Der Ruf nach Gerechtigkeit
Fester Bestandteil des gesunden Volksempfindens
Die Menschheit hat sich mehrheitlich mit ziemlichen Widerwärtigkeiten herumzuschlagen – viel Arbeit, wenig Geld, schlechte Wohnungen, laute Straßen. Interessant ist, wie sie all das überhaupt zur Kenntnis nimmt und wie sie über all das nachdenkt. In unserer Gesellschaft, in der alles staatlich geregelt und verwaltet ist, jedem Interesse also irgendwo ein Recht zugrunde liegt, denken die Menschen am liebsten nach, indem sie alles in Gerechtigkeitsfragen verwandeln. Sie fragen etwa: Wieso kriege ich für meine Arbeit weniger Geld als der Typ neben mir? Wieso haben unsere Nachbarn die bessere Bude, obwohl sie gar kein Kind haben? Wieso also ist die Welt so ungerecht?
Unzufriedenheit mit einem Schaden tritt in dieser Art zu denken also sofort auf als eifersüchtige Gehässigkeit gegen andere, die sich zwar meist in einer ziemlich ähnlichen (Klassen-)Lage befinden, es aber in einer Kleinigkeit besser getroffen haben als man selbst. Das ist eigenartig und erklärenswert. Wie kommt es dazu?
• Man muss vor allem sehr fest glauben, in einer Gesellschaft zu leben, in der es „eigentlich“ und „letztlich“ für alle gut ausgehen soll – bei allen anerkannten Unterschieden von oben und unten. Aus der staatlich verordneten Konkurrenz um Reichtum mit all ihren tagtäglichen Gegensätzen und der Benutzung massenhafter Armut dafür, dass ein paar Reiche immer reicher werden und das dazugehörende Staatswesen immer mächtiger, wird durch diese moralische Umdeutung so etwas wie ein Gemeinschaftswerk bezüglich Arbeit und Versorgung.
• Wer so denkt und damit gegen alle Realität beharrlich an dem Bild festhält, das diese Gesellschaft natürlich gerne über sich verbreitet, ist dann sein Leben lang enttäuscht darüber, dass er „trotz“ Leistung nicht viel rauskriegt und sich für sein ehrlich verdientes Geld nur ein schäbiges Leben leisten kann.
• Wer so denkt, kommt dann auch stets auf die Idee, sich nach „oben“ zu wenden und unter Berufung auf die Leistung, die er mit seiner Arbeit, der Erziehung seiner Kinder oder einem Ehrenamt im Sportverein erbracht hat, eine „entsprechende“, sprich gerechte Entlohnung, den Erhalt seines Arbeitsplatzes oder Rücksichtnahme auf sonstige (selbstverständlich ehrbare!) Anliegen einzufordern.
• Für ihn wird aus dem gesamten Sozialstaat, mit dem die Politik dafür sorgt, dass die notwendig anfallende Armut nachhaltig nützlich bleibt für ihre kapitalistische Reichtumsproduktion, die fürsorgliche Unterstützung von in Not Geratenen, für die er allerdings meist selbst eine einschränkende Bedingung formuliert: „unverschuldet“ sollte sie schon sein, die Notlage.
• Die mit schöner Regelmäßigkeit eintretende Tatsache, dass die Masse der Leute zu nix kommt, stellt sich dann nicht als das Funktionieren dieser Gesellschaft dar, sondern als eine Art von Versagen, für das man folgerichtig irgendwelche Schuldige sucht. Das sind in dieser Logik Figuren, die sich am großen Ganzen, für das man selbst brav einsteht und Steuern zahlt, vergehen und damit alles kaputt machen, was doch „eigentlich“ zum Wohle aller da sein könnte – ein Gedanke, der sich dann auch endgültig freimacht davon, ob man selbst überhaupt negativ betroffen ist oder sich schlicht als Fanatiker des Gemeinwohls gegen „selbstsüchtiges“ Handeln aller Art in die Bresche wirft.
• Die Liste derer, denen man vorwirft, als „Egoisten“ zu handeln, ist potenziell ziemlich lang: Das sind die Bankster, die Milliarden scheffeln und dabei „unsere“ Wirtschaft aufs Spiel setzen; das sind Unternehmer, die „nur“ auf Profitmaximierung schauen statt Arbeitsplätze zu schaffen; das sind Politiker, die sich bestechen lassen, „statt“ das Allgemeinwohl durchzusetzen – Entgegensetzungen, die allesamt wenig über die reale Welt, aber sehr viel darüber verraten, was man sich geradezu kindisch-naiv über sie einbildet.
• Vor allem aber – und darauf kapriziert sich die Beschwerde von Gerechtigkeitsfanatikern in den allermeisten Fällen – sind es 1. die Ausländer, die hier eigentlich nichts zu suchen haben und „uns“ auf alle Fälle etwas wegnehmen, und 2. die Sozialschmarotzer, die Geld von der Gemeinschaft kriegen, ohne sich für sie nützlich zu machen und eine entsprechende Gegenleistung zu erbringen.
• „Gerecht“ geht es in dieser Welt also dann zu, wenn dem Egoismus der „üblichen Verdächtigen“ kräftig auf die Füße getreten wird. Dem Inhalt nach ist das ebenso abstrakt wie negativ gedacht – und das Verlangen nach Exekution dieser Gerechtigkeit bemisst sich auch mitnichten daran, dass man davon etwas anderes hat als eben das: dass dem anderen sein „ungerechter Vorteil“ entzogen, das Übel bestraft und damit „der Gerechtigkeit“ Genüge getan wird. Wer das machen soll? Ein Auftrag an „die da oben“ ist es: Die „Ordnung“ bzw. die Staatsgewalt soll sich endlich und gefälligst durchsetzen gegen alles Mögliche, was ihr in die Quere kommen könnte und damit den Vollzug des eigentlich guten Gemeinschaftswerks behindert.
Das ist – in groben Zügen – der Inhalt des „gesunden Volksempfindens“ in Sachen Gerechtigkeit. Durchaus ein Anlass, Gänsehaut zu kriegen, wenn sich darauf berufen wird!
____________________________
Die demokratische Wahl
Wofür ein Wahlkreuz gut ist und wofür nicht
Die allermeisten Leute bemühen sich Tag für Tag, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst gut im alltäglichen Konkurrenzkampf über die Runden zu kommen. Die weniger Glücklichen müssen mit ihrer Arbeitskraft zurechtkommen, andere sind besser dran und können Geld für sich arbeiten lassen – aber in einer Hinsicht sind sie alle gleich: Für sie gelten Verfahren, Regeln, Gesetze, an die sie sich unterschiedslos halten müssen und die sie nicht festlegen.
Dafür ist nämlich getrennt von ihnen ein spezieller Menschenschlag zuständig. Der erhebt sich über die Niederungen des alltäglichen Berufslebens und sieht sein Berufsziel in der anspruchsvollen Tätigkeit des “Gestaltens”. So nennen Politiker das, wenn sie sich dazu berufen sehen, nicht bloß für ihr eigenes kleines Leben zuständig zu sein, sondern überhaupt für das Große Ganze, wenn sie „Verantwortung tragen“ wollen nicht bloß für ihr eigenes Wohl, sondern weit darüber hinaus für das Allgemeinwohl. „Gestalten“, „Verantwortung tragen“, „Allgemeinwohl“ – lauter schöne Wörter, die einen weniger schönen Inhalt umschreiben: Diese Politiker üben Herrschaft über andere aus, und zwar indem sie die Bedingungen, unter denen man in der Nation sein „Glück schmieden“ darf und muss, für alle Einwohner dieser Nation festlegen. Für diese Einwohner, die nicht Politiker sind, heißt das umgekehrt: Ihr Leben wird „gestaltet“ – es sind „die da oben“, die Gesetze beschließen und Verordnungen erlassen, die das Berufs-, Familien- und Freizeitleben der Leute bis ins Kleinste regeln und das Erlaubte und Gebotene vom Unerlaubten und Verbotenen unterscheiden. Die Macht, mit der demokratische Politiker ausgestattet sind, macht alle anderen Leute zu Untertanen, die zu gehorchen haben, und in der Hinsicht unterscheidet sich demokratische Politik überhaupt nicht von einem Kaiserreich oder von Diktaturen.
Aber so darf und soll man das natürlich nicht sehen. Stattdessen hat man sich an der Demokratie zu erfreuen und sie zu loben, weil sie sich für die Bestellung der Herrschaft ein eigenes Verfahren zugelegt hat. Die sogenannte „politische Klasse“ setzt sich nicht unter Berufung auf einen Gott oder mit militärischer Gewalt an die Spitze der Gesellschaft – sie lässt sich wählen. Das heißt: Sie besorgt sich in regelmäßigen Abständen eine Lizenz fürs Herrschen bei denen, die beherrscht werden. Das soll für die besondere Qualität der Demokratie sprechen: Die Anhänger der Demokratie leugnen gar nicht, sondern bekennen sich offen dazu, dass in ihr die Bürger reichlich Grund zur Unzufriedenheit haben – aber die Politiker seien gezwungen, sich mit dieser Unzufriedenheit zu befassen, und durch die Wahl, in der sich die Machtaspiranten dem kritischen Urteil ihrer Wähler aussetzen, werde dafür gesorgt, dass sie sich für das Wohl derer einsetzen, die sie wählen sollen.
Dass das nicht so ganz stimmen kann, merkt man schon daran, dass die Wahl, die doch angeblich eine Art Überprüfungsinstanz für die Politiker ist und sie zwingt, sich an den Wählerwillen zu halten, von eben diesen Politikern angesetzt wird: Sie rufen die Bürger an die Urnen. Vielleicht wissen sie ja, dass sie einen sicheren Ertrag jeder Wahl von vornherein für sich verbuchen können: Die grundlegende Sortierung der Menschheit in einen sehr kleinen zum Führen berufenen Teil und in den großen Teil, der geführt wird, existiert nach der Wahl nicht nur genauso weiter wie vorher, diese Sortierung wird durch die Wahl noch mal extra festgeklopft. Die Erlaubnis zum Wählen hat für diejenigen, die zur Wahl aufrufen, eine sehr angenehme Konsequenz: An dem Verhältnis von oben und unten ändert sich nichts. Im Gegenteil: Die unten – auch ‚das Volk’ genannt – erklären sich durch den Wahlakt ganz generös dazu bereit, dieses Verhältnis noch einmal zu bekräftigen und für seinen weiteren fortdauernden Bestand zu sorgen.
Mehr noch: Wer seine Politiker per Wahlstimme ermächtigt, liefert auch ein Bekenntnis zu den Schalthebeln der Macht ab, mit denen diese ihn regieren wollen. Ganz getrennt und jenseits davon, was ein Wähler sich von einer Wahl erwarten und erhoffen mag – er sagt Ja zu dem ganzen Staatsapparat mit all seinen Ministerien und Ämtern. Die werden in einer Wahl gewiss nicht kritisch durchleuchtet oder gar einer Revision unterworfen. All die Ministerien und Behörden – Innen, Außen, Wirtschaft, Soziales usw. – sind fix und fertig eingerichtet und ihre jeweiligen Aufgaben stehen im Prinzip längst fest. Das alles gehört nun einmal zu der öffentlichen Ordnung, die von den Politikern gemanagt werden will. An der gibt es nichts zu deuteln; die ist von oben vorgegeben und wird auch von niemandem bestritten. Vom Wohl der Wähler, um das sich diese in der Wahl doch angeblich kümmern wollen und sollen, ist bis hierher noch nicht so furchtbar viel zu sehen, wenn sie mit ihren Kreuzchen erst einmal diesen gesamten Herrschaftsapparat als unhinterfragbare Voraussetzung allen öffentlichen Lebens anerkennen. Sehen wir mal weiter, ob oder wie wir in dieser Frage noch fündig werden.
Es ist ja noch nicht ausgeschlossen, dass Politiker sich ihrerseits um das Wohl ihrer Wähler kümmern wollen und vielleicht – weil sie ja gewählt werden wollen – sogar müssen. Eines geht allerdings von vornherein nicht: Wer auf seinen Stimmzettel draufschreibt, was er sich von seinem Kandidaten wünscht, macht seine Stimme ungültig. Als Wähler ist man darauf verpflichtet, sich ganz anonym in eine Reihe von völlig ausdruckslosen Kreuzen einzureihen. Wenn sich genügend davon auf einen Kandidaten häufen, ist der gewählt – mehr nicht. Sich von seinem Kandidaten was Bestimmtes zu wünschen, geht nicht, und erst recht ist es unmöglich, ihn darauf verpflichten zu wollen, sich für den Willen eines Wählers oder ein Wählergruppe einzusetzen: So etwas nennt sich „imperatives Mandat“ und ist bei uns verboten. „Imperativ“ heißt nämlich Befehl, und Politiker lassen sich nichts befehlen, sondern sind, so steht es im Grundgesetz, ausschließlich „ihrem Gewissen verpflichtet“, also ihren Vorstellungen der Herrschaftsausübung.
Aber wie kommt der Wählerwille denn nun zum Zuge? Politiker und Parteien fragen nicht bei den Wählern nach, was diese wollen – so herum läuft die Sache nicht. Umgekehrt aber schon. Sie sagen, wie sie zu herrschen gedenken. Sie erklären ihrem Volk, welche Probleme im Augenblick anstehen, welche Ansprüche dafür existieren und legen im Wahlkampf ein Programm vor, wie sie Deutschland in den nächsten Jahren regieren wollen, wenn sie dazu ermächtigt werden – so bilden sie den Wählerwillen. Der Wähler kann da nichts mehr hinzutun, aber er kann vergleichen und sich ein Programm aussuchen, das ihm gefällt. Dabei muss er zur Kenntnis nehmen und akzeptieren, dass die Politiker ihm sagen, wie sie die Dinge sehen. Ihre Sicht ist dabei ziemlich verschieden von der des „kleinen Mannes“ mit seinen kleinen Nöten – schließlich sind sie fürs Große Ganze zuständig. Als erstes, bevor sie sich ans „Gestalten“ machen können, sind nämlich jede Menge „Sachzwänge“ zu berücksichtigen. Die lassen sich im Grunde alle zurückführen auf die zwei zentralen „Sachzwänge“ einer demokratischen Nation: Sie ist erstens „der Marktwirtschaft“ verpflichtet, beruht auf dem Wachstum des Kapitals, und sie befindet sich zweitens im Wettstreit mit anderen Nationen, muss erfolgreicher sein als diese.
Die Behauptung der Politiker, dabei handele es sich um „Sachzwänge“, denen sie gehorchen müssen, ist natürlich eine dicke Lüge. Der Ausdruck „Sachzwang“ tut so, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, quasi eine Art Naturgesetz, dass ein Staat wie der deutsche das Wohl und Wehe seiner Untertanen davon abhängig macht, dass das Kapital wächst, also Kapitalisten reicher werden, die dann darüber entscheiden, was andere verdienen können oder nicht. Wie seine Wirtschaft funktioniert, ist dem deutschen Staat allerdings weder von der Natur noch vom lieben Gott vorgeschrieben worden – die hat er schon selber so gewollt und eingerichtet. Politiker gehorchen nicht „Sachzwängen“, die sie vorfinden. Sie sind vielmehr eingefleischte Parteigänger dieses Systems namens ‚Kapitalismus’, sie garantieren es und sie setzen es jeden Tag neu durch.
Wenn sie dann sagen, dass die deutsche Nation gegen andere konkurrieren, sich gegen sie durchsetzen muss, ist das zwar auch keine Aufgabenstellung, die vom Himmel fällt, aber immerhin konsequent: Staaten, die auf kapitalistischem Erfolg beruhen, daraus ihre Macht beziehen, stehen sich zwangsläufig feindlich gegenüber, machen sich wechselseitig diesen Erfolg streitig, am Schluss auch auf gewaltsame Art und Weise.
Mit ihrer Lüge von den „Sachzwängen“ haben sich die Politiker erst einmal klein gemacht: Sie tun ja nur, was sie müssen. Dann machen sie sich aber groß, denn jetzt geht’s ans „Gestalten“ – dabei kann man sehr viel falsch oder richtig machen, jetzt kommt es schwer drauf an, was ein Politiker bei dem Programm „Deutschland voranbringen!“, dem im Prinzip alle Politiker verpflichtet sind, so drauf hat. Damit bauen die Politiker sich auf und damit werben sie für sich.
Der Wähler sitzt dann endgültig auf dem Platz, der für ihn in der Demokratie vorgesehen ist. Erstens ist von ihm und dem, was er für sein Leben so braucht und will, gar nicht mehr die Rede. Vorkommen tut es vielleicht schon, allerdings nur in der Form und damit aber auch unter dem Gesichtspunkt, wie das für den Erfolg des Gemeinwesens und damit der Politik wichtig ist: Arbeits-, Studien-, und Kindertagesplätze oder Krankenhausbetten, gibt es eben unter den Kriterien, wie sie einer anspruchsvollen kapitalistischen Nation nützlich sind. Zweitens darf er Politiker nach dem Maßstab beurteilen oder sogar wählen, den sie selber ausgegeben haben, nämlich: Was man ihnen zutraut, wenn es darum geht, die Nation vorwärts zu bringen. Was dafür nötig ist, bestimmt der Wähler natürlich nicht. Was zu tun ist, welche „Sachzwänge“ wie zum Nutzen der Nation bedient werden müssen – das ist ganz allein Sache der politischen Herrschaft, es stehen ja nur die von ihr ausgegeben Alternativen bzw. Programme zur Wahl.
Das ist sie dann also – die viel beschworene Macht des Wählers. Sie besteht darin, bei der Auswahl des Herrschaftspersonals der Nation ein Wörtchen mitzureden: Der Wähler soll und darf einen Politiker besser finden als einen anderen. Und er kann stolz sein, wenn sich zu seinem Kreuzchen noch genügend andere gesellen, so dass „seine“ Favoriten ganz nach oben kommen. Wenn „er“ in der Minderheit bleibt, war’s trotzdem nicht umsonst: Eine Opposition im Parlament kann sich auf ihn berufen, wenn sie die Arbeit der Regierung als nicht gut genug – für das Vorwärtskommen der Nation – kritisiert.
Durch die Stimmabgabe ist eines ganz sicher zustande gekommen. Vielleicht nicht das Wohl des Wählers, was sein Alltagsleben betrifft, aber: Er wird jetzt mit seiner eigenen Zustimmung beherrscht, die Herrschaftsausübung erfolgt in Volkes Namen. Und er kann sich der schönen Vorstellung hingeben, dabei gewesen zu sein bei der „Bestellung der Macht“. Bis zur nächsten Wahl hat er freilich nichts mehr zu bestellen.
____________________________
Laufzeitverlängerung für AKWs beschlossen
Rot-grün-schwarz-gelbe Energiepolitik
Die schwarz-gelbe Regierung in Berlin hat den Ausstiegsbeschluss von 2002 korrigiert und längere Laufzeiten für AKWs beschlossen. Kommentiert wurde das als „Kniefall vor den Stromkonzernen“, als weiterer Beweis dafür, dass diese Regierung das Wohl und die Sicherheit ihrer Bürger verschachert – entweder weil sie unmittelbar von den Energieriesen geschmiert wurde oder weil sie von deren zusätzlichen Einnahmen mitprofitieren will.
Diese Kritik lebt von einer merkwürdigen Betrachtungsweise. Den kapitalistischen Konzernen traut man nach dem Motto `Je größer, desto fieser!´ ohne weiteres jede Schweinerei zu – Rücksichtslosigkeit im Umgang mit Umwelt und Gesundheit der Leute genauso wie Skrupellosigkeit bei der lobbyistischen Einflussnahme auf Politiker. Den demokratischen Staat stellt man sich dagegen als eine Instanz vor, die zumindest eigentlich die Aufgabe habe, „uns alle“ vor Risiken und Gefährdungen zu bewahren und das Allgemeinwohl über das der wirtschaftlich Mächtigen zu stellen.
Im Folgenden geht es darum, warum diese Vorstellung daneben liegt: Ohne den angeblich über den Tisch gezogenen Staat, ohne seine Gesetze zur Energiesicherheit bis hin zur Regelung der Strompreise, ohne seinen Haushalt und die daraus fließenden Mittel gäbe es nämlich die heute so „mächtigen“ deutschen Energiekonzerne und ihre Machenschaften gar nicht. Es lohnt ein kurzer Überblick über die deutsche Energiepolitik und ihre Einstiegs-, Ausstiegs- und Ausstiegsvertagungsbeschlüsse in Sachen Atomstrom. Die Kontinuität in all diesen Übergängen der Energiepolitik, auch unabhängig vom Wechsel der die Regierung stellenden Parteien, wird dann schon deutlich werden.
Was ist Energiepolitik?
Kapitalistische Staaten betreiben eine Energiepolitik. Das heißt: Alles, was mit Energiequellen fürs Wirtschaftswachstum zusammenhängt, wird von vornherein nicht einfach Geschäftsleuten und deren Erwerbssinn überlassen, sondern ist politische Chefsache. Das gilt auch für den Teilbereich Stromversorgung, den wir hier behandeln. Elektrischer Strom ist ein Gut, von dem branchenübergreifend jede wirtschaftliche Aktivität der Unternehmen, aber auch das Dasein aller öffentlichen wie privaten Haushalte abhängig ist. Dass die eigene Nation über eine sichere und möglichst billige Versorgung mit Strom im jeweils benötigten Umfang verfügt – das ist dem staatlichen Standortverwalter so wichtig, dass er diese Grundsicherung keinesfalls dem freien Schalten und Walten des Marktes überlässt und zuschaut, was die Gewinnkalkulation einzelner Kapitale in dieser Frage zustande bringt. Gleichzeitig wollen kapitalistische Staaten möglichst wenig vom Ausland abhängen: Eventuell steigende Preise, die der heimischen Gewinnproduktion zu schaffen machen, oder politische Erpressungsmöglichkeiten sollen nicht sein. Einheimische Kapitale sollen deshalb möglichst auf allen Stufen der Herstellung und des Vertriebs von Strom und der entsprechenden Technologie mitmischen und sich dabei auch entsprechend bereichern können, so dass die Energieerzeugung selbst ein relevanter Bestandteil der nationalen Akkumulation wird.
Staaten treten für diese Grundversorgung ihrer marktwirtschaftlichen Ökonomie also in Vorleistung und begleiten, befördern und kontrollieren das Geschäft mit Strom, an dem Kapitale aus allen möglichen Branchen dann ihren Anteil haben. Was die besondere Art der Stromerzeugung angeht, sind sie (wie ihre Unternehmen) durchaus vorurteilslos: Jeder Energieträger ist recht – Kohle, Öl, Gas, Kernenergie ebenso wie Wind- oder Solarkraft –, wenn nur die Balance von Vor- und Nachteilen einigermaßen stimmt bzw. durch entsprechende Vorkehrungen stimmig zu machen geht. Auch hier gilt: Strom ist, was aus der Steckdose kommt – egal, auf welchen Wegen es da hineingelangt!
Die besondere Rolle der Atomkraft
Für den Strommix in der aufstrebenden Bundesrepublik, also die kombinierte Nutzung verschiedener Energieträger für die Stromgewinnung, hatte der Aufbau einer Atomwirtschaft einen besonderen Stellenwert. Erstens sollten die AKWs die deutsche Abhängigkeit von bestimmten Lieferländern („Ölpreisschock“ 1972) durch Diversifikation verringern (andere „Partner“ beim Uranimport). Zweitens sollten sie die sichere Belieferung der Nation mit billigem Strom auch dadurch befördern, dass man mit ihnen eine ganze neue Sparte der Energieproduktion auf deutschem Boden, also unter eigener Kontrolle und als Teil des nationalen Geschäftslebens etabliert hat. Drittens sollten so neue Exportmöglichkeiten in strategisch wichtigen Feldern eröffnet werden (Siemens rüstet bis heute, soweit dies politisch genehmigt wird, alle Welt mit atomtechnologischem Know-How aus). Und viertens sicherte sich Deutschland so lange Zeit auch die Option einer militärischen Nutzung der Atomenergie.
Alles in allem waren das vom Standpunkt des deutschen Staates und seiner ökonomischen und außerökonomischen Ambitionen unschlagbare Vorteile. Sämtliche Einwände wegen der prinzipiellen Unsicherheit dieser besonderen Technologie inkl. einer völlig ungeklärten Endlagerung, die ja bekannt waren, wurden demgegenüber hintangestellt; man verfügte die Sicherungsmaßnahmen, die technisch möglich bzw. finanzierbar erschienen, und definierte den verbleibenden Rest an Gefährlichkeit zum sog. „Restrisiko“ herunter, mit dem man leben müsse und könne (einen GAU, der erhebliche Bestandteile von Land und Volk verwüsten würde, hielt man schlicht und einfach für „unwahrscheinlich“). Mit knapp 50 Milliarden Euro Anschubfinanzierung (plus ein paar kostenlosen Atomkraftwerken), einer ideologischen Daueroffensive und einem – passend zur Bedeutung des staatlichen Anliegens – knallharten Gewalteinsatz gegen Proteste wurden die 25 westdeutschen AKWs gebaut, von Biblis bis Würgassen.
Der rot-grüne Ausstiegsbeschluss
Dreißig Jahre nach dem Einstieg, um die Jahrtausendwende, sahen die Kalkulationen der deutschen Energiepolitik etwas anders aus. Angesichts einer neuen Bedarfslage in Sachen Strommix hängte die neue Regierung aus SPD und Grünen den staatlichen Gesichtspunkt eines Schutzes von Land und Leuten gegen zu große Risiken (Verstrahlung ganzer Landstriche) ein Stück höher als ihre Vorgänger und verkündete den „Einstieg in den Ausstieg aus der Atomtechnologie“. Dieser Beschluss hatte und hat durchaus seine Tragweite. Aber er bedeutete niemals, wie es heute von interessierter Seite kolportiert wird, dass Rot-Grün den „Schutz der Bevölkerung“ vor andere staatliche Gesichtspunkte der Energiepolitik gestellt hätte. Dass eine solche staatliche Abwägung über die wichtigsten politisch-ökonomischen Ressourcen der Bundesrepublik etwas anderes ist, als das schlichte individuelle Anliegen, keinen Schaden zu erleiden, liegt auf der Hand. Schließlich haben sie 2002 kein „Aus“ für die Atomkraftwerke verkündet. Sofortige Stilllegung – das wäre ja wohl die logische Schlussfolgerung gewesen, wenn es darum gegangen wäre (entsprechend hat die grüne Partei einigen Widerstand in ihren Reihen niederkämpfen müssen, um ihre Sorte Ausstieg als tolle Perspektive verkaufen zu können).
Was sich geändert hatte, so dass Rot-Grün den langfristigen Ausstieg aus nationaler Perspektive für vertretbar befinden konnte, war eine Reihe wichtiger Eckdaten der energiepolitischen Entscheidungssituation: Der Zerfall des Ostblocks bescherte Deutschland neue Zugriffsmöglichkeiten auf Energieressourcen (polnische Kohle, russisches Gas und Öl). Die Macht der OPEC war nicht zuletzt durch die weltweit gebauten AKWs gebrochen. Das insgesamt deutlich geschrumpfte Reaktorgeschäft sollte in europäischer Zusammenarbeit effizienter gestaltet werden. Mit den regenerativen Energien (Vorteil: nachhaltige Energieerzeugung im eigenen Land ohne die Risiken von Atomkraft und ohne die C02-Emissionen der fossilen Energieträger) schien in einem absehbaren Zeitrahmen die Einführung einer neuen Weltmarkttechnologie möglich, bei der Deutschland unbedingt an erster Stelle dabei sein wollte. Warum sollte die deutsche Regierung angesichts dieser Lage weiter auf eine Technik setzen, die nach wie vor ein hohes Risikopotenzial besitzt und außerdem im eigenen Land nur gegen anhaltenden Widerstand durchzusetzen ist, wodurch ständig steigende Kosten für Planung (Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang) und Durchführung (Polizeieinsätze) entstehen?
Dieser Ausstiegsbeschluss, der zugleich ein Beschluss zum jahrzehntelangen Weiterbetrieb der Atommeiler war und jede Menge interessanter (auch neuer) Freiheiten für die Atomkonzerne und deren Profitkalkulation mit sich brachte, wurde nicht zufällig im „Konsens“ mit diesen gefällt – RWE und Konsorten erhielten eine schöne Entschädigung für den Verzicht auf Neubauten, die sie zu diesem Zeitpunkt eh nicht in der Pipeline hatten. Die energiepolitischen Ziele von Politik und Wirtschaft waren also mit dem „Ausstieg“ gesichert. Und zugleich war innenpolitisch mit dem Anti-AKW-Protest weitgehend aufgeräumt worden, womit Trittin und Gabriel heute noch als ihrem wichtigen Beitrag zum inneren Frieden in Deutschland angeben.
Die schwarz-gelbe Laufzeitverlängerung
Die neue Regierung unter Schwarz-Gelb hat diesen Beschluss von 2002 jetzt in dem einen wichtigen Punkt revidiert: sie gesteht den Energiekonzernen längere Laufzeiten zu. Dass die Meiler inzwischen erhebliche Jahre auf dem Buckel haben und die von ihnen ausgehenden Risiken damit nicht gerade geringer geworden sind – egal! Dass die völlig ungeklärte Frage des Atommülls damit weiter vergrößert wird – egal! Für die Koalition in Berlin zählen andere Überlegungen. Denn seit 2002 haben sich die Entscheidungsgrundlagen der deutschen Energiepolitik erneut verändert und zwar so, dass eine Verlängerung der von Rot-Grün vorgesehenen AKW-Laufzeiten mehr Nutzen verspricht als die Einhaltung der alten Fristen:
• Andere Staaten haben die deutsche Relativierung der Atomkraft so nicht mitgemacht, damit die deutsche Konkurrenzposition geschwächt: Zwar haben in dieser Zeit durchaus einige wichtige Regierungen auch ohne ausdrücklichen Ausstiegsbeschluss zunächst auf einen Ausbau ihrer AKWs verzichtet. Aber inzwischen setzen weltweit die meisten wichtigen Staaten wieder auf die Vorteile von Atomanlagen, fassen z. T. auch Neubauten ins Auge.
• Es gibt bei den führenden Nationen, unabhängig von der Frage der Atomkraftnutzung, eine – sich gegenüber dem Jahr 2000 deutlich beschleunigende – Abkehr von traditionell wichtigen fossilen Energieträgern, weil diese ihren bisherigen Nutzen verlieren. Für diesen Trend gibt es sich überlagernde Gründe: Erstens steigende Schwierigkeiten, die Lieferantenländer politisch und ökonomisch sicher unter Kontrolle zu haben (dazu tragen die USA mit ihren Kriegen nicht wenig bei; Deutschland hat zudem in Sachen Freundschaft mit Putin einige ernüchternde Erfahrungen gemacht). Zweitens die weltweit steigende Nachfrage nach Energie (China, Indien u. a.), die die Nutzung fossiler Energieträger (Erdöl, Erdgas, Braun-/Steinkohle) gegenüber 2002 signifikant verteuert hat, absehbar weiter verteuern wird und die tendenzielle Erschöpfung der Vorkommen schneller näher rücken lässt. Die aus all dem resultierende Verteuerung des mittels herkömmlicher Kraftwerke produzierten Stroms führt – kombiniert mit der Tatsache, dass die Entwicklung alternativer Möglichkeiten für eine vergleichsweise billige Grundversorgung des nationalen Strombedarfs noch nicht weit genug gediehen ist –, zu einer Neuentdeckung der Nützlichkeit von Atomstrom.
• Ergänzt wird der letzte Punkt dadurch, dass die deutsche Spekulation auf schnelle Konkurrenzerfolge bei der Einführung regenerativer Energien zuletzt einen empfindlichen Rückschlag erlitten hat. Erstens ist die in der Aufbauphase einsetzende Verteuerung von Strom durch die Umstellung auf neue Gewinnungstechniken nur dann kein Schaden für eine hier vorangehende Nation, wenn andere Nationen in ähnlichem Tempo nachziehen; der Versuch Deutschlands (und Resteuropas), hier anderen im Namen des Klimas feste Vereinbarungen zu oktroyieren (CO2-Reduktion) ist beim Klimagipfel in Kopenhagen Anfang dieses Jahres erstmal gescheitert. Stattdessen haben die meisten Staaten inzwischen wieder die Atomkraft ins Spiel gebracht und berufen sich dabei wie zum Hohn auf deren umweltfreundliche Wirkung (keine CO2-Emission). Und zweitens bedeutet die verlangsamte Einführung von Technologien (Solartechnik, Windräder etc.), in denen Deutschland einen Vorsprung hat, dass Deutschlands Exportmöglichkeiten und damit das gesamte deutsche Geschäft mit Energietechnologie nicht so wachsen wie vorgestellt. Andere Nationen (China) haben zudem längst angefangen, den deutschen Technologievorsprung in diesem Bereich durch eigene Anstrengungen wettzumachen.
• Unter den gegebenen Weltmarktbedingungen (relativ zu anderswo) günstige Energiepreise für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie (nicht unbedingt der Haushalte) sicherzustellen, ist also ein Hauptzweck der Energienovelle. Gleichzeitig aber, dies das zweite Anliegen, soll die Herstellung dieser „Versorgungssicherheit“ Mittel für Geschäft und Wachstum der etablierten großen deutschen Energiekonzerne sein – drunter geht es einfach nicht vom Standpunkt einer verantwortungsbewußten deutschen Regierung. Die deutschen Energieriesen sind eben nicht nur für den wichtigsten „Rohstoff“ der gesamten nationalen Produktion zuständig, sondern machen selbst einen erheblichen Batzen deutschen Geschäfts aus, sind insofern ein Wachstumsmotor der deutschen Ökonomie und tragen auch mit ihren Exporten und der dadurch mit beförderten politischen Abhängigkeit anderer Standorte von deutschen Entscheidungen zur imperialistischen Position Deutschlands bei.
• Ein Kollateralnutzen des Beschlusses für die in Zeiten der Finanzkrise strapazierten Staatskassen ist natürlich auch nicht gerade unwillkommen. Von den per Staatsbeschluss zur Laufzeitverlängerung wie auf Knopfdruck wundersam herbei regierten Extra-Gewinnen der Stromindustrie kann sich der Staat ein paar Milliarden abzwacken, so dass ein Verzicht darauf wie eine unerträgliche Eselei erscheint.
Wie weiter?
Die den Beschluss begleitende Begründung „Atomkraft als Brückentechnologie“ ist eine wohlfeile Lüge der Merkelregierung. Die Laufzeitverlängerung findet natürlich nicht statt, um die Finanzierung von Windrädern u. a. zu ermöglichen. Im Gegenteil wird mit der Streckung der Atomkraftnutzung auch der Umbau in Richtung alternativer Techniken mit gebremst, auch wenn prinzipiell an ihm festgehalten wird. Zu entnehmen ist der Ideologie aber immerhin: Noch ist die Ausstiegsoption, für die sich Deutschland vorpreschend entschieden hat, auch von Schwarz-Gelb nicht aus dem Verkehr gezogen. Ob bzw. wie lange das allerdings bedeutet, dass dieses Land noch an der Idee festhält, atomare Stromgewinnung endgültig durch Alternativen zu ersetzen, oder ob die jetzige Laufzeitverlängerung nur der nötige Zwischenschritt dazu ist, in ein paar Jahren dann den Neubau von modernen Atommeilern zu verkünden, wird die Berliner Regierung ihren Bürgern schon rechtzeitig in gesetzten Worten mitteilen.
Und auch, dass es dabei wie immer nur darum geht, dass bei uns „die Lichter nicht ausgehen“ und welche enorme Rolle der Schutz der Leute vor Risiken dabei spielt. Wie wir den Laden so kennen, könnte es auch und gerade ein grüner Politiker sein, der diesen Übergang dem Publikum besonders glaubwürdig verdolmetscht (vielleicht sogar einer, der mit dem Protest gegen den „Ausstieg aus dem Ausstieg“ ans Ruder gekommen ist).
P.S: Dass die politisch windelweiche Ausstiegsregelung von damals kein Stopp für Atomkraft in Deutschland war; dass „der Einstieg in den Ausstieg“ vielmehr die verlogene Art und Weise war, wie ein Weiterbetrieb der AKWs sichergestellt und die Proteste der Anti-AKW-Bewegung ausgerechnet von der aus ihr hervorgegangenen grünen Partei befriedet wurden – das haben seinerzeit durchaus viele Gegner bemerkt. Heute protestieren Unzufriedene mehrheitlich für die Weiterexistenz dieses Beschlusses – und machen damit an einer weiteren Front deutlich, dass der Glaube an die „eigentlich“ guten Absichten der Politik vor allem dazu führt, dass die Kritiker ewig den Fortschritten ihrer Politiker hinterherlaufen. |