer Gesellschaft, in einer Zeit, die wenig Möglichkeiten zu mutigem und selbstlosem (?) Verhalten bietet, wodurch jemand über sich hinauswachsen kann. Wir fanden, daß unsere Spender durch ihr Verhalten ein Höhepunkt-Erlebnis (peak-experience) (Ausdruck der Drogenszene!) erreicht hatten, oder wie Maslow sagt, eine Erfahrung, bei der das Ist und Sollte eins geworden sind.“

So befreit sich auch noch die Psychologie von dem Verdacht, daß es da, wo sie sich ums Individuum, ums Selbst zu schaffen macht, jemals um etwas anderes gegangen wäre, als um das Selbst zu seiner Selbstlosigkeit zu bewegen und verwendet sich für eine direkte, alle falschen Rücksichtnahmen ersparende Verpflichtung der Individualität auf heldisches Opfer.

Und damit auch kein Zweifel bleibt, wozu das Ist und Sollte identisch sein sollen, nennt die Altruismusforschung unter anderen Aktionen, mit denen Heldentaten der Nächstenliebe begangen werden sollen, auch die Denunziation von Ladendieben und Anzeige von Geldunterschlagung. Der wahre Altruist ein privater Polizist, das ist prosoziales Verhalten, das den Kern der Sozialität trifft, die Bewahrung des Eigentums, die viel Moral kostet, mit dem verglichen wiederum die Mantelteilerei des Hl. Martin doch höchstens eine soziale Aktion darstellt. Aber damals waren natürlich die Probleme des „menschlichen Zusammenlebens“ auch noch nicht so komplex.

Literatur:

Martin L. Hoffmann: „Die Entwicklung eines Motivs, einem anderen, der sich in einer Notlage befindet, zu helfen (Altruismus-Motiv)“

Helmut E. Lück (Hrsg.): „Mitleid – Vertrauen –Verantwortung. Ergebnisse der Erforschung prosozialen Verhaltens.“

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*(1) „Mit brennender Sorge“, Titel einer von Papst Pius XI. 1937 herausgegebenen Enzyklika.

 

aus: MSZ 27 – Januar 1979

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