Herbert Wehner

Die SPD zur Macht gepfiffen


„Die hohe Stimmenzahl für Herbert Wehner signalisierte die ungebrochene Beliebtheit, die der SPD-Fraktionsvorsitzende immer noch bei den Delegierten des SPD- Parteitags und in der Partei besitzt.“ („Süddeutsche Zeitung“ v. 19.11.1977)

Immer dann, wenn die SPD als Staatspartei im Besitz der Regierungsgewalt erfolgreich ist, bzw. die Konzentration aller Kräfte der Partei auf den Erhalt der Regierungsverantwortung gerichtet sind, sozialdemokratische Langzeitziele also etwas in den Hintergrund treten oder, was dasselbe ist, klargestellt werden muß, daß das Ideal des demokratischen Sozialismus halt das Ideal der regierenden SPD ist und sie daher nicht an der Durchsetzung des augenblicklich Notwendigen behindern wird, immer dann erreicht die Popularitätskurve Herbert Wehners in der Partei einen Klimax.

Das ist jetzt so, wo der Kanzler nur auf den Aufschwung und die Stärkung der Staatsmacht achten muß und nicht auf die an sozialdemokratische Reformpolitik geknüpften Erwartungen der Parteilinken, und das war so während des letzten Bundestagswahlkampfs, in dessen Verlauf auch die Jusos stramm auf Kanzlerlinie marschierten und in einer Nacht- und Nebelaktion, quasi als Kompensation für die Frustrationen der Wählerwerbung in der Nacht vor den Wahlen ganz München mit Wehner-Posters verklebten.


Der Mann Wehner: Ein Stück Wegs der deutschen Sozialdemokratie

Die Biographie des mittlerweile 71 Jahre alt gewordenen Herbert Wehner – der Mann versteckt seine Jahre nicht, wie ein Strauß das macht; sondern setzt sie ein mit dem Hinweis, daß er nicht umsonst so alt geworden sein will – repräsentiert für die deutsche Sozialdemokratie ein Stück ihres politischen Wegs, Und der Mann Wehner stellt die Identität der Volkspartei vor, die es geschafft hat ihre staatsgefährdenden revisionistischen Wurzeln als sozialdemokratische Ideale in den demokratischen Kampf um die Staatsmacht der linken Volkspartei einzubringen.

– Der zum Sozialdemokraten geläuterte Ex-Kommunist Wehner ist der lebende Beweis dafür, daß linke Ideale in die Demokratie gehören und nur in ihr zu verwirklichen sind. Mit seiner persönlichen Integrität widerlegt er die Angriffe von rechts, daß „alle Wege des Sozialismus nach Moskau führen“. Im Gegenteil: sie führen nach Bonn und von da aus schnurstracks über die Baracke in den Kanzlerbungalow!

– Aus Verantwortung für den Staat wandelte sich Wehner vom Antifaschisten und Gegner des „CDU-Staates“ vom „Kampf dem Atomtod“ und der Wiederaufrüstung zum Architekten der Großen Koalition, Promotor der Notstandsgesetzgebung bis hin zum Kanzlermacher für Brandt und Schmidt. Die Regierungsverantwortung wurde die der sozialdemokratischen Politik angemessene Verantwortung und das immer gleiche persönliche Engagement, mit dem Wehner seine Wandlungen vertrat und in der Partei als deren Linie durchsetzte, machte ihn zu dem Mann, der mit der entsprechenden moralischen Überzeugungskraft auch die Zweifler in den eigenen Reihen auf Kurs brachte und hält. Weswegen er auch heute der Mann ist, um bei der Durchpeitschung des Kontaktsperrengesetzes den „Dissidenten“ klarzumachen, daß es hier um die Bundesrepublik Deutschland geht und um „sonst überhaupt gar nichts, Herr!“

– daß, obwohl alle Demokraten in einem Boot sitzen, das Schicksal der Nation dennoch davon abhängt, wer das Steuer beim gemeinsamen Kurs in Händen hält, beschwört der Redner Wehner seit fast 30 Jahren im Parlament und im Fernsehen in seinen berühmtberüchtigten Schachtelsätzen. Mit dem Pathos und der Beschimpfung verleiht er dem Parteiengezänk die höhere Weihe eines Ringens um politische Ziele und um die bessere Moral.


Der Redner Wehner: die Suada als moralischer Standpunkt

Weil im deutschen Bundestag alle nur das Eine wollen und ausschließlich über Varianten seiner Durchsetzung streiten, gelten F.J. Strauß und Herbert Wehner als die „farbigsten“ Redner des Parlaments. Wird jedoch beim Bayern der harte Angriff als die zum politischen Geschäft der Opposition gehörige Diffamierung beargwöhnt, mit der er sich gegen die Konkurrenz durchsetzen will, was er in Sonthofen auch offen herausgesagt hat, so sind Wehners Auftritte Bekenntnisse und Abrechnungen zugleich: gefürchtet sind seine moralischen Abqualifizierungen einzelner Abgeordneter, die diese für ihr Amt disqualifizieren sollen, in dem sie ihnen persönliche Rancune statt Verantwortung für den Staat nachsagen („Herr Übelkrähe“ für den CDU-Scharfmacher Wohlrabe!) deshalb, weil derjenige, der sie vorträgt, gerade dann, wenn er aus der parlamentarischen Rolle fällt, so ganz als Mensch Wehner die Maximen darstellt, in deren Namen er seine Rügen austeilt. Während es so von Strauß auch immer wieder Bilder gibt, wo er aufgeräumt mit den eben noch als Saustallanrichter Geschmähten anstößt, kennt man vom privaten Wehner nur das aus dem Parlament bekannte grollzerfurchte Gesicht plus Pfeife im festen Biß.

Grundsatzreden Wehners sind immer solche, mit denen er seine persönliche Integrität dafür in die Waagschale wirft, daß es eigentlich keine Gräben zwischen den Demokraten geben dürfe und, daß es sie trotzdem gibt, der Böswilligkeit derer geschuldet sei, die sie aufreißen. So läßt sich dann eine Differenz zwischen Personen und Parteien herstellen, indem man die Kluft zwischen den politischen Zielen schließt. (Berühmtestes Beispiel dafür war Wehners Rede, mit der die SPD auf NATO, Bundeswehr und atomare Rüstung einschwenkte.) Und wenn es sein muß, kann Wehner auch genau andersherum. Sprichwörtlich war sein gutes Verhältnis zu Kiesinger, als er unter ihm im Kabinett saß, was ihn allerdings nicht daran hinderte im Hinblick auf die Bundestagswahlen den Unterschied „sozialdemokratischer Perspektiven“ zur christdemokratischen „Starrheit“ öffentlich zu betonen und im Wahlkampf selbst den ehemals als „integer“ gelobten Schwaben „König Silberzunge“ zu titulieren. Den Redner Wehner zeichnet so mitnichten aus, daß er irgendetwas anderes sagen würde als seine Kollegen in den anderen demokratischen Parteien; darin wie er es sagt, liegt die Differenz. Seine Glaubwürdigkeit als Person und, die Vehemenz, mit der er sich in alles, was er sagt, einbringt, verleihen ihm das Image eines Mannes, der hinter jedem Wort steht, das er ausspricht. Weil die verhaltene und offen losbrechende Wut, die er in jede Parlamentsdebatte mitbringt, sich öfters in entlarvenden Zwischenrufen entlädt, und seine Reden mit bissigen Bemerkungen über die Charaktere der politischen Szene gespickt sind, genießt er den Ruf, der letzte Polemiker zu sein.


Der Staatsmann Wehner: das Parteiinteresse als Staatsraison

Mit Ausnahme eines kurzen Gastspiels im Kabinett Kiesinger/Brandt hat Herbert Wehner nie Staatsämter bekleidet, und er ist der einzige Bonner Politiker, dem man es glaubt, daß er keine anstrebt. Seine Funktion ist nicht die der Regierung, sondern der stetige Einsatz der Partei für die Regierung, als Parteiinteresse vertreten. Gerade sein selbstloser, von persönlicher Ambition reiner Einsatz für die Partei, prädestiniert ihn für die unangenehmen Pflichten einer Partei gegenüber ihren unbrauchbar gewordenen Repräsentanten. Wehner hat Brandt von Moskau aus abgesägt mit der hinterfotzigen Indiskretion

„Der Kanzler badet gern lau – so in einem Schaumbad.“ (Spiegel Nr. 31/1977)

Wehner hatte erkannt, daß der Friedenskanzler, der seinen Part gut gespielt hatte, als es darum ging, die Erschließung des Ostens mit Aussöhnungs- und Verständigungs-Schmäh dem Wähler schmackhaft zu machen, eine denkbar schlechte Besetzung für die Aufgabe darstellte, die sozialdemokratische Reformpolitik in Zeiten der wirtschaftlichen Flaute durchzusetzen. Selbst über jeden Verdacht erhaben, die Parteiintrigen um der eigenen Macht willen zu betreiben, konnte er nicht nur der Öffentlichkeit gegenüber die Parteinotwendigkeit, ein zugkräftigeres Pferd an die Regierungsspitze zu stellen, als Sorge um das Wohl des Staates darstellen, auch innerhalb der Partei gelang ihm das Kunststück, den von ihm kreierten Friedenskanzler zum labilen Trottel zu degradieren, um ihn dann als jene Integrationsfigur im Parteivorsitz zu retten, die eine Reformpartei braucht, deren praktizierter Sozialidealismus den ständigen Flügelkampf institutionalisiert. Und er selbst, der den Liebling der Partei vom Denkmal gestoßen hatte, legte sich ein paar Falten mehr zu und erhöhte seinen Sympathieanteil in der Partei als einer, der für sie die Dreckarbeit übernommen hat.


Der Parteipolitiker Wehner: Ein Mann für alle Jahreszeiten

Die Besonderheit Wehners, in seiner Persönlichkeit die völlige Identität des Mannes mit der Sache, die er vertritt, zu verbürgen, macht ihn einerseits zum idealen trouble-shooter der SPD, der der Basis gegenüber die Kontinuität der Parteiideale in den letzten Niederungen der Durchsetzung der Staatsräson gegen die im Ideal enthaltene Versprechung garantiert. So ist Herbert Wehner die Partei als ihr oberster Funktionär, und als solcher personifiziert er die Wahrheit des Vorurteils über diesen Typus, dem es nur darum geht, den Apparat so einzusetzen, daß die Partei unter allen Umständen an der Macht bleibt und die Wahl der Mittel sich allein von diesem Zweck her bestimmt. Seine Lehrjahre für diese Funktion hat er in der revisionistischen KPD absolviert und auf dieser Ebene eignet er sich auch vorzüglich als Verhandlungspartner mit den Funktionären der östlichen Staatsparteien, die ihm als kongenialer Kraft mit dem gleichen Respekt begegnen, den das Protokoll für Regierungsmitglieder vorsieht. Aus dem gleichen Grund eignet er sich jedoch nicht zum Repräsentanten, obwohl er das gleiche vertritt, wie der jeweilige Spitzenrepräsentant der SPD. Hierin liegt die Funktion Wehners innerhalb der sozialdemokratischen Führungstroika:

Während Helmut Schmidt (notfalls auch gegen die Partei) dem Wähler gegenüber die Sicherheit darstellt, daß der demokratische Sozialismus Marktwirtschaft und Demokratie optimal verwaltet,

der Parteivorsitzende Willy Brandt nach wie vor der Ausdruck höheren sozialdemokratischen Trachtens ist, der sich beim Berufsverbotsantrag der Parteilinken der Stimme enthält und die Bedenken gegen Atomkraftwerke als Mahnmal in das Regierungsprogramm für ihren Bau einbringt,

geht Herbert Wehner in seiner Funktion als Fraktionsvorsitzender auf: Er sorgt bei den SPD-Parlamentariern dafür, daß sie entsprechend der Einsicht handeln, demokratischer Sozialismus wolle das, was für Deutschland das Beste ist. Auf dem Parteitag bringt er seine Person als Passion den Delegierten zum Opfer, die ergriffen die Notwendigkeiten des Regierens einsehen, so daß selbst Jusos ihr Zu-Kreuze-Kriechen als kämpferischen Akt sozialdemokratischer Solidarität mit der Partei und „Onkel Herbert“ abziehen können.

So ist Herbert Wehner in der Führungsgarnitur der SPD die dauerhafteste und verläßlichste Erscheinung, weil sein Geschick in allen Wechseln der „politischen Landschaft“ nützlich ist. Wenn Reformpolitik bei florierender Wirtschaft „mehr Demokratie wagen“ will, ist das streitbare „politische Urgestein“ von unermüdlichem Einfallsreichtum bei der Polemik gegen  „die Herrn Christdemokraten“, wobei auch durchaus mal böse Worte über „die Herrn von der Industrie“ fallen können, die vor lauter Geschäftemachen nicht einsehen wollen, daß auch die Grundlagen des Geschäfts erhalten und ausgebaut werden müssen. Wenn die Durchsetzung des Konjunkturzyklus mehr Härten als sonst gegen den arbeitenden Teil des Volkes verlangt, damit unsere Wirtschaft wieder hart wird, wettert Wehner mit unverminderter Härte weiter gegen die Opposition, die aus schierem Machthunger nicht zugeben will, daß die SPD alles so macht, wie sie es will, nur besser, was zur gleichen Zeit die eigene Partei davon überzeugt, daß die SPD immer noch die große „linke Volkspartei“ ist und gerade deswegen der Arbeitnehmerschaft einiges zugemutet werden muß: „Ich sehe Sie grinsen Herr Barzel! Grinsen Sie nur. Eine, sozialdemokratisch geführte Regierung wird über die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht mehr stürzen, wie damals, Herr; wo Leute, die Ihnen näherstanden als uns, diese Sache benutzt haben, um Sozialdemokraten eins auszuwischen, das und nur das, wollen Sie doch, und sonst nichts!“ Der Rekurs auf den leidvollen Weg der deutschen Sozialdemokratie zur Macht schlägt genauso Abweichler in der eigenen Fraktion:

„Die große Mehrheit der Fraktion weiß, was sie der Bundesrepublik, unserem Gemeinwesen schuldig ist.“

Dies gegen die Gegner des Kontaktsperrengesetzes, womit „Coppik und Genossen“ bedeutet wird, daß sie gegen's Wohl der Nation und damit gegen die Interessen der SPD sich versündigt haben.


Der Sozialist Wehner: Das Menschenmögliche für die Arbeiterbewegung

414 von 433 abgegebenen Stimmen auf dem Parteitag für Herbert Wehner, das sind 414 Stimmen dafür, daß

„die SPD die Essenz dessen ist, was der alten Arbeiterbewegung vorgeschwebt hatte, in die menschenmögliche Realität umgesetzt.“ (Wehner nach „Spiegel“ Nr, 28/1977)

Weswegen Herbert Wehner sich von ihren revisionistischen Überspanntheiten lossagte, ihre Liebe zum Staat für die reale Demokratie veredelte und das einem Herrn Wehner mögliche tat und tut, daß der Arbeiterbewegung nur noch das vorschwebt, was ihr der Parteipolitiker Wehner vorlebt.

 

aus: MSZ 20 – Dezember 1977

zurück zur Startseite