Kulturhauptstadt Ruhr 2010:
Ein Gesamtkunstwerk eigener Art
Nach der Schicht essen die Kumpel „anner Bude“ eine Currywurst, sind stolz auf ihr Tagwerk, ihre Heimat und auf ihr eigenes anspruchslos-kerniges Naturell. Dazu stoßen sie mit einem heimischen Pils an. Dieses prolet-romantische Sittenbild im Widerschein von Hochöfen und Kokereiabstichen hat Herbert Grönemeyer schon vor 28 Jahren besungen. Im Jahr 2010, die meisten Hochöfen sind längst aus und die Zechen stillgelegt, ist das Ruhrgebiet gemeinsam mit Istanbul und Pécs (Ungarn) zu einer der europäischen Kulturhauptstädte ernannt worden. Ansehnlicher geworden ist es seit dem Lied von damals jedenfalls nicht, eher noch mehr herunter gekommen. Der zur offiziellen Ruhr-Hymne gekürte aktuelle Nachfolgesong vom gleichen Sänger drückt den gleichen Gedanken aus wie der alte, ist nur noch schlechter.
Es liegt also nahe, den Grund für die erstaunliche Begeisterung und Entschlossenheit, eine buchstäblich „Pott“-hässliche urbane Industrieruine irgendwie attraktiv oder zumindest kulturell interessant zu finden, woanders zu suchen. Und der wird von der europäischen Idee der Kulturhauptstadt geliefert: Kultur ist Vielfalt, Europa ist Vielfalt, Europa ist Kultur. Also ist das „Europa der Regionen und Kulturen“ jedes Jahr ein paar Stätten und Feiern wert und man muss es einfach gut finden. Aber ja doch, auch und erst recht so etwas wie das Ruhrgebiet, den deutschen „melting pot“ von westfälischen Bauern, polnischen Bergleuten, anatolischen Tagelöhnern und bulgarischen Nutten. Die große Industrie hat das alles an der Ruhr mal zusammen geholt und sich dienstbar gemacht. Warum also soll man dies nicht auch mal als kulturelle Leistung sehen, stolz darauf sein und es zum Vorbild für ganz Deutschland und Europa hernehmen?
I. Was ist eigentlich eine Kulturhauptstadt?
Schon beim ersten Hinsehen fällt auf, dass eine „europäische Kulturhauptstadt“ deswegen so heißt, weil sie keine wirkliche Hauptstadt ist, in der regiert, geherrscht oder sonstwie Politik gemacht würde. Geschweige denn eine wirkliche europäische Hauptstadt, denn über die verfügt der Staatenbund aus 27 Mitgliedern gar nicht. Vielmehr streiten in der EU laufend die souveränen Staaten darüber, wer wem welche Politik aufzwingen und dadurch eigene nationale Vorteile herausholen kann. Ein gemeinsamer politischer Wille und die daraus erwachsende Fähigkeit, mit denen über die europäischen Grenzen hinaus regiert werden kann, muss immer wieder neu hergestellt werden. Dazu wurde dieser Verein mal erfunden, daran arbeitet er sich seitdem aber auch ständig ab, nach außen wie innen.
Ganz anders auf dem Feld der Kultur. Auf diesem Feld kann und will man die politische Einheit, bei der noch nicht feststeht, wo ihre wirkliche Hauptstadt, ihr wirkliches Machtzentrum liegen wird, ideell schon einmal vorwegnehmen – ein gleich doppelt charmanter Einfall.
Erstens ist Europa dem Rest der westlichen Welt auf diesem Feld nämlich automatisch überlegen, da der Ursprung von deren Kultur dank einer Laune der Geschichte nun mal zweifelsfrei auf dem alten Kontinent liegt. Was das angeht, können die USA und andere also wirklich nicht mit Europa mithalten. So jedenfalls sehen es die Europäer. Daher taugen ihnen ihre merkwürdigen „Kulturhauptstädte“, die jeweils mindestens ein paar hundert Jahre Geschichte vor sich hertragen, auch ganz wunderbar dazu, Europas gewissermaßen ältere Rechte selbstbewusst nach außen zu demonstrieren.
Zweitens hätte man gerne, dass die Veranstaltung nach innen dazu beiträgt, das stets vermisste europäische Identitätsgefühl zu erzeugen – dafür eignet sich die in Szene gesetzte Idee, Europa sei im Grunde ein kulturelles Gesamtereignis, natürlich besser als ein paar Wahrheiten über dieses imperialistische Konkurrenzprojekt, Kultur hübscht schließlich enorm auf.
II. Was feiert der Staat mit seiner Kulturhauptstadt?
Auch diese schöne Idee, die mit der kulturellen Vielfalt seiner Städte und Regionen die Eintracht Europas bebildern will, kommt natürlich nicht aus ohne Konkurrenz, Eifersucht und Streit – und das auf allen denkbaren Ebenen. Zwar ist ausgemacht, dass jedes EU-Land (und sogar auch solche, die sich um eine Mitgliedschaft erst bewerben oder der EU nur nahe stehen) mal dran kommt; und weil es inzwischen so viele Länder sind, gibt es seit einiger Zeit sogar zwei oder drei Kulturhauptstädte pro Jahr. Städte und ihre Kulturdezernenten spechten in der Ausschreibung dann aber wie bei vielen anderen Gelegenheiten auch auf die nationalen und internationalen Geldtöpfe, mit denen sie Bekanntheit, Image und die Zahl asiatischer Touristen steigern können. Und die Staaten lesen an der Behandlung der Kandidaten, die sie ins Rennen schicken, ab, ob und wie es ihnen gelingt, ein Stück ihrer nationalen Folklore zum respektierten Bestandteil europäischer Leitkultur zu machen. Insofern feiert denn auch jede Nation, wenn sie es mit dem nötigen Gekungel und Druck geschafft hat, für ein Jahr eine europäische Kulturhauptstadt auf ihrem Boden vorzeigen zu können, vor allem erst einmal sich selbst und ihre eigene Vortrefflichkeit.
Deutschland begreift sich in dieser Frage natürlich sowieso als Mutter der Kultur und hat überhaupt kein Problem damit, diesen Anspruch auch durch eine extrem abgetakelte Region repräsentieren zu lassen. Und wie es so geht in unserer freien Öffentlichkeit: Urplötzlich und ohne jedes staatliche Kommando sind alle dabei! Zeitungen und Fernsehen sehen das Ruhrgebiet mit völlig neuen Augen und finden seine hässlichen Städte voll von interessanten und liebenswürdigen Details; auf einer bombastisch inszenierten (und sorgfältig vor Störern geschützten!) Eröffnungsfeier vergleicht der für die Kampagne verantwortliche Fritz Pleitgen sein Kind „Ruhr 2010“ mit New York, ohne das im geringsten ironisch zu meinen; und abends ermitteln die Tatort-Kommissare im Umfeld der „Zeche Zollverein“, damit auch wirklich jeder mitkriegt, was hier gerade angesagt ist.
III. Was bietet „Ruhr 2010“?
„Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ heißt das Motto, mit dem man die Auswahlkommission angeblich schwer beeindruckt hat. Und wenn man schon unbedingt so will, dann stimmt es natürlich, dass das Ruhrgebiet wie nix sonst in Deutschland davon zeugt, wie man Land und Leute für die jeweiligen Interessen von Kapital und Staat nutzbar macht und ihnen den dafür nötigen „Wandel“ aufherrscht – ob man im 19. Jahrhundert polnische Bauern in den Zechen verheizt, Kanonen für Deutschlands große Kriege gegossen, nach dem 2. Weltkrieg für das deutsche Wirtschaftswunder geschuftet hat oder heute, nach dem „Strukturwandel“, in schicken kleinen Technologiezentren gutes Geld verdient, während ein gutes Viertel der Bevölkerung sich mit Hartz-IV durchs Leben schlagen muss.
Ruhr 2010 als europäische Kulturhauptstadt – das ist also vor allem die Feier eines großen „Trotzdem“: Das Ruhrgebiet ist kulturlos – genau das definiert man einfach um zu seinem ganz besonderen Vorzug und feiert seine Zechen- und Fabrikruinen als „Industriekultur“. Seine Menschen sind arm, aber sie sind stolz darauf, dass sie hart schuften und dabei anständig bleiben. Sie sind dumm, aber sie können noch jeden akademisch gebildeten Journalisten damit beeindrucken, dass sie den ganzen Laden lässig durchschauen – und das seit Generationen. In dieser Eigenschaft – als unverwüstliche Malocher, die alles mitmachen und trotzdem obenauf bleiben – liebt ihr Herbert sie dann offensiv:
„Wo man gleich den Kern benennt
und das Kind beim Namen kennt
Von klarer offner Natur
Urverlässlich, sonnig stur
Das ist Ruhr,
Seelenruhr
Von schwerverlässlicher Natur
Urverlässlich, sonnig, stur ...“
Und das fassen die Besungenen (leider) kein bisschen als Beleidigung auf, sondern feiern sich glatt noch selbst.
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Lehrstück Arbeitsplatz
Die Krise kommt bei Opel an
Die Opel GmbH ist in der Krise. Absatzzahlen sind eingebrochen, der Muttergesellschaft GM droht vielleicht sogar die endgültige Pleite. Deshalb hat Opel in Deutschland Staat und Länder um Bürgschaften und andere Hilfen gebeten. Allen Beteiligten ist schon jetzt klar, dass die Rettungsmaßnahmen für Opel Konsequenzen für die Belegschaft mit sich bringen – und zwar keine angenehmen. Woher wissen das eigentlich alle – möglicherweise sogar bevor irgendein konkreter Plan öffentlich wird? Das wissen alle aus ihrer kapitalistischen Lebenserfahrung: Die „abhängig Beschäftigten“ heißen schließlich so, weil sie abhängig sind vom Erfolg ihrer Firma. Diese Abhängigkeit bekommen sie ständig zu spüren. Wieviele Arbeitsplätze es bei Opel gibt, ob Neueinstellungen vorgenommen, Überstunden bzw. Kurzarbeit angesagt oder Kündigungen ausgesprochen werden, richtet sich ganz danach: dem „Gang der Geschäfte“. Wenn es dem Betrieb schlecht geht – wie jetzt in der Krise –, dann geht es auch den Arbeitern und Angestellten schlecht, weil sie ihren Job und damit ihr Einkommen verlieren oder (im günstigen Fall) Lohneinbußen hinzunehmen haben.
Sich deshalb Sorgen um Opel zu machen und für die Rettung des Unternehmens einzutreten, weil man von ihm abhängig ist, ist jedoch ein Fehler.
• Zunächst einmal: Die umgekehrte Gleichung – geht es Opel gut, geht es auch seinen Arbeitern gut –, ist sowieso noch nie aufgegangen. Dass ein Unternehmen in Jahren fetter schwarzer Zahlen freiwillig die Löhne mal so richtig dick erhöht, mehr Leute einstellt, damit die Arbeiter, die sich für den Erfolg krumm gelegt haben, es gemütlicher angehen lassen können – solche Nachrichten gibt es aus den Konzernzentralen nie. Eher die dauernde Ansage, dass man den erreichten Stand durch mehr Anstrengungen im nächsten Jahr erhalten muss, weshalb die Löhne auf alle Fälle niedrig bleiben und die Zahl der Arbeiter gesenkt werden muss...
• Als nächstes: Gut geht es dem Geschäft von Opel nicht unbedingt, wenn es viele Autos verkauft. Gut geht es Opel, wenn der Verkauf eines Autos viel Gewinn bringt und das hängt davon ab, wie hoch die Kosten im Verhältnis zum Verkaufspreis der Autos sind. Als ein Teil dieser Kosten gehen die Löhne der Belegschaft in diese Rechnung ein. Ihre Billigkeit ist also die Grundlage für geringe Kosten und damit für einen hohen Überschuss. Niedrig sind die Kosten auch dann, wenn mit möglichst wenig Beschäftigten eine möglichst große Anzahl an Autos hergestellt werden können. Das führt zu permanenten Veränderungen am Arbeitsplatz und zur ständigen Steigerung der Arbeitsbelastungen, die Arbeiter und Angestellte zu spüren bekommen.
• Schließlich: Das schönste Auto und Billigkeit sowie Willigkeit der Arbeitnehmer ist nichts wert, wenn – wie jetzt – die Autos unverkäuflich sind, weil alle Autofirmen das Gleiche gemacht haben: Alle haben ihre Produktion gesteigert und rationalisiert, um mit immer weniger Mitarbeitern immer mehr Autos herzustellen. Wenn das eingetreten ist, die produzierten Autos nicht abgesetzt werden können, werden diese natürlich nicht verschenkt, sondern landen auf Halde und die „lieben Mitarbeiter“ werden erst in Urlaub und dann eventuell zum Arbeitsamt geschickt. Die verbleibenden Arbeiter dürfen dann für noch weniger Geld mit noch mehr Anstrengung mehr Autos herstellen.
Das alles kennen die Opelaner übrigens zur Genüge. Mit genau diesen Verfahren hat Opel in den letzten Jahren immer wieder seine Unzufriedenheit mit den laufenden Geschäften bewältigt und sich in die Gewinnzone katapultiert. Genau dasselbe sieht für die Opel-Arbeiter ein wenig anders aus: Mit seiner Erfolgsstrategie brockt Opel ihnen nämlich eine Art Dauerkrise ein. Erstens ist ihre Existenz dauerhaft unsicher – keiner hat es in der Hand, wie sein Arbeitsplatz morgen aussieht und ob er ihn überhaupt noch „hat“. Und zweitens findet jeder eigentlich immer Finanzkrise bei sich im Portemonnaie vor. Sein Lohn richtet sich ja kein bisschen danach, was er zum Leben braucht, sondern was die Firma ihm zugesteht, damit sie einen möglichst großen Gewinn mit seiner Arbeit erzielen kann.
Im Unterschied zu anderen Wirtschaftssubjekten können die Arbeiter allerdings nicht darauf hoffen, dass ihre Krise irgendwen alarmiert und zu Rettungsaktionen nötigt. Ein Opel-Arbeiter kann nicht zu seinem Vermieter gehen und seine Krise geltend machen, um die Miete zu senken. Seine Not zieht da ebenso wenig wie bei Lidl oder Rewe. An deren Preisen kann er nichts ändern – sehr im Gegensatz zu den Preisen für seine Arbeit, an denen Opel ständig dreht.
Die Krise – ein neues Argument für dasselbe Spiel
Schon in Zeiten „normaler Konjunktur“ zeigt sich also dauernd, was für ein Mist es ist, wenn man seinen Lebensunterhalt in einem kapitalistischen Unternehmen verdienen muss: Nichts daran ist sicher, so dass man sein Leben ein bisschen planen kann. Alle Nase lang steht der Lohn in Frage, kommen Verschlechterungen ins Gespräch, damit der Betrieb mit seinen Notwendigkeiten zu Potte kommt. Und all die technischen Errungenschaften, die Opel sich zulegt, sorgen nicht dafür, dass die Arbeit kürzer und spürbar angenehmer wird – was an schwerer körperlicher Anstrengung erleichtert wird, wird durch einseitige Belastung und Stress ersetzt.
Jetzt aber „ist Krise“ – und die will Opel dadurch bewältigen, dass es eine neue Runde von Zumutungen bei der Belegschaft durchsetzt. So ist z.B. im Gespräch, dass es eine 30-Stunden-Woche für die Opelaner geben soll. Ein paar Stunden Freizeit mehr hätte sicher jeder gerne – nur darum geht es nicht. Die Senkung der Arbeitszeit findet statt zur weiteren Senkung der Lohnkosten. Wie selbstverständlich erklärt dieser Vorschlag einen Teil des notwendigen Lebensunterhaltes der Belegschaft einfach zum Luxus, den man jetzt streichen kann und muss, weil der Betrieb in Not ist. Die Belegschaft wird als das behandelt, was sie ist, ein Anhängsel des Betriebs, über das Opel frei verfügt.
Für Opel ist diese Abhängigkeit ein Mittel: Dass die Leute lebensnotwendig auf einen Arbeitsplatz angewiesen sind, benutzt die Firma permanent, um sie zu erpressen, um das Verhältnis von Lohn und Leistung so einzurichten, dass es sich für ihre Gewinnproduktion lohnt. In der Krise will sie damit vor allem eines hinkriegen: Im Unterschied zur Konkurrenz überleben – dafür sollen sich die Arbeiter alle notwendigen Maßnahmen auf ihre Kosten gefallen lassen.
Nicht erst daran stellt sich für die Arbeiter heraus:
Ihr Arbeitsplatz ist das einzige, was sie „haben“ – und genau deswegen alles andere als ihr Mittel.
Diese Lehre könnte man auch aus den Kämpfen der letzten Jahre ziehen, in denen die Belegschaft immer wieder harte Einschnitte hingenommen hat, um ihre Arbeitsplätze langfristig zu sichern. Das hat sie jede Menge extra-tariflicher Leistungen gekostet und ihr längere Arbeitszeiten, weniger Pausen und härtere Leistungsanforderungen eingebracht. Das dafür gegebene Versprechen ist eine ziemlich windige Sache: Wenn die Bilanz des Betriebes nicht stimmt, ist es nämlich (wie jetzt) nichts wert – das nächste Arbeitssicherungs- oder Krisenbewältigungsprogramm steht an.
Übrigens: Einen staatlichen „Schutzschild“ für Arbeitnehmer in der Krise gibt es auch schon! Der muss gar nicht erst eingerichtet oder gefordert werden: Die Agentur für Arbeit, früher Arbeitslosenversicherung, erwartet mit ihren Serviceleistungen alle die, bei denen das Arbeitsplatzversprechen von Opel nicht so ganz gegriffen hat ... ____________________________
Stichwort: Nation
Nation ist eine ebenso elementare wie wirkmächtige Ideologie vor allem bürgerlicher Staaten, mit der eine Einheit von Staat und Volk behauptet wird. Das tatsächliche Herrschaftsverhältnis – der Staat unterwirft seine Gesellschaft per Gewalt, verpflichtet sie auf die Geltung des Eigentums und richtet sie damit als Klassengesellschaft ein –, wird umgedeutet in eine vor-staatlich begründete Gemeinschaftlichkeit, der die bürgerliche Staatsgewalt dient und der sie durch Gründung des nationalen Staats Ausdruck verleiht.
In der Definition ihrer nationalen Ziele geben Staaten ihre „raison d’être“ programmatisch nach innen wie außen bekannt. Die praktizierte Zustimmung ihrer Bürger und ihr darauf basierender Erfolg in der Konkurrenz der Nationen macht das staatliche Wunschdenken wahr (oder nicht). Die Ideologie einer Identität von Herrschaft und Beherrschten wird so zur realen Gewalt.
Bürgerliche Staaten setzen Macht und Mittel dazu ein, ihre Gesellschaft der Geltung des Eigentums und seiner Vermehrung zu unterwerfen. Sie verwalten die damit ins Leben gerufenen Gegensätze produktiv und setzen sich nach außen für die Förderung der Geschäftsmöglichkeiten ihrer Unternehmer ein, um ein Wirtschaftswachstum in Gang zu bringen, an dem sie partizipieren.
Seit der französischen Revolution, also mit Durchsetzung des bürgerlichen Staats, ist der Nationalstaat die übliche Form der Staatsgründung. Der territorialen Abgrenzung nach außen entspricht im Inneren die Konstitution des Staatsvolks. Sie beruht einerseits auf der gelungenen Durchsetzung einer zentralen Staatsgewalt gegen alle partikularen (feudalen, stammesmäßigen, ethnischen, religiösen etc.) Sonderinteressen und der Verpflichtung aller Bürger auf die Geltung des Eigentums. Darin erschöpft sie sich allerdings nicht. Bürgerliche Herrschaft verlangt von ihren Untertanen mehr als pure Unterwerfung unter die Gewalt einer Obrigkeit und ihrer Gesetze: ein auf Wille und Bewusstsein basierendes, bis in die Gefühlswelt reichendes Verpflichtungs- und Zusammengehörigkeitsverhältnis. „Italien ist gemacht, jetzt müssen wir Italiener machen“ (Massimo d’Azeglio, Mitbegründer des modernen italienischen Nationalstaats). Zusätzlich zu der realen Zuständigkeitserklärung, die die Staatsgewalt gegenüber den Bürgern praktiziert, indem sie sie mittels Pass und Unterwerfung unter ihre Vorschriften (Recht) und Ansprüche (Steuern, Wehrpflicht etc.) zu „ihren“ macht, legt sie deshalb Wert auf eine fest verankerte ideologische Deutung dieses Herrschaftsverhältnisses. Das leistet der Gedanke der Nation bzw. die Stiftung einer nationalen Identität.
1. Die Staatsgewalt, die ansonsten das Recht setzt, beruft sich in dieser Konstruktion auf die Nation als ihren sie verpflichtenden Auftraggeber. Damit ist eine höhere, der Staatsgewalt selbst unverfügbare Rechtsqualität fingiert. Das von der politischen Klasse Gewollte wird so in den Rang eines Imperativs erhoben, der schon mit der Existenz des Staates (in manchen Fällen sogar schon vorher) gegeben sein soll. Rechtfertigende Umwege über Moral, nachweislichen Nutzen für die Untertanen oder sonstige „sachfremde“ Gesichtspunkte entfallen. Mit „Nation“ wird ein absoluter Rechtstitel des staatlichen Handelns eingeführt. Die tatsächlich stattfindenden politischen Aktionen werden davon gedanklich unterschieden; sie verstehen sich als Dienst an diesem unwidersprechlichen Oberzweck und werden daran gemessen.
Das ist der Inhalt der „nationalen Sache“, mit der jedes politische Tagesgeschäft seine prinzipielle Weihe erfährt.
2. Als ideeller Auftraggeber, als „eigentlicher“ Souverän, ist „das Volk“ gedacht. In dieser Logik werden die sozialen Charaktere der bürgerlichen Gesellschaft – Arbeiter, Bauern, Groß- und Kleinhändler, Fabrikanten Bankiers, Rentiers und Rentner – die sich realiter durch eine Reihe von Unterschieden und Gegensätzen auszeichnen, ideell zu einer Einheit zusammengefasst. Dabei wird nicht geleugnet, dass die diversen „Volksgenossen“ ihre Mitgliedschaft in der Nation sehr unterschiedlich genießen bzw. bezahlen; dies wird nur anders gedeutet: als unterschiedlicher Dienst, den die gesellschaftlichen Stände der gemeinsamen „Sache“ bringen.
Als „nationales Kollektiv“ wird die Manövriermasse der Staatsgewalt zweitens zum Subjekt all dessen ernannt, was ihre Herrschaft mit ihr anstellt. Alles, was mit ihm geschieht, wird dem Volk als seine „Geschichte“ zugeschrieben. Die Ergebnisse politischer Herrschaft, die sich einen ganzen Menschenschlag zum Mittel macht, werden so verwandelt in den gemeinschaftlichen Lebensprozess eines fiktiven kollektiven Subjekts.
3. Diese ideologischen Umdeutungen der Klassengesellschaft und ihrer staatlichen Betreuung erfahren keine Zurückweisung. Sie sind geglaubtes Allgemeingut und fester Bestandteil bürgerlichen Selbstverständnisses.
Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft verfolgen ihre Interessen als die sich wechselseitig ausschließenden von Privateigentümern; ihr individueller Nutzen kommt nur als Schädigung der anderen zustande. In der Konkurrenz um Geld neigen sie dazu, die Freiheit des Eigentums ihres Gegenübers zu missachten, was ihnen umgekehrt als Gefährdung ihres Eigentums, ihres Lebens und ihrer Freiheit durch die Mitbürger erscheint. Statt „nationaler Zusammengehörigkeit“ und „Gemeinschaft“ nehmen sie von diesem Standpunkt aus die Gesellschaft, auf die sie angewiesen sind, als Hauen und Stechen wahr („bellum omnium contra omnes“). Um ihre Interessen als Privateigentümer zu wahren, wollen sie die Unterwerfung der Gesellschaft unter eine Staatsgewalt, die zwar auch ihre persönlichen Interessen rechtlich und ökonomisch beschränkt (Gesetze und Steuern), dadurch aber die allgemeine Anerkennung und Aufrechterhaltung von Person, Eigentum und Gesellschaft, die sie zu ihrem Vorteil ausnutzen wollen, garantiert.
So ordnen sie sich der Gewalt, die sie auf die eigen-tümliche Art und Weise ihrer Interessenverfolgung festgelegt hat, berechnend unter. Sie denken egoistisch an sich – und begründen damit ein Verhältnis prinzipieller Loyalität gegenüber der Instanz, die ihr „Leben“ in der kapitalistischen Ökonomie tatsächlich erst möglich macht. Und zwar klassenübergreifend: Auch wenn nur eine Minderheit der bürgerlichen Gesellschaft materiell auf ihre Kosten kommt, brauchen tatsächlich alle ihre Mitglieder die politische Gewalt und ihre Aktivitäten. Der moderne „soziale“ Kapitalismus hat es dabei soweit gebracht, dass gerade die materiell Geschädigten auf nichts so sehr angewiesen sind wie auf die sozialstaatliche Betreuung ihrer Armut.
Das vom Staat durch seine Eigentumsordnung erzwungene Bedürfnis seiner Bürger nach einer gewaltsamen Betreuung ihrer Konkurrenz, begründet also „Einsichtigkeit“ und Wirkmächtigkeit des ideologischen Deutungsangebots. Ihre praktische Abhängigkeit von seiner Gewalt übersetzen die Bürger in die Vorstellung einer Einheit von Volk und Staat in der Nation, damit in das Bild einer dienstbaren, fürsorglichen Staatsgewalt. Das antagonistische Verhältnis der konkurrierenden Privateigentümer ergänzen sie um das Ideal einer unverbrüchlichen nationalen Gemeinschaft: Brüderlichkeit.
Zwischenfazit: „Nation“ stiftet gegenüber dem schäbigen Alltag der konkurrierenden Interessen in der Klassengesellschaft und ihrer Verwaltung durch die politische Gewalt den nötigen und passenden Sinn. Bei alledem soll es sich um einen Dienst am Gemeinsamen und Höheren handeln – so sollen vor allem die materiell Geschädigten das, was sie schädigt, auffassen und sich zu weiteren Opfern animieren lassen. In diesem Sinne funktioniert „Nation“ wie eine säkularisierte Religion.
Staat und Volk entwickeln dabei das Bedürfnis, der Lüge von der Einheit, dem nationalen Kollektiv, praktischen Ausdruck zu verleihen. Ein Bundespräsident, nationale Gedenktage, Museen deutscher Geschichte, Feiertage deutscher Kultur bieten und verlangen die Identifikation des einzelnen mit „seiner“ Nation ebenso wie die Spiele der deutschen Fußballnationalmannschaft. Der einzelne kann und soll sich als Teil eines viel bedeutenderen Ganzen erleben und durch dessen Erfolge, Niederlagen sowie Symbole seiner Selbstdarstellung (Flagge, Hymne) zu tief empfundenen Gefühlen gerührt werden.
Im Staatsbürgerschaftsrecht erhebt der bürgerliche Staat die Ideologie einer an „seinen“ Menschen auffindbaren nationalen Identität zur praktischen Leitlinie seiner Gesetzgebung. Er definiert über biologische (ius sanguinis) oder territoriale (ius soli) Kriterien, welche Individuen zu ihm gehören. Von diesen scheidet er alle anderen als Untertanen fremder Herrschaft. Soweit sie sich in seinem Territorium aufhalten wollen, unterzieht er sie seinem Asyl- oder Ausländerrecht, stellt sie damit unter einen generellen Vorbehalt und stattet sie mit minderen Rechten aus. Seine Staatsbürger können sie nicht aus eigenem Willen und Beschluss heraus werden – einem Staat kann man nicht „beitreten“ wie einem Sportverein. Wie auch immer Staaten das im Einzelfall regeln – stets liegt einem solchen Akt der Zulassung der staatliche Anspruch zugrunde, dass die neuen Bürger ihm ab sofort ihre unbedingte und vor allem ungeteilte Loyalität schulden.
Nach außen, im Verhältnis der Staaten untereinander, stellt die Berufung auf die Nation im Katalog diplomatischer Instrumente einen hohen und entsprechend unwidersprechlichen Rechtstitel dar. Moderne Staaten gehen untereinander ein Verhältnis berechnender Anerkennung ein, um ökonomisch gegeneinander zu konkurrieren. Daraus entspringen eine ganze Reihe von Gegensätzen (im Handel, Geld- und Kapitalverkehr etc.), die die Staaten zu ihrem Vorteil zu „regeln“ versuchen; dafür setzen sie die ökonomischen ebenso wie die politischen (und als „ultima ratio“ militärischen) (Erpressungs-)Mittel ein, die ihnen zu Gebote stehen. Entsprechend viel haben moderne Staaten diplomatisch zu verhandeln. In diesen Verhandlungen ist neben konkreten Gegenständen immer auch sehr prinzipiell der Respekt Thema, den sich die Staaten als Nationen „überhaupt“ entgegenbringen – oder verweigern. An der Behandlung des Botschafters, der die Nation vertritt, an der Häufigkeit von Staatsbesuchen, am Kultur- und Jugendaustausch, an den Texten von Schulbüchern – an allem lässt sich vorführen oder ablesen, wie die eigene die fremde Nation schätzt oder missachtet (und vice versa). Nationale Symbole sind ein ebenso ernstes Thema wie Kriegsschuldfragen, die noch nach Jahrzehnten aufgetischt werden; und nationale Rechtstitel wie die Berufung auf eine deutsche Minderheit, die es irgendwann im Mittelalter mal irgendwohin verschlagen hat, werden je nach Bedarf aus der Tasche gezogen – was lächerlich klingt, es aber nicht ist. Die materielle Substanz liegt darin, dass sich in solchen Kindereien der Stand der imperialistischen Konkurrenz von Staaten um Über- und Unterordnung ausdrückt. Wenn Nationen „vitale Interessen“ tangiert sehen oder nationale Rechtsansprüche auf Gebiete und Menschen ins Spiel gebracht werden, ist allen beteiligten Parteien die Unbedingtheit des vorgetragenen Anspruchs klar, der keine Kompromisse erlaubt und den Übergang zur gewaltsamen Auseinandersetzung in sicht trägt bzw. naherückt.
Das Auftreten einer Nation in der Welt liefert ihren Bürgern Material, sich als gute Patrioten zu erweisen. Erstens werden sie für die Konkurrenzinteressen ihrer Nation praktisch in die Pflicht genommen – in „friedlichen Zeiten“ hauptsächlich ökonomisch, in den daraus resultierenden gewalttägigen Auseinandersetzungen um die Weltordnungskompetenz ihres Staates als dessen Personal. Die wirkliche Konkurrenz der Staaten übersetzen sich ihre Bürger zweitens in ein Bild von dieser; je nach Lage, Weltbild und Geschmack vergleichen sie Zahlungsbilanzen oder sportliche Leistungen, harte Währungen, Lebensstile oder Kulturen. Im Normalfall sind die Bürger selbstbewusst-stolze Angehörige ihrer Nation – und treten im Ausland oder gegenüber Ausländern entsprechend unangenehm auf; kritisch gestimmte Gemüter sind enttäuscht oder schämen sich (etwa für Untaten der Vergangenheit) und unterstreichen damit nur, für wie hervorragend sie ihre Nation eigentlich halten.
Die bürgerliche Erklärung von Nation behauptet eine vorstaatliche Gemeinschaftlichkeit einer Gruppe von Menschen, die sich in der Nation die ihr gemäße Wirklichkeit schafft.
Als Kriterien, die diese Menschen verbinden bzw. von anderen unterscheiden, werden Sprache, Geschichte und Kultur genannt – was logisch nicht haltbar ist. Weder ergeben sich aus diesen Momenten zwingend Nationalstaaten (siehe die diversen deutschsprachigen Staatengebilde), noch sind Nationalstaaten notwendig auf ihr Vorhandensein angewiesen (siehe die Schweiz als dreisprachigen Staat). Bei näherer Betrachtung erweisen sich Sprache, Geschichte und Kultur vielmehr als vom nationalen Staat hergestellte Momente, mit denen (unter anderen) er eine Summe von Menschen zu seinen Bürgern macht. Eine einheitliche Sprache beispielsweise setzt er im Normalfall als gemeinsame Hochsprache gegen alle überkommenen Mundarten durch. Werke von Dichtern und Denkern werden zu Bestandteilen einer nationalen Kultur erklärt, gleichgültig dagegen, ob sie diese Qualität als Gedicht, Musikstück oder Gedanke an sich haben oder nicht. Und zu „ihrer“ gemeinsamen Geschichte kommen Menschen normalerweise dadurch, dass ein Staat sie als Mittel seiner Erfolge und Niederlagen in Anspruch nimmt.
Sprache, Geschichte und Kultur haben insofern den Stellenwert von Bildern, die veranschaulichen, dass der nationale Zusammenhang zwischen Menschen seinen Grund nicht im banalen Umstand ihrer Unterwerfung unter eine staatliche Gewalt hat, die sie per Pass zu ihren Untertanen macht.
Moderne Betrachtungen des Themas Nation argumentieren funktionalistisch. Sie bemerken, dass es sich beim „Mythos Nation“ um eine „Konstruktion“ handelt, die ein Staat in die Welt setzt, um den nötigen sozialen Zusammenhalt seiner Gesellschaft zu stiften. Im Normalfall ist das allerdings weder als Kritik an der „nationalen Identität“ gemeint noch ist es Auftakt zu der Frage, warum Staat und Gesellschaft einen verlogenen „Mythos“ als sozialen „Kitt“ benötigen. |
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