Die nächste nationale Debatte – und was man an ihr lernen kann

Atomunfall in Japan

Na klar, jetzt haben es alle schon immer gewusst: Die Atomtechnik ist tendenziell unbeherrschbar. Bis vor kurzem hat man zwar erbittert auf allen Kanälen behauptet, dass Kernkraftwerke heutzutage auf einem solchen Sicherheitsstandard basieren, dass nur ein extrem böser, parteitaktischer, eher noch staatsfeindlicher Wille das in Zweifel ziehen kann. Jetzt, „nach Japan“, ist die Welt angeblich „anders“ geworden.
Man sei eines Besseren belehrt und wisse nun, dass diese „Technik“ es doch ganz schön in sich hat. Schon daran kann man bemerken, dass diese Welt kein bisschen anders ist „nach Japan“ – denn das ist nichts anderes als die nächste Lüge. „Die Technik“ hat nämlich keine Atomkraftwerke bestellt und gebaut und sie hat auch keine Sicherheitskriterien vorgegeben, die mit Erdbeben bis zur Stärke 8 operieren. „Die Technik“ steht mit all ihrem Wissen und ihrer Konstruktionskunst im Dienst einer nationalen Energiepolitik, die für die zuverlässige und kostengünstige Anlieferung des entscheidenden Grundstoffs für kapitalistisches Wachstum und die damit bestrittene internationale Standortkonkurrenz zu sorgen hat. Entweder man macht sich deren Berechnungen klar – dann weiß man auch, gegen was man antreten muss, wenn man solche Schönheiten wie „Restrisiko“, „Strahlengrenzwerte“ oder ein „Endlagerproblem“ nicht so gerne haben will. Oder man lamentiert noch ein paar Jahrzehnte über „die Technik“, wahlweise oder kombiniert mit „dem Menschen“, der zuviel will in der Welt, bzw. einer „Natur“, die diesem überehrgeizigen Geschöpf dann doch in die Quere kommt.

Lesetipp:

Atomkraft im nationalen Energiemix (Gegenstandpunkt 4/10)

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Atomunfall in Japan (2)

In Japan GAU, in Deutschland Hysterie

In Japan passiert ein Super-GAU mit den bereits bekannten und noch gar nicht absehbaren verheerenden Folgen für Land und Leute. Die deutsche Regierung stellt daraufhin ihre bisherige Energiepolitik, die die Atomenergie im nationalen Energiemix für die nächsten 40 Jahre nicht missen will (eine so genannte „Brückentechnologie“ also, die in regierungsamtlicher bundesrepublikanischer Sprachregelung auch noch als „umweltfreundlich“ und bis auf ein winziges Restrisiko als „sicher“ zu gelten hat), auf den Prüfstand. Am japanischen Atomunfall ist ihr aufgefallen, dass diese Technologie, die doch den deutschen Standort voranbringen sollte in seinem unbegrenzten Heißhunger nach Energie als Mittel für kapitalistisches Wachstum, tatsächlich einen unerwünschten „Neben“-Effekt haben kann, den sie sich bisher als statistisch völlig unwahrscheinlich kleingerechnet hat: Womöglich schadet der Einsatz dieser Technik dem Standort in einem Ausmaß, dass erhebliche Teile von Land und Leuten als brauchbare Ressource für Wachstum dauerhaft kaputtgemacht werden.

Mal dahingestellt, welche Konsequenzen die Regierung, die ja nicht gerade zimperlich bei der Bemessung von zumutbaren Schadenswerten im Sinne der Brauchbarkeit für kapitalistisches Wachstum ist, aus ihrem Moratorium ziehen wird – ein Thomas Wels von der WAZ ist jedenfalls stinksauer:

„Nirgendwo auf der Welt hat die Katastrophe derlei Hysterie ausgelöst wie bei uns. Die CDU löst einen Werte-Kern nach dem anderen auf, die FDP bringt sich gleich selbst um. Panik-Politik pur… Was heißt es, wenn plötzlich die FDP in einer Hundertachtziggradwende ein aus ihrer Sicht bisher kalkulierbares Risiko binnen Tagesfrist als nicht mehr tragbar empfindet? ... Das Blankziehen, ohne Diskussion, ohne Rechtsgrundlage frei nach dem Notstandsmotto ‚Huch, da ist ein Restrisiko’, wird die Republik verändern.“ (WAZ vom 30.3.)


Hysterie „bei uns“, damit meint ein abgebrühter Zeitungsschreiber wie Thomas Wels natürlich nicht die Angst der kleinen Leute vor der Atomkraft.  „Bei uns“, das ist natürlich bei den maßgeblichen Instanzen, also mitten in der Regierungskoalition, und da will er gar keine staatliche Kalkulation nationaler Energiepolitik mehr entdecken können, sondern bloß noch blanke Hysterie. Die Regierung ist, statt von japanischen und anderen Katastrophen unbeirrt auf bewährtem Atomkurs zu bleiben, zu einem „amtierenden Hühnerhaufen“ verkommen, der vor jedem bisschen Restrisiko wie eine hysterische Jungfrau vor der Maus zurückschreckt und der „gesellschaftlichen Stimmung die Hoheit überlässt“ – da muss ein tapferer Maulheld wie Thomas Wels die Regierung mal daran erinnern, dass Demokratie eine Form von Herrschaft ist, also Führung angesagt ist.  Sonst geht nämlich „bei uns“ alles den Bach runter:

„Der Trend heißt Biedermeier-Idyll, das Risiko Wohlstandsverlust.“

Angesichts dieses Risikos muss ja wohl jedes Restrisiko zumutbar sein. Also weiter so, Deutschland!

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„Bad Bank“: Viel Geld zur Rettung der Banken

+ gratis eine Lektion über die Verrücktheit des Kapitalismus als Dreingabe

Ungefähr so soll man sich das denken: Die Krise zieht sich hin, weil die Geschäfte einfach nicht wieder in Gang kommen. Das kommt daher, dass die Banken, „Lebensader unserer Wirtschaft“, die Geschäftsleute nicht mit dem Kredit versorgen, den die brauchen. Das tun sie nicht, weil sie auf „vielen Giftpapieren“ sitzen, weshalb zwischen ihnen wie im Umgang mit der restlichen Geschäftswelt einfach „kein Vertrauen mehr“ ist. Klar daher, dass der Staat ihnen unbedingt wieder zu dem und darüber uns allen aus der Krise verhelfen muss: Ein „ultimativer Schritt zur Rettung der Banken“ unter dem Titel 'Bad Bank' soll das leisten.

So etwas gab es hierzulande noch nie, auch ist der Aufwand bedenklich hoch. Aber erstens ist er unumgänglich - „die Zeit drängt.“ Zweitens ist das Modell eine „bestechende Idee“, und drittens ist es gar „nicht unlogisch“, wie die Krise da vom Staat angepackt wird: Den Zweck, Banken von ihren „schlechten Papieren“ zu entlasten, erledigt eine eigens zu dem Zweck gegründete Zweckgesellschaft, das ist sehr logisch. Eine Extra-Bank verbucht Wertpapiere, die keinen Wert haben, als ihr Vermögen, reicht es in Form von Anleihen, deren Wert der Staat garantiert, an die Banken zurück, und das besticht: Die haben „wieder sanierte Bilanzen“, können einander „wieder vertrauen“ und „das Kreditgeschäft beleben“. So kann die leidige Krise dann auch wieder mal aufhören.
Das ist nicht gerade wenig, was man sich da irgendwie als plausibel, jedenfalls aber als dringend geboten einleuchten lassen soll.

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Der zu immer neuen Sprachbildern („Sondermüll“ etc.) geronnenen schlechten Meinung über die Qualität der Geschäftsartikel, die die Banken sich da als gewinnverheißende Vermögensform zugelegt haben, ist eines sicher nicht zu bestreiten: Für den Zweck, für den sie erfunden wurden, taugen sie nichts mehr. Diese feinen „strukturierten Papiere“ der Bankhäuser sind, wie die Fachleute glaubhaft versichern, „kritisch“. Was sich hinter den Kürzeln des Fachjargons, den mittlerweile jeder beherrscht, verbirgt, ist „schwer bewertbar“, „kaum veräußerbar“, es sind „wertlose Giftpapiere“, die möglichst „rasch entsorgt“ werden sollen. Dieselben Fachleute berichten allerdings auch über äußerst seltsame Probleme, die sich im Zuge dieser Entsorgung einstellen: „Schrottpapiere“ einfach wegwerfen wie Schrott? Um Himmels willen! Das kommt keinesfalls in Frage, „toxischen“ Sondermüll dieser Art verbrennt man nicht einfach, nein, da braucht es eine ganz spezielle Sonderdeponie.

Denn die Entsorgungsschwierigkeiten bei dem Müll beginnen schon mit der interessanten Frage, von wie vielen Giftpapieren das Vermögen der Banken durchsetzt ist. Das ist deshalb so schwer zu ermitteln, weil man dazu ja wissen müsste, welche Papiere „toxisch“ sind und welche nicht, und das ist den Zetteln, die neben den – noch – als astrein geltenden Anleihen bei den Banken lagern, einfach nicht anzusehen: Was sie aktuell wert sind und ob überhaupt noch etwas, wie viel sie demnächst wieder wert sein könnten oder ob sie für immer wertlos bleiben – das alles steht auf ihnen nicht drauf. Indizien fürs Spekulieren darüber mag es, wie für alles, für die Profis des Wirtschaftens mit Schulden und Risiken reichlich geben. Doch für diese Anhaltspunkte ihrer Kalkulationen gilt dasselbe wie für den Stoff ihrer Spekulation: Was der wert ist, wird von ihnen praktisch entschieden, und zwar dadurch, dass sie mit ihm ihren Handel treiben. Nur tun sie das gerade nicht, die sonst übliche Konkurrenz zwischen Anbietern und Nachfragern, die den Preis der Handelsware 'Wertpapier' ermittelt, ist von ihren Agenten selbst suspendiert worden, und warum, ist kein großes Geheimnis. Banken in ihrer Eigenschaft als Käufer kaufen voneinander nichts, weil sie fürchten, sich statt einer sich automatisch vermehrenden Geldquelle einen wertlosen Zettel an Land zu ziehen.

In ihrer Eigenschaft als Verkäufer machen sie sich mit ihren reichlich vorhandenen Angeboten gar nicht erst auf Kundensuche, weil sie fürchten, in Gestalt ausbleibender Nachfrager definitiv die Wertlosigkeit ihrer Handelsartikel bescheinigt zu bekommen. Und wer die zur Saldierung seiner Konten gleichwohl verkaufen muss, senkt damit den Preis der verkauften Warengattung und dezimiert seinen Besitzstand gleich weiter. So absolut verrückt geht es zu in einer freien Marktwirtschaft, der besten aller Welten: Mit Wertpapieren wird nicht gehandelt, weil sie nichts wert sind, und sie sind nichts wert, weil mit ihnen nicht gehandelt wird! Schon das ist absurd. Noch absurder ist, welche verheerenden Folgen dies nach sich zieht: Weil Schulden in Gestalt von Papieren mit dem verbrieftem Versprechen, demnächst mehr wert zu sein als heute, keinen Interessenten mehr finden, der über ein 'Investment' in sie reicher werden will, läuft auch gleich im ganzen Rest dieser feinen Wirtschaft nichts mehr so, wie es soll. Produzenten und Händler ganz handgreiflicher Gebrauchswerte und am Ende auch noch der Haushalt des Staates geraten in die Krise – weil Leuten, die mit Zetteln ohne Gebrauchswert und Wert handeln, die Geschäftsgrundlage ihrer Bereicherung entfallen ist!

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Exakt dieser marktwirtschaftliche Irrsinn wird mit der Zweiteilung jeder zu rettenden Bank in eine 'Bad Bank' und in eine entlastete Good Bank am Leben erhalten, koste es, was es will. Ein gigantischer Aufwand wird eigens zu dem Zweck betrieben, möglichst nichts von dem fiktiven Kapital der Banken, das sich als wertlos herausgestellt hat, auch als wertlos abzuschreiben. Statt dessen wird eine nach allen Regeln der Kunst der Bilanzfälschung hinkonstruierte juristische Fiktion von Werthaltigkeit auf das wertlos gewordene Bankvermögen draufgepflanzt – in Gestalt einer Schattenbank, die offiziell mit einem Bankrott ihre Geschäftstätigkeit aufnimmt, genau darüber aber die Restbank vor selbigem retten und ihr die Grundlage weiterer Geschäftsfähigkeit stiften soll. Damit die Banken wieder ins Plus kommen, dürfen sie das Minus in ihren Bilanzen bei einer Gesellschaft mit dem sinnigen Geschäftszweck verstauen, entwertete Geldvermögen 20 Jahre lang bei sich als Reichtumsquellen im Wartestand zu lagern – wenn der Staat sich der Sache annimmt, geht kapitalistische Geldvermehrung in erstaunlichem Umfang auch einfach per Bundesgesetz! Im Gegenzug für die Abwrackprämie in Höhe von 10% des Buchwerts der wertlosen Zettel, für die sie in dem Fall selbst aufkommen müssen, erhalten die Banken dann wieder reichlich von dem Stoff, mit dem sie sich und den Rest der Volkswirtschaft in die Scheiße gewirtschaftet haben: Neue Schulden, für deren Güte diesmal nicht Phantasie ihrer Strukturierungskünste, sondern die Staatsmacht bürgt - die sie deswegen auch wieder gut und nach allen ja prima bewährten Regeln ihres Gewerbes als Quelle der Geldvermehrung in ihrer Hand verwenden können! Das ist die banale Sache, die in dem blöden Bild von der „Lebensader“, an der wir alle hängen, so perfekt erschlagen wird. Das ist der Zweck, für dessen „Rettung“ der Staatsmacht einfach nichts zu teuer ist. Und wer sich da ans Hirn greift und fragt, in welcher Welt er denn eigentlich lebt, liegt allemal richtig. Er sollte nur nicht aufhören mit dem Fragen, denn was ist schon die Gründung  einer 'Bad Bank' gegen den Irrsinn des Geschäftsprinzips, für dessen Fortbestand sie sorgen soll?!

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Wenn die Experten der Bankenrettungskonzepte aus Politik, Wirtschaft und Medien ein ums andere Mal versichern, dass ohne ein saniertes Bankenwesen kein Wachstum läuft, dann kann man das ja auch einmal für sich stehen lassen – und sich fragen, welch merkwürdige Art von Reichtum in so vorbildlichen Marktwirtschaften wie der unseren dann mit einem florierenden Bankgeschäft aufblüht. Das wird dann offenbar exakt derjenige sein, der in genau diesem Geschäftszweig zur Blüte gelangt. Schulden als Ware zu handeln, geliehenes Geld in Vermögenstitel mit eingebautem Wachstumsversprechen zu verwandeln und gewinnbringend an den Mann zu bringen – das ist die Quelle des Reichtums, ohne deren Funktionieren es keinen anderen gibt! Fanatiker des Wachstums von BIP- und Exportziffern geben selbst zu Protokoll, von welchem allerersten Prinzip das Geschäftsleben in dem von ihnen angehimmelten Laden regiert wird. Fremdes Geld als Geldquelle für sich wirken zu lassen, es als diese in beliebig vervielfältigte Formen zu bringen und die zu verkaufen und zu kaufen – nein, das macht nicht nur die Händler dieser Ware reich: Das ist zugleich das Lebenselixier der ganzen übrigen Wirtschaft, einschließlich der Schuldner selbst! Und das ist für den ganzen Rest dieser großartigen Marktwirtschaft die Klarstellung, dass er sich auch als Erfüllungsgehilfe dieser Sorte Reichtumsvermehrung zu bewähren hat. Es ist die Lektion darüber, dass die in der Welt des Finanzwesens exekutierten Gleichungen – a) Geld ist mehr Geld und b) Geld wegzugeben, um das Recht auf mehr Geld in Händen zu halten, ist die Methode aller Methoden der Reichtumsmehrung – die Regie über all das führen, was sich in der sog. 'Realwirtschaft' als Kommandomacht des Geldes entfaltet. Denn sie sagen es ja selbst: Wenn diese Gleichungen nicht mehr aufgehen, unterbleibt eben an vielen Stellen das Einkaufen von Produktionsmitteln und Arbeitskraft, und dass in diesem Zug bei der Beschaffung der Mittel zum Lebensunterhalt aller gewöhnlicher Geldverdiener erst recht manches unterbleibt, versteht sich für ohnehin von selbst.

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Der Verdacht, dass 'Geld die Welt regiert', begleitet die Marktwirtschaft ab und an auch dann, wenn sie nicht in der Krise ist. Ist sie dies, nimmt der Verdacht gelegentlich auch als Vorwurf moralisch Gestalt an. Das ist nicht gut. Man sollte dieser Welt, die einem mit der Erfindung von 'Bad Banks' dermaßen klare Lektionen darüber erteilt, worauf es in ihr ankommt, einfach keine unpassenden Vorwürfe machen. Besser, man nimmt nüchtern und sachlich den Inhalt der Lektion zur Kenntnis – und dann stößt man von selbst auf die Entdeckung, dass Geld, näher: Geld in seiner Bestimmung, mehr zu werden, für etwas anderes als die Welt zu regieren gar nicht da ist. 'Bad Bank': alle Absurditäten dieser Konstruktion zur Rettung des Bankwesens, der gigantische Aufwand, mit dem sie ins Leben gerufen und dann 20 Jahre lang durch es gepflegt wird, all das stellt klar, wie unbedingt und unerbittlich das Regime des Geldes, der Sachzwang seiner Vermehrung das Leben der Marktwirtschaft kommandiert. Und wenn man das kapiert hat, hat man einfach keine Lust mehr, dieses Leben mit dem blöden Urteil zu begleiten, es wäre nicht gerecht, weil es in ihm doch eigentlich um etwas anderes ginge.

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Blüm und Geißler – diese beiden!

In einer professionell betreuten Öffentlichkeit müssen natürlich auch kritische Stimmen ihr Recht haben. In dieser Funktion dürfen Norbert („Die Rente ist sicher!“) Blüm und Heiner („Freiheit statt Sozialismus!“) Geißler momentan durch Talkshows und Interviews irren und ihre Ansichten vortragen. Die beiden werden vorgestellt als so ungefähr das Radikalste an Systemkritik, was jenseits von Sarah Wagenknecht denkbar, sprich: öffentlich-rechtlich erlaubt ist. Und sie gelten als besonders glaubwürdig, weil sie früher zu den Machern des Systems gehörten, an dem sie jetzt öffentlich zweifeln. Letzteres jedenfalls tun sie genüsslich – und beweisen damit, dass die Marktwirtschaft in ihrer Produktivität einfach nicht zu schlagen ist: Selbst Kritik ist in ihr billig zu haben, billiger geht’s wahrscheinlich echt nicht.  

Norbert Blüm zweifelt am Kapitalismus

„Eine durchkapitalisierte Gesellschaft ist eine bodenlose Gesellschaft ... Heimatlos ist der moderne Arbeitnehmer ... Arbeit ist Arbeitskraft und sonst nichts.“ (SZ, 25.9.)

Blüm klagt in der SZ lauthals darüber, dass Geld die Welt regiert: Die Gesellschaft ist „durchkapitalisiert“, der Arbeiter reduziert auf seine „Arbeitskraft, sonst nichts“. Ein guter Witz – schließlich hat er jahrelang als Arbeitsminister die deutschen Arbeiter darauf zurechtgestutzt, dass sie als Arbeitskraft für die Bedürfnisse des Kapitals funktionieren und ihre Bedürfnisse nach Geld und Arbeitszeitverkürzung nichts gelten! Sind nicht gerade die Regierungszeiten von Blüm & Co. die Aufstiegszeiten des deutschen Kapitalismus gewesen? Und haben Wirtschaft und Staat damals andere Zielsetzungen verfolgt als Steigerung von Profiten und deutschem Einfluss auf der Welt?

Diese Behandlung des deutschen Proletariats wurde nach Blüms Zeiten mit aller Härte weiter verfolgt und hat in der Agenda des „Forderns und Förderns“ ihre konsequente Fortsetzung gefunden. Deren Folgen findet Blüm bedauerlich, die heutige Gesellschaft gefällt dem Politopa nicht mehr. In welcher Hinsicht eigentlich? Ihm fällt auf, dass der moderne Arbeiter „heimatlos“ geworden ist. Angesichts aller Härten, die das heutige Arbeitsleben oder Existieren à la Hartz-IV für das moderne Prekariat auf Lager haben, wälzt dieser Mann ganz ungeniert die Frage, ob sich der auf seine Arbeitskraft reduzierte Arbeiter in dieser durchkapitalisierten Gesellschaft eigentlich noch zu Hause fühlen kann! Und kommt dabei zu dem Besorgnis erregenden Befund: Nein! Der Kapitalismus hat sein gutes Ansehen bei denen, die er schädigt, verloren.

Na und? Wenn es so wäre? Warum soll man eigentlich im Kapitalismus und dessen staatlicher Schutzmacht seine alternativlose Heimat sehen? Für unseren Geschmack jedenfalls sehen die Geschädigten der „durchkapitalisierten Gesellschaft“ ihre Heimat viel zu sehr in diesen Verhältnissen!

Heiner Geissler fordert einen humanen Kapitalismus

„Ein Konzept zu entwickeln, das jungen Menschen eine Perspektive bietet – eine Humanisierung des Globalisierungsprozesses. Und das in einer Zeit, in der die Menschen in der Zeitung lesen müssen, dass ein einzelner Aktienhändler Milliarden verzocken kann oder dass der Börsenwert eines Unternehmens steigt, wenn es Leute wegrationalisiert ... Heute ist die Solidarität gefährdet – die Solidarität zwischen Alt und Jung, Arm und Reich, Deutschen und Ausländern, Frauen und Männern. Diesmal geht die Gefahr vom ungezügelten Kapitalismus aus ... Solidarität statt Kapitalismus. ...Die CDU ist die Mutter der sozialen Marktwirtschaft. Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Kommunismus.“ (Geißler im Interview SZ, 15.7.)

Der Kapitalismus muss wieder humaner werden, die Globalisierung sozialer, die CDU muss sich an ihre Vorväter und die „soziale Marktwirtschaft“ erinnern – das ist in der Krise en vogue. Und ihr Geißler sagt es schon seit ein paar Jahren. An allen Schönheiten, die diese Wirtschaftsweise so mit sich bringt (und die so neue nicht sind) – Hungernde in der 3. Welt, verwahrlostes Prekariat in Deutschland, krachende Banken – entdeckt der Mann immer wieder dasselbe. Und zwar genau das, was ihm schon die Jesuiten in der Schule beigebracht haben. Es fehlt schlicht an der richtigen Einstellung! Profitgier + gnadenloser Egoismus + mangelnde Solidarität sind schuld am Elend in der Welt. Die Rettung liegt dann auf der Hand. Alle müssen sich besinnen auf ihre Verantwortung! Alle müssen aufeinander Rücksicht nehmen – so wird die Marktwirtschaft wieder human und sozial!

Eine niedliche Kindergartenvorstellung – wenn alle ein bisschen nett zueinander sind, wäre die Welt so viel schöner! Als wüsste ein Politiker vom Schlage Geißlers nicht sehr genau, dass sich in der Marktwirtschaft ziemlich gegensätzliche Interessen gegenüberstehen – und nicht einfach Leute mit mehr oder weniger Verantwortungsbewusstsein füreinander. Als wüsste er nicht, dass „Freiheit“ (statt Sozialismus!) gerade darin besteht, dass alle sich um ihren Vorteil bemühen und gegen alle andere um ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum konkurrieren sollen.

Wer davon einfach gar nichts zur Kenntnis nehmen will und nur alle auffordert, die destruktiven oder unsozialen Seiten ihres staatlich gewollten Egoismus zu bedauern und gegebenenfalls ein bisschen abzumildern, der kommt erstens ganz und gar antikritisch daher! Und zweitens enorm kindisch. Wie soll es denn aussehen, wenn ein Unternehmen nicht nur an seine Gewinne, sondern auch noch „sozial“ denkt? Ein Kindergarten neben der Fabrik gefällig? Ein Lohnprozentchen mehr? Und wie soll eigentlich ein Börsianer Rücksicht aufs große Ganze nehmen? Hunderttausend Euro weniger verdienen? Wer hat eigentlich davon etwas – außer dem komischen Drum namens Gerechtigkeitsgefühl, das einen dann alle anderen Zumutungen besser aushalten lässt!?
Heiner Geißlers Kritik verhält sich zum Kapitalismus, wie die Armentafel zum Hedgefond. Gehört einfach dazu!

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Chinas Politiker in Berlin zu Besuch

Wieder mal die „gelbe Gefahr“

Juni 2011: Eine chinesische Regierungsdelegation ist auf Staatsbesuch in Deutschland. Viele Wirtschaftsverträge im Volumen von Milliarden Euro werden unterschrieben. Wen Jiabao kündigt weitere chinesische Investitionen in Deutschland und anderen europäischen Ländern an und verspricht „Hilfe für den Euro“. Merkel sieht ein „neues Kapitel der deutsch-chinesischen Beziehungen“ aufgeschlagen …
 
Die BILD-Zeitung informiert das deutsche Volk

In der Öffentlichkeit sind jede Menge warnende Stimmen zu hören. Schon vorbereitend hält die BILD-Zeitung das deutsche Publikum vier Tage lang in Atem mit einer Serie über „Die China-Invasion“, die da auf uns zurollt: „Wie die größte Wirtschaftsmacht der Welt Europa aufrollt und wie gefährlich das für uns Deutsche werden kann“. Aha. So soll man diese Kiste also sehen. China wird gleich vorsorglich zur „größten Wirtschaftsmacht der Welt“ erklärt. In Wahrheit sind das natürlich nach wie vor die Amis. Und deren Investitionen bei uns und deren sonstige Invasionen in der Welt hält die Bildzeitung normalerweise auch gar nicht für so grässlich – aber die USA sind eben nicht China. Da läuft der Hase anders: „Für uns Deutsche“ ist dieses Land nämlich möglicherweise „gefährlich“, weil es „Europa aufrollt“. Schon interessant, wie da der Bildzeitungs-Leser angesprochen wird, wenn er morgens in der Straßenbahn oder in der Frühstückspause sein Lieblingsblatt aufschlägt. Was hat er denn für ein Problem mit chinesischen Investoren? Und ist Europa ohne chinesische Investoren eine prima Sache für seine Arbeiter und seine Arbeitslosen? Müssen die „ihre“ Firmen verteidigen? Dagegen, dass demnächst vielleicht ein neuer Boss mit Schlitzaugen dieselben innovativen Ideen wie bisher auch gegen sie auffährt: weniger Lohn, längere Arbeit für die, die noch gefragt sind, Abbau von Arbeitsplätzen für die, die sich nicht mehr lohnen?

Frei und ohne jede staatliche Zensur agitieren deutsche Pressefritzen – und nicht nur die von BILD! – in ihren Sendungen und Seiten dafür, den Besuch der chinesischen Regierung als deutsche Patrioten zur Kenntnis zu nehmen. Und nicht nur das. Alle Mann, ob Hartzer, Hausfrau oder Hauptschullehrer, sollen sich sozusagen schon beim Frühstück geradezu hautnah vorstellen, welche Herausforderung sie gemeinsam mit der Kanzlerin zu bestehen haben. Die stellt sich so dar: Europa und auch Deutschland brauchen diese gefährlichen Chinesen und ihr Geld gerade jetzt ziemlich dringend – es geht also schlicht nicht, die angebliche „gelbe Gefahr“ einfach rauszuhalten aus unserem schönen Kontinent. Andererseits muss man auf diese generös zu „strategischen Partnern“ erklärten Kommunisten verdammt aufpassen, sonst war’s das für die deutschen Weltmachtambitionen.
 
Schwierige Aufgabe für die deutsche Regierung

Die deutschen Politiker, Merkel, Westerwelle & Co., arbeiten sich praktisch an diesem Problem ab, dieser widersprüchlichen Interessenlage ihrer Nation. Sie wollen die chinesischen Investitionen einerseits haben und nutzen für deutsches Wachstum und die Rettung ihres Euro-Projekts. Andererseits versuchen sie die darin liegende Gefahr, dass China aus der gewissen Verlegenheit der Euro-Staaten politisch Kapital schlägt und in seinem Sinn ausnutzbare Abhängigkeiten stiftet, möglichst gering zu halten. Sie streben eine gewisse Kontrolle bei chinesischen Investitionsplänen an (Opel etwa soll nicht in ihre Hände fallen). Und sie bestehen politisch darauf, dass die Volksrepublik sich an westliche Gepflogenheiten zu halten hat und sich so berechenbar macht, wenn sie mit „uns“ gedeihlichen Geschäftsverkehr und „strategische“ Beziehungen haben will (dafür steht die mahnende Erinnerung an die Menschenrechte, die sich der chinesische Ministerpräsident anzuhören hatte).

(Ausführlich zu dieser imperialistischen Problemlage: „China will Weltmacht werden“, Gegenstandpunkt 3/06 )
 
Schützenhilfe von der deutschen Presse

Die deutschen Meinungsprofis begleiten ihre Regierung wie immer konstruktiv-besorgt mit ihren Ratschlägen. Unisono fordern sie auf allen Kanälen, dass sich die Kanzlerin und ihre Minister nichts gefallen lassen sollen von den „immer mehr auftrumpfenden“  Chinesen. Bloß keine falsche Schüchternheit bei Menschenrechtsforderungen! Es ist zwar gar nicht richtig klar, was es eigentlich im Hinblick auf die beschworene Gefahr der gelben „Shoppingtour“ ändern soll, wenn in Peking ein Ai Weiwei zukünftig nach deutschem Vorbild rechtsstaatlich einwandfrei verurteilt wird. Dennoch wissen diese journalistischen Politikberater eines offenbar ganz sicher: Man muss diesem neuen politischen Schwergewicht kräftig ans Schienbein treten. Das umso mehr, als es etwas wirklich Besorgniserregendes zu vermelden gibt: Diese kapitalistischen Kommunisten machen dasselbe wie wir – nur besser! Das, was jahrzehntelang unser Ding war – an anderen Ländern zu verdienen und sie politisch in Abhängigkeiten hineinzumanövrieren –, das können diese Asiaten inzwischen auch:

„Bisher profitierten Europa und dabei ganz besonders Deutschland stärker von den chinesischen Marktbedingungen (billige Arbeitsplätze, Hunger nach Hochtechnologie), als China Nutzen aus der Technologie und dem Entwicklungsvorsprung der Europäer ziehen konnte. Dies soll sich nun ändern. Da aber die neuen Investoren aus China ihre eigenen (!) Regeln mitbringen, wird es immer wieder zu einem Zusammenstoß der unternehmerischen Kulturen und Wertvorstellungen kommen.“ (SZ, 28.6.2011)

Zwar werden auch in Zukunft nicht so sehr „Kulturen und Wertvorstellungen“ zusammenstoßen, sondern die gegensätzlichen Interessen der beteiligten Unternehmen und Staaten, aber es ist klar, worauf die Rede hinausläuft: Die deutsche Presse registriert besorgt, dass sich auf der Welt etwas grundlegend geändert hat im Kräfteverhältnis. Es ist nicht mehr so, dass wir einseitig profitieren, nicht mehr unsere Spielregeln gelten ganz selbstverständlich! Was ist da schief gelaufen? Tatsächlich ist es einem – und zwar ausgerechnet einem ehemals kommunistischen! – Entwicklungsland gelungen, sich mal so zu „entwickeln“, wie der freie Westen es seinen entkolonialisierten Zöglingen immer großzügig verheißen hatte. Und genau das lässt alle im Dreieck springen. Ob man vor dem „chinesischen Freund“ warnt, der seine „Muskeln spielen“ lässt (FAZ), vom „Kaufmann aus Peking“ spricht (die liberale SZ mit einer Anspielung auf Shakespeares anrüchige Figur) oder ob man – wie die BILD-Zeitung – eben gleich ins Kriegsvokabular verfällt („Invasion“, Griechenland als „Brückenkopf“, hinter allem ein großer „Plan“ der „neun alten Männer“, zur Weltspitze zu gelangen): Alle denken intensiv nach darüber, ob und wie man diesen weltpolitischen Unglücksfall noch irgendwie in den Griff kriegen kann. Das wird schwierig, heißt die allgemeine Analyse. Aber schon mal Stimmung machen gegen China, das geht doch immer.

Lesetipp:
• Renate Dillmann, China – ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen realsozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt eines neuen Kapitalismus und den Aufstieg einer Weltmacht, Hamburg 2009, VSA-Verlag

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