Günter Richard Wallraff-Kimble Ein dialektisches Geschäft ohne jede Aufklärung
Was wäre Wallraff ohne das schmerzliche Erlebnis, daß „sein bester Freund“ sich von BILD „kaufen“ ließ, um ihn zu bespitzeln? Wer würde denn Wallraff als den Helden der Stunde feiern, wenn es nicht einen BILD- Agenten gäbe, der ihm sage und schreibe „21.400 km“ nachgefahren ist – offenbar mit einem Wallraff-Kilometerzähler auf den Fersen? Insofern haben die ganzen Verfolgungen und Bedrohungen, die dieser Mensch erdulden muß, auch ihre positiven Seiten, liefern sie doch das schlagende Argument für die Richtigkeit und Notwendigkeit seiner BILD- Kampagne – und die dazugehörige Werbung für sein Buch. Daß die BILD-Zeitung ein Blatt ist, dessen Gefährlichkeit in der „Manipulation“ seiner Leser besteht (i.e. der „Arbeitnehmer“), lernt noch jeder Oberschüler; daß er offenbar die „Tricks“, mit denen dieses Blatt angeblich so geschickt umzugehen weiß, durchschaut, auch wenn er noch soviel BILD liest, ist ihm keineswegs Anlaß, das Manipulierungsargument aufzugeben und sich Gedanken über die Gründe für die Beliebtheit dieses Blattes zu machen – im Gegenteil. Voller Verachtung blickt das Pennäler-Bewußtsein auf die Dummheit der Arbeiter herab, die sich von „BILD“ was vormachen lassen. Es sieht sich in seinem (Vor-)Urteil bestätigt, daß die tumbe Masse zu mehr als zum Arbeiten nicht taugt, während ein kritischer SPIEGEL-Leser den vollen Durchblick hat. Anders dagegen Wallraff. Zwar teilt auch er die Auffassung, daß BILD seinen Lesern ein Weltbild aufschwatzt (was deren Blödheit unterstellt), gleichzeitig geht er aber über die Selbstzufriedenheit des gewöhnlichen Intellektuellen hinaus, um das „Meinungsmonopol“ des Springerkonzerns zu brechen. Da er aber die armen „Verführten“, die sich ihre Auffassungen von BILD bestätigen lassen, nicht kritisieren will, verfällt er auf den Gedanken, BILD über die journalistisch um sauberen Methoden, mit denen die BILD-Redakteure ihre Stories zusammenbasteln, anzugreifen: Da gibt es den Fall der „schwarzen Inge“ („die übrigens gar nicht Inge, sondern Ingrid heißt“ – da sieht man wieder, zu welchen plumpen Tricks die BILD-Macher greifen!), deren Freund einen Brauereidirektorssohn entführt und umgebracht hat. Inge wurde daraufhin verhaftet und später freigesprochen. BILD macht daraus eine „Vorverurteilung“, indem sie Inge alias Ingrid zur Sadistin erklärt, die sich eiskalten Blutes an dem Anblick des wimmernden Opfers weidet. Der Freispruch nützte ihr da nichts mehr, weil die Leute sie, durch die BILD-Lügen manipuliert, für eine Mörderin hielten – wodurch sie sich 1. an ihrem Wohnort nicht mehr sehen lassen konnte und 2. ihren Arbeitsplatz verlor. Nun ist daran zwar richtig, daß der moralische Volkszorn ohne den Bericht in BILD oder einer anderen Zeitung nicht gegen Ingrid losgebrochen wäre, und sei es nur nach dem Motto „semper aliquid haeret“. Aber für Wallraff liegt der Fall noch etwas anders: Wäre Ingrid („die im übrigen nicht schwarze, sondern blonde Haare hatte“ – Manipulation, Manipulation!) tatsächlich die Erpresserin gewesen, als die BILD sie schilderte, hätte Wallraff die typische BILD-Masche, auf die er scharf ist, gar nicht unterbringen können. Ihn stört nämlich, daß der Dame durch BILDs Schuld das Leben zur Hölle gemacht wurde, obwohl sie im Grunde doch ein anständiger Mensch war – da ist also ein „Vorurteil“ ohne Hand und Fuß provoziert worden! Der ganze Witz an Wallraffs Besserwisserei ist daher, daß er so tut, als wäre die Bereitschaft der BILD-Leser zur moralischen Verurteilung ihrer Mitmenschen von BILD nicht auflagehalber ausgenutzt, sondern überhaupt erst hervorgebracht worden. Dabei muß die Leserschaft des Blattes, wenn sie sich über – vermeintliche oder tatsächliche – Übeltäter so enorm aufregt, ja wohl schon vorher aus dem eigenen erzwungenen Verzicht den Schluß gezogen haben, strafwürdige Überschreitungen der Grenzen, die der proletarischen Existenz gesetzt sind, auch moralisch für das Unerhörteste auf der Welt zu halten! Wallraffs Kampagne ist also dort, wo sie wirken soll, völlig wirkungslos, nicht zuletzt deswegen, weil ein Prolet weder auf dergleichen Veranstaltungen erscheint noch sich Wallraffs Buch kauft – schließlich weiß er, was er an seiner Zeitung hat: sie bestätigt ihn in all den faschistischen Urteilen über seine Umwelt, die er sich als Resultat seines erfolglosen Konkurrierens so zugelegt hat. Den intellektuellen Lesern bringt die überflüssige „Aufklärung“ dagegen um so mehr, weil Wallraff nicht mit Schmankerln aus der BILD-Zeitung und seinen Recherchen geizt – wenn er z.B. das Abendessen eines Mannes schildert, der wenige Minuten später einen Jungen erschießt: „Es gab Bratkartoffeln mit Rollmöpsen“ – dann amüsiert sich der kultivierte Leser über diese »spießige« Idylle und ist sich sicher, daß man schon zu den „Primitivos“ (von Wallraff mit Empörung reportierte Charakterisierung der BILD-Leser durch die BILD-Redakteure selbst) gehören muß, wenn man auf so etwas einsteigt. Äußerungen über die Gehälter gewisser BILD-Redakteure – „der Soundso verdient 1,3 Millionen im Jahr zuzüglich Spesen“ – die den Leser bei einem Bankdirektor keineswegs stören würden, sind ein weiterer Beweis für die moralische Verkommenheit derer, die die BILD-Zeitung machen, während Wallraff nur DM 16,80 für seine Broschüre verlangt. Daß „Springer ein Duzfreund von Franz-Josef Strauß ist“, ist zwar niemandem neu, sagt aber alles, weil Strauß ja schließlich der Kanzlerkandidat der CDU/CSU ist, den es zu stoppen gilt; im Unterschied zur SPD, deren Repräsentant Klose in Hamburg doch tatsächlich „den Mut hat“, mit seiner soliden Mehrheit im Rücken „dem Springerkonzern die Stirn zu bieten, der mit 80 % Marktanteil die Stadt beherrscht (?)“. Man fragt sich nur, wo bei dieser ganzen CSU-manipulierten BILD-Leserschaft die 50 % SPD-Wähler in Hamburg herkommen! Das Buch ist seit Wochen auf der SPIEGEL- Bestsellerliste: Die Leser haben ihre Meinung, daß für einen aufgeklärten Zeitgenossen die BILD-Zeitung unter allem Niveau ist, von Herrn Wallraff bestätigt bekommen, der Autor hat dem Ganzen eine höhere Weihe verpaßt, indem er auf den guten Zweck hinwies („Wir müssen die Arbeitnehmer von der BILD-Zeitung wegbringen“ – na, bringt mal schön!), und hat sein Buch gut verkauft. Um viel mehr ging es ihm letztlich auch nicht: „Ich kann das jetzt einige Monate bewußt und konzentriert machen, habe aber schon den Stichtag, wo ich das abbreche und etwas Neues vorbereitet habe. Allerdings kann ich auf Grund der Honorare jetzt andere finanzieren (welch edler Mensch!), die diese Arbeit fortsetzen und weitere Schwarzbücher gegen BILD vorlegen werden.” (Wallraff in der „Neuen”) Die haben ja gerade noch gefehlt!
aus: MSZ 33 – Januar 1980 |