Einsatz im außer Kontrolle geratenen AKW:

Was die Umstände erfordern

„Um weiterhin Arbeiten auf dem Gelände des AKW zu ermöglichen, wurde die zulässige Strahlenbelastung für die Belegschaft deutlich erhöht: Die Erhöhung des Grenzwerts von 100 auf 250 Millisievert pro Jahr sei `unter den Umständen unvermeidbar´, teilte das Ministerium für Arbeitsgesundheit mit.“ (tagesschau.de, 16.03)

Es zeigt sich hier überdeutlich, dass Grenzwerte kein Ergebnis wissenschaftlicher Einsicht, sondern politischer Entscheidung sind. Sie definieren den Grad an Schädigung, der aus der Warte gesamtpolitischer Verantwortung für Land und Leute als tolerierbar gilt. Grenzwerte sind eine Spitzenleistung des Rechtsstaats: Erstens findet nur immer so viel Gesundheits-schädigung statt, wie es das Gesetz erlaubt. Und wenn das einmal nicht reicht, dann werden die Grenzwerte erhöht, ansonsten handelte es sich ja um eine unrechtmäßige Belastung. Die verbliebene Restmannschaft am havarierten AKW Fukushima kann nach der Hochsetzung der Grenzwerte, auch wenn die immer noch viel zu niedrig sind gemessen an der tatsächlichen Emission vor Ort, getrost ihrem Job nachgehen und für die Politik und das mitbangende Volk wenigstens den Schein aufrechterhalten, man könne die Lage wieder in den Griff bekommen.

Eine andere gerade heiß diskutierte Frage ist die, ob man in einer Demokratie Leute verpflichten kann, sich für die Gemeinschaft zu opfern. Herr Höglund von Vattenfall hat in der Sendung „Hart, aber fair“ (16.3.) anklingen lassen, dass es die Sowjetunion zum Glück leichter gehabt habe mit der Zwangsverpflichtung zum Heldentod. Bisher kann man nicht feststellen, dass die Nation Japan wegen ihrer verfassungsmäßigen Verpflichtung auf die Rechte jedes Einzelnen handlungsunfähig wäre in Sachen Havariebekämpfung. Letzteres liegt schon eher daran, dass beim Stand der Dinge nicht wirklich was zu machen ist, nicht am Personalmangel. Wenn demnächst auch in Fukushima die ganze strahlende Anlage zugeschüttet werden muss, erhalten sicher noch mehr japanische Bürger die Gelegenheit, sich für ihr Land auszuzeichnen. Und sei´s auf militärischen Befehl.

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Es gibt Zeugnisse!

Lernen unter dem Diktat der Note

Wie jedes Jahr wird die Vorfreude auf die Großen Ferien bei Schülern und Eltern leicht getrübt durch die drohende Zeugnisvergabe. Mittels der Noten kriegt so mancher Mensch schon im zarten Alter bescheinigt, dass er ein Versager ist und seine Erzeuger erfahren so, dass sie bei der Nachwuchsproduktion eine Niete gezogen haben. Der Kalauer aus dem Lateinischen, demzufolge nicht für die Schule, sondern fürs Leben gelernt würde, stimmt leider in der Hinsicht, dass schlechte Zensuren einem das ganze Leben versauen können. Warum kommt es aber bei der Veranstaltung namens Schule vor allem und letztendlich bloß auf die Zensuren an? Mit Bildung hat die Notenbildung nämlich wirklich nichts zu tun.

1.
Als ganz normal gilt, dass das in der Schule verordnete Lernen benotet wird, dass man dort für gute Noten lernt und mit schlechten Noten für Wissenslücken bestraft wird. Was ist das für eine Normalität?

Der Unterricht in der Schule folgt einem vorgegebenen Lehrplan. Die Zeit für jedes Thema ist begrenzt. Wenn eine Phase zu Ende ist, heißt das überhaupt nicht, dass alle Schüler verstanden haben, worum es da ging, und dass jeder die Prüfung bewältigt. Jedes Mal gibt es in der Klasse ein paar, die den Stoff drauf haben, eine ganze Reihe anderer Schüler kriegt die Aufgaben so halbwegs hin; und der Rest ist mit dem Stoff noch gar nicht fertig und scheitert im Test. Egal, woran das liegt – für den Unterricht spielt das keine Rolle, der geht zum nächsten Thema über, diese Chance zum Lernen ist also vorbei. So entstehen Wissensdifferenzen, die sich im Lauf der Schulzeit vertiefen; wenn ein paar Schüler mit Förderkursen oder Nachhilfestunden dann doch wieder die Kurve kriegen, ist das nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Zwangsläufig gibt es eine Dauerklage, die so alt ist wie die Schule selber, über diese Wissensdifferenzen bzw. -lücken und es wird so getan, als dürfe das die Schule eigentlich nicht zulassen. Aber hat die Schule denn ein Problem mit Wissenslücken der Schüler? Sicher: Eltern und auch Lehrer machen sich Sorgen, dass bestimmte Schüler „nicht mehr mitkommen“. Aber so, wie der Lehrplan aufgestellt ist, ist klar: Diese Differenzen und Lücken müssen entstehen. Einerseits stehen im Plan lauter Sachen, von denen behauptet wird, es sei vernünftig und sinnvoll, sie zu lernen. Andererseits wird eine Anzahl von Schülern in unterschiedlichem Ausmaß von diesem Wissen ständig ausgeschlossen, nämlich dadurch, dass man sich dieses Wissen in einer bestimmten Zeit aneignen muss – oder eben nicht. Die Zeitvorgabe halten die Besten ein, für die anderen wird der Lernprozess abgebrochen. Die Schule macht also die Zeit zum Maßstab des Lernerfolgs – und damit tut sie dem Lernen ziemliche Gewalt an. Es dauert nun mal bei jedem unterschiedlich lang, bis er alles kapiert und gelernt hat, was zur Sache gehört. Die Leute, die von sich aus Sprachen oder ein Instrument lernen, können ein Lied davon singen. Lernen ernst genommen heißt: eine Sache verstehen – das Lerntempo sagt nichts über das Verstehen aus. Der Schule kommt es aber genau darauf an: Sie macht aus dem Lernprozess mit all seinen Verzögerungen und Störungen etwas anderes, nämlich einen Indikator für Lernleistung. Auf diese Leistung ist sie scharf und sie misst sie mit den Noten.

Also: Bei den Schülern soll es nicht darauf ankommen, aus welchem Elternhaus sie kommen, über welche Körperkräfte oder sonstwas sie verfügen, sondern die geistige Anstrengung und die dafür notwendige Disziplin werden ihnen abverlangt. Die dabei erbrachten Leistungen interessieren die Schule aber nur unter dem Gesichtspunkt, darauf Noten zu vergeben, mit denen die Schüler miteinander verglichen werden können. Das heißt: Entscheidend ist nicht, was ein Schüler kann, sondern was er besser oder schlechter als die anderen kann, wie viel mehr oder weniger vom Lernstoff als andere er hat aufnehmen können, schließlich: an welcher Stelle in der Lernhierarchie er steht. Mit den Wissensunterschieden hat die Schule also kein Problem. Umgekehrt: Sie ist daran interessiert, die herzustellen und in Tests und Prüfungen zu ermitteln und in Noten zu fixieren.

Dieser Umgang mit dem Lernstoff ist paradox. Einerseits kommt es der Schule auf bestimmte Wissenselemente an, die stehen deshalb auch im Lehrplan, und es wird behauptet, die wären vernünftig und sinnvoll. Aber dadurch, dass die Wissensvermittlung Material der Leistungsmessung ist und für den Vergleich der Schüler benutzt wird, sorgt die Schule ständig selbst dafür, dass nur bei den wenigsten Schülern das geplante Wissen ankommt und dann absteigend immer weniger bei den anderen. Der Ausschluss vom Wissen findet dann ganz explizit beim Übergang auf die weiterführenden Schulen statt. Die höheren Lehranstalten sind dem viel versprechenden Nachwuchs vorbehalten, während den „schlechten Schülern“ nur die Hauptschule bleibt, die als „Restschule“ verachtet wird. Ein rundes Viertel der Hauptschüler verlässt die Schule als Analphabeten. Die deutsche Gesellschaft, die sich so gern als „Wissensgesellschaft“ präsentiert, verträgt offensichtlich sehr gut eine große Anzahl von Unwissenden – mit ihrem Ausbildungswesen schafft sie diese schließlich!

Der Zweck der permanenten Vergleicherei ist kein Geheimnis: So betreibt die Schule Auslese, Selektion. Die Hierarchie, die sie an den Schülern herstellt, ist die Vorarbeit für die Verteilung auf die Berufshierarchie, sie ist ein wesentliches, wenn nicht das entscheidende Kriterium für den Zugang zur „Arbeitswelt“. Das Wissen bekommt damit quasi auch sein Abschlusszeugnis ausgestellt: Für die Lerninhalte, die die Schule auftischte, musste man sich interessieren, aber nicht weil man eine Sache möglichst gut begreifen bzw. beherrschen wollte, sondern weil der Wissenserwerb ein Karrieremittel ist.

2.
Natürlich hat man damit seine Karriere noch nicht in der Hand. Denn die Vergleicherei, der man in der Schule unterworfen war, wird nun fortgesetzt von den Herren der „Arbeitswelt“. Sie benutzen die von der Schule produzierten und festgeschriebenen Leistungsunterschiede zur Verteilung auf von ihnen festgelegten Berufen und sie legen damit fest welche Bezahlung sie sich dafür leisten wollen. Am oberen Ende der schulischen Leistungsskala sammeln sich die, denen Staat und Wirtschaft später einmal eine Arbeitsstelle mit „Verantwortung“ und gutem Gehalt zutrauen. Die so genannten schlechten Schüler finden sich umgekehrt wie von selbst in den Jobs ein, die am schlechtesten bezahlt werden, gleichzeitig am anstrengendsten sind und für die Masse der Lohnabhängigen vorgesehen sind.

Wie unterschiedlich die Schulkarrieren aber auch enden – eine Gemeinsamkeit nehmen alle Schüler mit, wenn sie die Schule verlassen. Denn ihre schulische Erfahrung hat ihnen die Milch der kapitalistischen Denkungsart eingetrichtert: Bei Mathematik, Erdkunde oder Deutsch mag es hapern, aber alle, egal, ob sie zu den Erfolgreichen oder zu den so genannten „Lernschwachen“ gehören, haben gelernt, dass das schulische Leben und daran anschließend ihr gesamtes Leben sich darum dreht, sich in der Konkurrenz zu bewähren. Die Voraussetzungen und Bedingungen dieser Konkurrenz sind ihnen vorgegeben: Sie treten ihnen unerbittlich gegenüber in Gestalt des Lehrplans und des gesamten Schulapparates, der sie unablässig prüft, bewertet und sortiert. acht Jahre lang und länger transportiert der ständige Vergleich die immer gleiche Botschaft: Du musst aus dem, was dir vorgesetzt wird, für dich das Beste machen. So ist das in der Schule vermittelte Wissen nicht nur dafür da, die Schüler für das Berufsleben vorzusortieren, man lernt in der Schule auch insofern „für das Leben“, als es einem in allererster Instanz darum gehen muss, sich in der Konkurrenz bestmöglichst durchzuschlagen. Ein kritischer Blick auf den Stoff und auf die Bedingungen, die einem vorgesetzt werden, ist da nicht gefragt - der Schüler muss vielmehr den kritischen Blick auf sich selber richten: Ich bin herausgefordert, etwas aus mir zu machen – und das als grundsätzliche Haltung und Stellung zur Welt und ganz getrennt von einem bestimmten Zweck. Man muss also gedanklich und praktisch den Spagat hinkriegen, den Zwang, den einem die Schule und überhaupt die kapitalistische Welt, die in ihren Grundfesten unverrückbar ist, vorsetzt, als Chance für sich selbst zu verstehen und sich entsprechend zu bemühen. Da muss man sich eben einfinden in die Methoden und Techniken der Konkurrenz, wozu auf dem Übungsplatz Schule auch gehört, Wissen durch Spicken zu ersetzen, den Lehrer mit Heucheleien für sich einzunehmen oder für eine Prüfung Unverstandenes stur auswendig zu lernen, um es am nächsten Tag wieder zu vergessen usw. usf. Solche Fähigkeiten und Charaktereigenschaften haben in dieser Gesellschaft ihren bleibenden Wert, auch den späteren Chef kann man schon mal so beeindrucken.

Schüler – und ihre Eltern – sind notorisch unzufrieden mit der Schule. Immerzu geht es nicht gerecht zu, individuelles Leistungsvermögen und der Leistungswille werden von den Lehrern nicht erkannt bzw. nicht gefördert, andere Schüler werden ungerecht bevorzugt, die häuslichen Voraussetzungen werden nicht genügend berücksichtigt usw. usf. Das sind aber Beschwerden, die an deren Grund nichts ändern. Schüler und Eltern lernen und anerkennen damit ja gerade, wie wichtig die Schule als Bewährungsfeld fürs künftige Leben ist, sie anerkennen damit auch die Autorität der Schule – und so müssen sie auch anerkennen, dass das Urteil der Schule in letzter Instanz gilt und Klagen über Ungerechtigkeit vielleicht gut für den Seelenhaushalt, aber nicht mehr als ein Beiwerk sind. Im Normalfall verlassen die Schüler ihre die Schule charakterlich gefestigt mit dem Bewusstsein: Meine Noten und mein Abschluss – die habe ich mir selbst zuzuschreiben.

Und so hat die freie Marktwirtschaft mit ihrer Berufshierarchie lauter selbstbewusste Aktivisten. Die begreifen in der Regel ihr Dasein in der kapitalistischen Gesellschaft samt ihren entscheidenden Unterschieden von erfolgreichen Unternehmern und einer Masse von lohnabhängigen und gelegentlich arbeitslosen „Mitbürgern“ als Chance, die sie zu ergreifen oder die sie eben „verpasst“ haben ...

Dies ist ein (leicht veränderter) Beitrag von gsp-radio marburg

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„Grüne Gentechnik“ – da will Deutschland mitmischen

Am 19.4.2010 wurde auf einem 15-Hektar-Feld in Mecklenburg-Vorpommern unter starkem Polizeischutz die gentechnisch veränderte Kartoffel Amflora ausgepflanzt, ein Produkt aus dem Hause BASF. Einige Dutzend Demonstranten hatten versucht, dieses erste gentechnische Open-Air-Experiment in Deutschland zu behindern. So als sei das die logische Adresse für ihren Unmut forderten sie die deutsche Politik in Gestalt von Frau Aigner (Landwirtschaftsministerin) auf, so etwas zu verbieten. Könnte sein, dass sie da etwas danebenliegen.


Wie die Politik eine Wachstumsbranche mit erfolgsorientierten Sicherheitsregularien zur internationalen Konkurrenzfähigkeit befördert

Anfang März meldet die Zeitung Die Welt, dass die „grüne Gentechnik“ weltweit „auf dem Vormarsch“ ist. Seit den ersten genetischen Freilandversuchen, 1986 in den USA, ist die Genforschung in den Laboren auf Hochtouren gelaufen. Die Gentechnologen haben diverse Methoden und Instrumente für die Manipulation von biochemischen Vorgängen entwickelt, haben einigen herkömmlichen Lebensmitteln und Nutzpflanzen neue Merkmale verpasst, die z. T. inzwischen schon in industrieller Produktion hergestellt werden. Mais, Raps, Baumwolle, Soja und andere Ackerpflanzen wurden gegen Schädlinge resistent gemacht, die Tomate kommt als „Supertomate“ mit vier Wochen Haltbarkeit groß raus, andere Pflanzen wurden mit Eigenschaften wie Selbstdüngung, Frostschutz oder höherem Nährwert ausgestattet.

Große Agrarkonzerne haben die Gentechnik als Mittel entdeckt, um Ernteerträge zu steigern, Produktionskosten zu senken und den Transportaufwand zu verbilligen, also lauter Methoden, um mit den neuen Produkten ihre Gewinne zu steigern. Das läuft zum einen über die Patentierung, die dem Patentinhaber für eine gewisse Zeit die ausschließliche Nutzung seiner Erfindung sichert. Wenn das Produkt den Markt erobert, kann die Firma monopolistische Extragewinne verbuchen. Ferner ist es mit der Gentechnik endgültig gelungen, die Agrarbetriebe weltweit von den jährlichen Saatgutlieferungen der Konzerne abhängig zu machen. Das gentechnisch manipulierte Saatgut kann nämlich nicht mehr von den Bauern selbst nachproduziert werden. Es ist steril, so wie schon vorher die modernen, durch Züchtung „optimierten“ Agrarpflanzen. Ganz nebenbei haben die Konzerne auch noch ein Monopol auf bestimmte Spritzmittel, weil die neuen Pflanzen zweckmäßigerweise so konstruiert werden, dass sie nur das Spezialpflanzenschutzmittel der Lieferfirma vertragen. Das alles erweitert den Absatz und beschleunigt den Kapitalumschlag der Agrarkonzerne. Da lohnt sich das Investieren, Kredite sind leicht zu bekommen, die Börse ist hoch interessiert.

Das, was derzeit als „Vormarsch“ der grünen Gentechnik in den Medien besprochen wird, ist bis jetzt vor allem ein Erfolg amerikanischer Konzerne. Die europäischen Länder machen da nicht mit, sie haben sogar die Einfuhr von Gentechnikprodukten verboten. Deutschland ging noch einen Schritt weiter als die EU: Die einzige Genmaissorte, die 2005 von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit zugelassen wurde, wurde in Deutschland 2009 wieder verboten. Hartnäckig hält sich seitdem das Gerücht, dass hierzulande eine besonders gentechnikfeindliche Einstellung vorherrsche und dass deutsche Politiker aus Rücksicht auf die Gentechnikskepsis der Konsumenten und auf die Volksgesundheit ihrer Bevölkerung recht gäben und sie vor den unerwünschten Produkten schützten. Eine etwas genauere Lektüre des Gentechnik-Gesetzes von 1990 kann einen da schon eines Besseren belehren. Dort heißt es in §1:

„Das Ziel des Gentechnikgesetzes ist es, Mensch und Umwelt vor möglichen Gefahren gentechnischer Verfahren zu schützen und dem Entstehen solcher Gefahren vorzubeugen. Weiterhin soll das Gesetz sicherstellen, dass Produkte, insbesondere Lebens- und Futtermittel, konventionell, ökologisch oder unter Einsatz gentechnisch veränderter Organismen erzeugt und in den Verkehr gebracht werden können.“

Hier wird als Erstes zu Protokoll gegeben, dass man der Gentechnik ein noch ziemlich unerforschtes Gefahrenpotential zutraut und dem entgegenarbeiten will. Im Umgang mit solchen Gefahren sind europäische Politiker bekanntlich ziemlich abgebrüht. In allen Ländern haben sie genügend Erfahrungen mit ihren Lebensmittelkapitalen gesammelt, um genau zu wissen, dass die von sich aus mit „Volksgesundheit“ und Verträglichkeit nichts am Hut haben. Nur zur Erinnerung: mit Hormonen vollgepumpte Hühner und Kälber, BSE-verseuchtes Rindfleisch, verdorbenes „Gammelfleisch“ in den Supermärkten – die Reihe könnte noch lange fortgesetzt werden. Der deutsche Staat weiß also, warum er von seinen Firmen Tests und Nachweise über Wirkungen verlangt, bevor er neue Produkte zulässt. Und er macht sich nichts darüber vor, wie effektiv seine Kontrollen sind. Gesundheitsschäden und Todesfälle sind durchaus immer eingeplant, aber die Regierung will nicht zulassen, dass der deutsche Volkskörper massenhaft vergiftet oder geschädigt wird – schließlich sollen die Bürger auch weiterhin für Wirtschaft und Staat eingespannt werden!

Gleich nach dem Bekenntnis zum Schutz nennt das Gentechnik-Gesetz das zweite Ziel: In Deutschland soll alles Nötige dafür getan werden, dass neben der konventionellen und der Bio-Lebensmittelproduktion auch eine gentechnische Warenabteilung etabliert wird. Schließlich ist die Biotechnologie, wie das Bundesamt für Verbraucherschutz meldet, „ein wichtiger Motor für Wachstum, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit“. Außer der Sicherheit der Gesundheit macht sich die Regierung also eine ganz andere Sicherheit zum Zweck: Die deutsche Wirtschaft soll in ihren einschlägigen Abteilungen auf dem neuen Markt mitverdienen, sie soll wissen, dass es sich lohnt, in die Produktentwicklung zu investieren. Als Erfolg teilt die Regierung stolz mit, dass Deutschland schon jetzt das Land mit den meisten Biotechnologieunternehmen in Europa ist.

Deutschland hat die Gentechnikwelle also weder verschlafen, noch meinen die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ilse Aigner und ihre Kollegen, sie müssten wegen der Risiken auf das Mitkonkurrieren verzichten. Kapitalstarke Chemiefirmen wie BASF haben einige Erfindungen auf Lager, mit denen sie an den US-Firmen vorbei eigene Märkte erobern wollen. Das erste in Europa zugelassene Produkt, das jetzt als deutscher Erfolg verkündet wurde, ist eine gentechnisch manipulierte Kartoffelsorte, die als Industrierohstoff für die Papier- und Klebstoffproduktion taugt.

Gentechnikkritiker haben natürlich gleich herausgefunden, dass dieses Produkt, obwohl es kein Lebensmittel ist, trotzdem gute Chancen hat, in die menschliche Ernährung vorzudringen: 1. durch die schon einkalkulierte Aussamung und Verunreinigung von Saatgut der umliegenden Felder, 2. dadurch, dass die Kartoffeln nach Herausziehen ihrer Stärke sehr gut als Viehfutter für die Landwirtschaft taugen. Hier wie bei den Genmaissorten ist es ungeklärt, welchen Einfluss die Antibiotikaresistenz vieler Gentechnik-Produkte auf tierische und menschliche Organismen hat. Natürlich sind die Bedenken auch den verantwortlichen Politikern bekannt, und sie setzen sich nicht einfach darüber hinweg. Aber wie sie sich darum kümmern, ist schon sehr bezeichnend.

Als erstes lassen sie überall da, wo die Folgen noch unklar sind, Wahrscheinlichkeiten der Schädigung ausrechnen. Dabei kommen dann manchmal unfreiwillige Bekenntnisse zu ziemlich rücksichtslosen Kalkulationen heraus, rücksichtslos sowohl gegenüber der Logik wie gegenüber den vorgesehenen Opfern. Als Beispiel zitieren wir ein österreichisches Statement (Opinion of the „Scientific Committee on Plants“ on the invocation by Austria) zum Genmais:

„Transgener Bt-Mais richtet erst einen Schaden an, wenn er gleich schädlich oder schädlicher wirkt als herkömmliche Pestizide. Da die Wahrscheinlichkeit klein ist, dass Bt-Mais schädlicher auf Nicht-Zielorganismen wirkt als chemische Pestizide, ist schließlich auch das Risiko klein.“

Da werden also zwei Sorten Schaden verglichen, und wenn der eine nicht größer ist als der andere, dann gilt er gleich gar nicht als Schaden! Der zweite Satz des Zitats deutet schon die andere Methode an, wie mit Schäden theoretisch umgegangen wird. Aus dem Nachteil eines mangelhaften Bescheidwissens über die kurz- und langfristigen Gefahren macht die Politik nämlich regelmäßig ein positives Urteil des Typs: Das Risiko ist so gering, dass man die Technik guten Gewissens einsetzen kann. Man muss dazu nur das Risiko in die richtige Relation zu den erhofften ökonomischen Erfolgen setzen. Wenn man beides verantwortlich abwägt, dann gelten gewisse Schadenswahrscheinlichkeiten in Anbetracht der wirtschaftlichen Aussichten als vollkommen verträglich. „Risikobewertung“ und „Risikomanagement“ sind die dazu passenden Sprachregelungen in § 14 des Gentechnikgesetzes.

Der zweite Schritt ist: Man legt Grenzwerte fest und schafft eine große Menge von Kontrollgesetzen. An denen entlang wird ein durchaus aufwendiges Überwachungsregime installiert. Alle auftretenden Schäden werden beobachtet; um dann, wenn etwas passiert, die Grenzwerte und Erlaubnisse wieder zu ändern. So kommt ein Großversuch am lebenden Objekt in Gang, im Laufe der Zeit merken die politischen Beobachter dann schon, was geht und was nicht. Hierzu ein Beispiel: Das Risiko, dass sich gentechnische und natürliche Produkte in freier Natur kreuzen, rechtlich gesehen eine Verunreinigung von Saatgut der umliegenden Felder, wird, weil es nun einmal nicht abgeschafft werden kann, auf die Wahrscheinlichkeit von 0,9 % begrenzt. Unterhalb dieser Schwelle verhindert es also die Zulassung nicht mehr. Reinheit wird zur Definitionssache. Damit müssen nun alle die leben, die eine Vermischung mit normalen Lebensmitteln unbedingt verhindern wollten. Damit können aber auch die Eigentums- und Haftpflichtansprüche geregelt werden, die die Gentechnik von Anfang an begleitet haben. Mit solchen rücksichtslosen „Problemlösungen“ bahnt die Politik einer ihrer „wegweisenden Zukunftstechnologien“ einen Weg.

Quelle: Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora München, 12. April 2010

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Kirgisen gegen Usbeken

Mörderisches Volk

Zu den ethnischen Pogromen in Kirgistan werden alle möglichen Hintergrundinformationen serviert. Eigentlich sei Stalin schuld, weil er die Grenzen gleichgültig gegenüber traditioneller Besiedlung durch Kirgisen, Usbeken, Tadschiken gezogen habe. Die Gegend sei ein Umschlagplatz für Rauschgift, entsprechend hätten mafiose Gangs mit ethnischem Schwerpunkt dort Rechnungen gegeneinander zu begleichen. Der von der Macht vertriebene Ex-Präsident wiegele mit seinen Clanmitgliedern die Volksgruppen gegeneinander auf, um das von verkehrten Nachfolgern regierte Land zu destabilisieren. Die Regierungen der Region seien zu schwach, um einzugreifen, die Paten Russland oder USA zögerten …

Stets bleibt aber offen, wieso Volksgruppen wie Kirgisen oder Usbeken von Haus aus dazu neigen sollten bzw. leicht dafür eingespannt werden können, aufeinander los zu gehen und regelrechte Massaker aneinander anzurichten. Dass so etwas schnell mal vorkommt, gerade auch bei Menschen, die zuvor lange miteinander ausgekommen sind, in Kirgisien wie in Jugoslawien, Ruanda oder sonstwo, ist anscheinend vielen durchaus irgendwie verständlich, auch wenn man das natürlich überhaupt nicht schön findet. Der Ruf nach Eingriffen von oben, nach einer zivilisierenden Staatsgewalt, scheint dann der einzige Ausweg zu sein. Aber warum drehen Völker bisweilen so auf und durch?


„Das Volk will diese Gewalt nicht“

sagt der Bürgermeister von Osch angesichts der Leichen- und Trümmerberge, in die das Volk gerade die zweitgrößte Stadt des Landes verwandelt hat. Mehr daneben liegen kann man allerdings kaum. Denn gerade in der Kategorie „Volk“, die allseits respektiert wird und an der niemand etwas kritisieren mag, liegt die Erklärung für die scheinbar „unbegreiflichen“ Vorgänge.

Egal, welche Unterschiede zwischen einem Volkshaufen in Afrika, Zentralasien oder Europa anzutreffen sein mögen: Gemeinsam ist all diesen Leutemassen, dass sie sich jenseits aller individueller Eigenschaften oder Klassenzugehörigkeit als Teile eines Volks begreifen. Dabei kann diese übergreifende Gemeinschaft mehr politisch, rassisch, kulturell oder religiös definiert sein, auch Vermischungen sind üblich („Ich bin in erster Linie Amerikaner, aber eigentlich Italiener“, „Ich bin Russe, aber auch Jude, bin aber Bürger Kasachstans“ usf.).

Ihre Zugehörigkeit zu einem Volk kehren die Menschen auch gerne heraus: In einigen Weltgegenden ziehen sie sich dazu traditionell an und pflegen ihre althergebrachte Feiertage. Moderne Völker jubeln ihren Sport- und sonstigen Stars zu, wenn die mit ihren Auftritten anderen Völkern Eindruck machen.

Subjekt ist das Volk bei alledem normalerweise allerdings nicht. Das Interessante am Volksein ist nämlich, dass da nicht Leute zusammen agieren, die sich aus Neigung oder Interesse zusammengetan haben, sondern dass sich „Schicksalsgenossen“ im gleichen Boot wieder finden. Dass man zu einem Volk gehört, ist nämlich keine freiwillige Angelegenheit. Man wird hineingeboren in ein besonderes von anderen abgegrenztes Gemeinwesen, in dem alle möglichen „Regeln“ gelten, das Leben unter allerhand „Sachzwänge“ gestellt ist, bestimmte Sitten und Gebräuche herrschen. Man ist einem Herrschaftszusammenhang eingeordnet, dem eine Regierungsgewalt vorsteht und durch ihren Machtgebrauch immer neue Verlaufsformen verleiht. Dadurch, und nur dadurch, dass er Objekt derselben Herrschaft ist, wird der einzelne Bprger mit allen anderen Bürgern zwangsverschwistert, zu einem Volk zusammengeschweißt. Es wird aber in allen Zwangsverbänden solcher Art einiges getan, um diesen gewaltsam gestifteten Zusammenhang von Herrschaft und Volk ideologisch zu überhöhen: Bei allen möglichen Gelegenheiten wird das Objekt der staatlichen Herrschaft, das liebe Volk, als eigentlicher Auftraggeber und Begünstigter gefeiert und die (angeblich oder wirklich) vorstaatliche ethnische, sprachliche, traditionale etc. Identität des Volks als eigentlicher Kitt des Gemeinwesens beschworen.

Was auch immer das einzelne Volksmitglied für sich aus diesen Gegebenheiten zu machen versteht, über Anstrengungen, Beziehungen, erworbenes oder ererbtes Geld etc. – es ist wie jedes andere auch abhängig vom und angewiesen aufs Gedeihen des national organisierten Miteinander, des Gemeinwesens, das einem vorausgesetzt und übergeordnet ist. Diese praktische Abhängigkeit, die sie nicht ausschlagen können, nehmen die Leute wie einen guten Grund, für die Staatsnation zu sein, in die es sie verschlagen hat. Mehr noch. Sie stellen sich vor, dass zwischen ihnen als Volk und „ihrem“ Staat ein ganz besonderes Entsprechungs- und Treueverhältnis herrscht, das für beide Seiten Rechte und Pflichten stiftet. Sie organisieren unter den vorgegebenen Umständen ihr „privates Leben“, liefern dem Gemeinwesen daraus Steuern und andere Leistungen ab, mit denen dieses wiederum seiner Fürsorgepflicht für sie nachkommen kann, eben dadurch, dass anständig regiert wird. Und neben und getrennt von dieser alltäglich praktizierten Zustimmung bejahen sie bei bestimmten Anlässen, nationalen Feierstunden oder internationale Wettbewerben, explizit, dass sie eine große National-Mannschaft sein wollen: Sie bekennen sich zu ihrem „Patriotismus“.

Gegensätze innerhalb eines Volkes sind dadurch natürlich nicht einfach aus der Welt. Sie treten aber zurück gegenüber der abstrakten Frontlinie `Wir oder Ihr´, die ein Volk vom andern scheidet, auch wenn noch gar nichts extra Boshaftes im Spiel ist. Wenn aber das eigene Dasein als Untertan eines Herrschaftsverbands oder das Schicksal der Nation aus irgendwelchen Gründen prekär wird, wenn die gewohnten Ansprüche nicht mehr bedient werden, ist rasch ein Übergang parat. Dabei wird ungefähr so gedacht: Ein einvernehmliches und intaktes Verhältnis von Staat und Volk, in dem jeder an seinem Platz seine Pflichten erledigt, garantiert sowohl den einfachen Leuten ihr Leben als auch Sicherheit und Erfolg der Nation. Wenn das zu wünschen übrig lässt, muss dieses einträchtig-pflichtbewusste Verhältnis im Dienst am „großen Ganzen“ irgendwie gestört worden sein.

Dieser Gedanke sucht Gründe für das eingetretene Missverhältnis durchaus auch mal bei der Herrschaft. Der Vorwurf lautet dann, dass diese vor ihrer eigentlichen Aufgabe versage, weil die Regierenden ihre Macht nicht ge-, sondern missbrauchen – in Kirgistan wurde vor ein paar Wochen der bis dahin herrschende Bakijew wegen Korruption aus dem Amt geputscht. Vor allem aber nimmt das Volk in solchen Fällen falsche Fuffziger ins Visier, die nach der Logik des national-staatsbürgerlichen Denkens eigentlich sowieso nicht ins Land und unter die schützende Obhut des Staats gehören. Mit ihrer puren Existenz gelten sie als leibhaftiger Beweis für eine Störung in dem innigen Verhältnis zwischen dem Staat und seinem eigentlichen Volk und werden verantwortlich dafür gemacht, dass sich ersterer nur unzureichend um letzteres kümmert. Ein solches Urteil trifft entweder Ausländer, für deren Anwesenheit das Volk keinen guten Grund erkennen mag, auch wenn der eigene Staat sie als Gastarbeiter oder aus sonstigen berechnenden Gründen ins Land geholt hat. Es trifft aber auch Teile der Bevölkerung selbst, die zwar seit Jahrzehnten hier ansässig sind, ihr Leben gerade so gut oder schlecht fristen wie man selbst, aber einer anderen Ethnie entstammen. Ihnen wird jetzt vorgehalten, letztlich volksfeindliche Ambitionen zu verfolgen, sich als Fremde ungebührliche Rechte herauszunehmen und damit die angestammten Rechte der eigentlichen Einheimischen zu unterhöhlen. Wenn ein Volk, normalerweise Basis und Objekt von Herrschaft, sich am Staat vorbei zum Subjekt gegen seinesgleichen aufschwingt, in solch giftiger Stimmung seine Rechte in die eigene Hand nimmt und unter Mitbewohnern des gleichen Landstrichs Feinde ausmacht, denen man es zeigen will, dann wird es furchtbar, in Osch genauso wie in Hoyerswerda oder anderswo.

***

Nachtrag zum besonderen Fall Kirgistan:

Kirgistan war bis 1991 eine der sechzehn Sowjetrepubliken und die erste, die ihren Austritt aus der Union der Sowjetrepubliken erklärt hat. Seitdem legt sich die kirgisische Regierung gehörig dafür ins Zeug, eine kirgisische nationale Identität bewusst zu erzeugen. Dazu gehört die Behauptung, dass eine kirgisische Nation eigentlich schon ewig existiert und jetzt endlich den ihr entsprechenden Staat bekommen hat, nachdem sie daran über Jahrhunderte hinweg be- und gehindert wurde. In diesem Sinne wird die gesamte Zeit der Zugehörigkeit dieser Region zum alten Zarenreich wie zur kommunistischen Sowjetunion ziemlich gleichermaßen als Unterdrückung des authentisch „Kirgisischen“ betrachtet. Die bisher allgemein verwendete russische Sprache wird zurückgedämmt und mehr und mehr durch das Kirgisische ersetzt, nationale Museen werden entsprechend umgestaltet und sollen die angeblich zweitausendjährige Geschichte der kirgisischen Nation und ihrer Leistungen bebildern.

Mit dieser Propaganda will der kirgisische Staat seine Unabhängigkeitserklärung legitimieren: er behauptet die Besonderheit seiner Nation gegenüber den anderen Nationen dieser Welt und leitet das aus einer entsprechend zurecht gedeuteten Geschichte ab. Nach innen schwört er die auf seinem Territorium ansässige Bevölkerung auf den Standpunkt ein, dass sie nun endlich die ihr entsprechende Herrschaft bekommt – womit rückwärts alle Unzufriedenheit mit den sowjetischen Lebensbedingungen verwandelt wird in eine Kritik an unguter Fremdherrschaft. Den Standpunkt, dass die Kirgisen heilfroh sein können, nun endlich in einem Staat der Kirgisen zu leben, befördert allerdings bei dem damit beglückten Staatsvolk durchaus einige unschöne Gehässigkeiten gegen Leute anderer ethnischer Herkunft. Auf dem Staatsgebiet Kirgistans leben neben den ethnischen Kirgisen eine ganze Reihe Usbeken (ca. 14%) und Russen (ca. 13 %) sowie sonstige kleinere Gruppen (Dunganen, Tadschiken, Kasachen, Tataren usw.). In der Sowjetzeit waren diese Völker programmatisch anerkannt worden und ihr Zusammenleben unter dem Dach der großen SU sollte endlich auf der Basis der Gleichberechtigung und in friedlichen Bahnen verlaufen. Damit haben sich die sowjetischen Kommunisten allerdings einen ziemlichen Widerspruch eingerichtet, der – neben anderen – am Ende zur Abspaltung der früheren Sowjetrepubliken führte:

„Die sozialistischen Staatsgründer Lenin und Mao wollten auch auf diesem Feld alles besser machen als die bürgerliche Welt. Sie wollten den hässlichen Gegensätzen zwischen Völkern und Ethnien sowohl zwischenstaatlich wie innerhalb eines Staatswesens den Boden entziehen. Für letzteres sollten einerseits die nötigen materiellen Voraussetzungen durch zivilisatorische und entwicklungspolitische Fortschritte sorgen. Diese waren – besonders auf dem Felde der Bildung – zugleich mit einer ideologischen Festlegung auf den neuen Staat verbunden. Die früher übliche Unterdrückung sollte andererseits einer neuen politischen Anerkennung der »nationalen Minderheiten« weichen. Mit all dem – so das politische Ideal – sollten die national-rassistischen Gehässigkeiten verschwinden und die Minderheiten konstruktiv und loyal in das neue Gemeinwesen eingebunden werden. Viele Völker mit ihren traditionellen Besonderheiten und in all ihrer bunten Vielfalt sollten das neue sozialistische Gemeinwesen verschönern und bereichern.
In westlichen Nationalstaaten war und ist es üblich, dieser Politik eine besondere Brutalität nachzusagen. Angeklagt wird, dass die sozialistischen Staaten damit versucht hätten, eine natürliche Lebensäußerung jedes Menschen, sein nationales Fühlen, zu eliminieren. Damit bekennen allerdings zunächst einmal nur diejenigen, die so reden, wie sehr sie den Fehler schätzen, dass Menschen sich nicht nur praktisch damit abfinden, in welches Staatswesen, in welche Nation es sie verschlägt, sondern dass sie sich damit auch noch willentlich identifizieren. Umgekehrt gelten in dieser Sichtweise zivilisatorische Leistungen aller Art als Unterdrückung eines »Ursprünglichen«. Daran, dass Nomadenkinder Lesen und Schreiben lernen, islamischen Clangesellschaften Zwangsverheiratung und brutale Unterdrückung ihrer Frauen verboten wird oder Jugendliche aus Kirgistan oder Tibet zum Studieren nach Leningrad bzw. Beijing geschickt werden, will man nichts entdecken können, was man als gesellschaftlichen Fortschritt oder Nutzen für die betroffenen Individuen würdigen könnte. In diesem Fall – ganz anders als bei den entsprechenden Akten von sprachlich-kultureller Vereinheitlichung, nationaler Integration oder politischer Zentralisation in den europäischen oder amerikanischen Staaten – will man ausdrücklich nur den schändlichen Willen eines Staats erkennen, der sein Volk nach seinen Vorstellungen formt, es für seine Interessen benutzt und ihm dafür seinen eigentlichen »authentischen« Willen abkauft.
Entgegen allen Vorwürfen seitens ihrer bürgerlichen Gegner war es allerdings leider nicht so, dass die sozialistischen Staaten im Sinne dieser Anklage schuldig sind. Sie haben das angeblich so natürliche »nationale Denken und Fühlen« weder bei ihren Minderheiten noch bei der Mehrheitsbevölkerung kritisiert und überwunden, weil sie das in einem so kategorischen Sinn auch gar nicht wollten. Mit ihrem Anspruch, als sozialistische die besseren Nationen zu sein, haben sich die kommunistischen Parteien vielmehr auch in dieser Sphäre einen bleibenden Widerspruch eingerichtet. Ihre sozialistischen Staaten haben sie einerseits unnational, im Namen von »Arbeitern und Bauern«, ins Leben gerufen; andererseits haben sie weder aufgehört, Nationen zu sein, noch wollten sie darauf verzichten, ihre Menschen im Namen eines Vaterlands, jetzt eben des Vaterlands aller Werktätigen, zu mobilisieren. Noch mehr als die Sowjetunion mit ihrer Konstruktion als »Union sozialistischer Sowjet (= Räte)republiken« hat die Volksrepublik China ihren sozialistischen Staat als Wiedergeburt der chinesischen Nation verstanden. Zudem haben die sozialistischen Staaten zwar versucht, ihre »nationalen Minderheiten« praktisch und geistig aus einigen vorgefundenen Abhängigkeitsverhältnissen zu befreien. Durch die gleichzeitig ausgesprochene politische Anerkennung ihres besonderen Status als nationale Minderheiten haben sie allerdings dem Standpunkt des überkommenen ethnischen oder religiösen Denkens, dem sie eigentlich den Boden entziehen wollten, seine Existenz belassen und ihn teilweise sogar befördert. Entgegen allen propagandistischen Beteuerungen von der »Lösung der Nationalitätenfrage« haben sie damit den Widerspruch in die Welt gesetzt, die nationale Idee eines Entsprechungsverhältnisses von Volk und Staat zu bekräftigen und gleichzeitig auf der Zugehörigkeit aller Völker auf ihrem Territorium zu ihrem Staatsvolk zu bestehen.“ (Zur Nationalitätenfrage in: China – Ein Lehrstück)

Seitdem der kirgisische Staat seine politische Unabhängigkeit errungen hat, geht es für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung steil bergab. Mit der Auflösung des ökonomischen Zusammenhangs der alten Sowjetrepubliken (in dem das Bergland Kirgistan die Rolle eines Fleischlieferanten spielte und zudem eines der beliebten Urlaubs- und Freizeitländer war) werden ihre Lebensverhältnisse – euphemistisch gesagt! – auf breiter Front prekär; regelmäßige Einkommensquellen gibt es wenig, ein großer Teil des Volks ist zurückgefallen auf den Status von Nomaden, die sich mit Pferdezucht durchzuschlagen versuchen. Sippen- und Clanbeziehungen und der Zusammenhalt der Ethnien werden damit wieder zunehmend wichtig; inzwischen feiern für die Frauen Zwangsverheiratungen usw. fröhliche Wiederauferstehung.

„Nach Jahrzehnten dieser widernatürlichen Bremsung der Marktwirtschaft war es Anfang der 90er dann auch für die Kirgisen so weit: Befreit vom Zwang zur Kooperation durch die staatliche Planung konnten tatendurstige staatliche und private Aktivisten der neuen Art der Bereicherung endlich loslegen, ihre Republik in einen nationalen Kapitalismus umwidmen und polit-ökonomisch so gründlich aufmischen, dass von der früheren Produktion und Versorgung kaum etwas übrig geblieben ist.
 Die überkommenen Ressourcen und produktiven Potenzen sollten der kirgisischen und den benachbarten neuen Nationen nun gute Dienste tun in der Konkurrenz um echten kapitalistischen Geldreichtum; die frisch eroberte, national ausschließende Verfügung über Teile der ehemals vergemeinschafteten Produktionsmittel gab den neuen Chefs die Macht und das gute Recht, ihre Nutzung durch die anderen nur gegen Zahlung von (Welt-)Geld zuzulassen – das sie sich allerdings alle erst noch verdienen wollten. So haben sie ein pur negatives, erpresserisches Nachbarschaftsverhältnis eingerichtet: Da liefern die einen, die nun exklusiv über die Ressourcen der kollektiven Energieversorgung verfügen, den lieben Nachbarn Strom oder Gas nur noch zu Marktpreisen oder eben nicht und legen den Abnehmer lahm, dem es an Zahlungsfähigkeit mangelt; die anderen schreiten zur Gegenerpressung, nutzen die Wasserressourcen, über die sie zufällig verfügen, zur Stromerzeugung rücksichtslos gegen den Bedarf der landwirtschaftlichen Bewässerung anderswo. Statt dem erstrebten Geldreichtum schreitet im Zuge dieser wechselseitigen Erpressungsmanöver nur der Ruin der materiellen Grundlagen der Produktion voran; bei denen, die – wie Kirgistan – weder Öl noch Gas in nennenswertem Umfang zu verkaufen haben, natürlich auch die Verschuldung. Die Instandhaltung der wasser- und energiewirtschaftlichen Einrichtungen ist darüber zum Problem geraten, und die Methoden der Geldbeschaffung von unten leisten auch ihren Beitrag zu dem Zerstörungswerk. Die kirgisische Agrarwirtschaft, für die mit Auflösung der Union und dem Aufbruch in die marktwirtschaftliche Freiheit Zulieferungen und Abnehmer entfallen sind, durfte sich gesundschrumpfen, ebenso wie das realsozialistische Kur- und Erholungssystem, dem die Gäste abhanden gekommen sind. So werden aus den ehemaligen Kolchos-Mitgliedern innerhalb weniger Jahre wieder „echte Kirgisen“, die zu ihrem Acker reiten, weil es keine Traktoren mehr gibt. Und die wieder wie „echte Nomaden“ in abgelegenen Berggegenden „ganz naturverbunden“, „den Jahreszeiten folgend“ ihr Vieh hüten. Die Erschließung Kirgistans durch ausländisches Kapital ist bis auf einige wenige Ausnahmen ausgeblieben, was eindeutig beweist, wie marode die dortigen Betriebe immer schon gewesen sein müssen und dass es keinen zu wundern braucht, wenn sie jetzt als Industrieruinen herumstehen. Aber es gibt natürlich auch Erfolge der marktwirtschaftlichen Wende: Eine kanadische Firma betreibt das wichtigste Unternehmen des Landes, die Goldmine Kumtor, und stiftet mit den Lizenzgebühren einen Großteil der kirgisischen Staatseinnahmen; die Billigkeit der Arbeitskräfte, vor allem aber die Lizenz zur rücksichtslosen Ruinierung des Tienschan-Gebirges, erlauben auf einer Höhe von fast 4000 m tatsächlich ein profitables Geschäft. Der Rest der Nation kommt im Rahmen von Katastrophenmeldungen zur Sprache, wenn z.B. Untergliederungen der UNO die Ausdehnung von Tuberkulose und Analphabetismus oder Menschenrechtsverstöße beklagen, Kinder- und Häftlingsarbeit, ein Menschenhandel, bei dem u.a. Arbeitssklaven in die kasachische Wirtschaft verkauft werden. Auch für Umweltkatastrophen ist das Land geeignet: Experten warnen, dass Halden mit radioaktivem Abraum aus dem Uran-Abbau, für deren Unterhalt kein Geld vorhanden ist, durch Erdrutsche in Flüsse geraten und Zentralasien verseuchen könnten, und Regierungsstellen versuchen, internationale Gelder zu organisieren.“ (aus: Umsturz in Kirgistan, Gegenstandpunkt 2/05)

Die Krise ihres Gemeinwesens ebenso wie ihre beschissenen Lebensverhältnisse – als wäre das ein und dasselbe – legen die Leute einerseits ihrer Herrscherclique zur Last („Korruption“), vor allem aber den anderen Ethnien. Im Norden, der Hauptstadt Bischkek, hasst man die Russen, die dort als Abkömmlinge der alten Verwaltung, als Wissenschaftler usw. hängengeblieben sind. Im Süden hasst man die Usbeken, die Ackerbau und die Bazare betreiben und als reicher gelten als die „ehrlichen Kirgisen“. Und alle zusammen hassen die geschäftstüchtigen Chinesen, die inzwischen den Handel mit den Dingen des täglichen Bedarfs ziemlich komplett beherrschen. Insgesamt also eine tolle Tendenz zur Steigerung der Völkerverständigung.

Lesetipps
Das Volk – eine furchtbare Abstraktion
• Zur Nationalitätenfrage in: Renate Dillmann, China – Ein Lehrstück
Umsturz in Kirgistan

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Staatliches Sparen als Antwort auf die Staatsschuldenkrise (Teil 2)

Ein spekulatives Machtwort!

Als wäre sie eine sparsame Hausfrau von anno dunnemals wiederholt Kanzlerin Merkel fürs Volk immer wieder die Spruchweisheit, dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben könne als man einnehme. In einer vom Kredit beherrschten kapitalistischen Welt ist das extrem albern.

Kein Unternehmen und noch nicht einmal das Gros der kleinen Leute kann auf geliehene, mit Zinspflichten bezahlte Zahlungsfähigkeit verzichten. Schon gar nicht der Staat, für dessen Haushaltsdisziplin sich Frau Merkel stark macht. Kapitalistische Staaten geben grundsätzlich und in wachsendem Maße mehr aus als sie einnehmen: Sie haben große Ambitionen in der Konkurrenz mit ihresgleichen, brauchen viel Geld, um ihr Hoheitsgebiet in einen profitablen Kapitalstandort zu verwandeln – immer nach den neuesten Vorgaben der globalisierten Konkurrenz, aber auch, um die Folgen des kapitalistischen Wachstums beim überflüssig gemachten oder wegen Krankheit und Alter ausgemusterten Arbeitsvolk oder bei der natürlichen Umwelt unter Kontrolle zu halten oder um mit Gewalt weltweit für die passende Ordnung zu sorgen. Sie nehmen zwar auch viel Geld in Form von Steuern auf Einkommen und Umsätze in ihrer Wirtschaft ein, achten aber darauf, dass dieses Einkassieren privat verdienter Gelder der Steuerbürger das Wachstum nicht zu sehr beeinträchtigt und damit künftige Steuereinnahmen gefährdet. Also tut sich zwischen Einnahmen und Ausgaben der Staatsmacht in Bund, Ländern und Gemeinden regelmäßig und tendenziell wachsend eine Lücke auf, die anderweitig zu schließen ist: durch Schuldenmacherei.


Der Staat als Schuldner

Das ist auch prinzipiell kein Problem, denn der Staat ist ein besonders beliebter Schuldner: Er erwirtschaftet mit dem geliehenen Geld, dem Kredit, zwar keinen Profit, wie das erfolgreiche Unternehmen tun, die hieraus die Zinspflichten bedienen können. Aber er steht den Investoren, die seine Staatsschuldpapiere gekauft und ihm ihr Geld zur Verfügung gestellt haben, mit etwas anderem dafür ein, dass sich deren Investment als sich vergrößerndes Kapitalvermögen bezahlt macht: Mit seinem hoheitlichen Zugriff als Steuerstaat auf alle wirtschaftlichen Vorgänge auf seinem Standort. Die Freiheit zur Verschuldung und zu einer weiter steigenden Verschuldung, so dass Altschulden jederzeit durch neu aufgenommene Schulden abgelöst werden können, verdient sich ein Staat dadurch, dass er mit seinem Haushalt, zu dem die Schulden als wichtiger und bleibender Posten dazugehören, Geschäftbedingungen schafft und auch direkt Geschäfte anstößt, also ein Wirtschaftswachstum generiert. Und in dem Maße, wie die auf Kapitalmärkten zirkulierenden Staatsschuldtitel selber die Kreditmacht der Finanzhäuser stärken, mit der das Wachstum angeschoben wird, wird rückwärts die Kreditwürdigkeit des staatlichen Emittenten gestärkt. Das alles muss freilich im internationalen Vergleich der Staaten und ihrer Standorte erfolgreich herbeiregiert werden.


Die jetzige Staatsschuldenkrise

Dass Drittweltstaaten wie Argentinien, Mexiko oder Indonesien Probleme mit ihren Schulden haben, hat man schon öfter erlebt. Jetzt aber haben sich im Grunde alle Staaten der kapitalistischen Welt in eine Schuldenkrise hineinmanövriert. Die Ablösung alter durch neue Schulden gerät ins Stocken, staatliche Emittenten von Schuldpapieren kriegen nur noch Käufer, wenn sie die Verzinsung anheben, die umlaufenden Papiere werden eher verkauft als nachgefragt und verlieren an Wert. Einige Staaten wie Griechenland, Portugal oder Spanien können ihren Finanzbedarf aus eigener Kraft nicht mehr decken, sind auf Garantien anderer Staaten, der Führungsnationen im Euro-Währungsverbund, angewiesen. Das bekommt auch der Kreditwürdigkeit, also der Verschuldungsfähigkeit der Garantiestaaten wie Frankreich und Deutschland nicht gut. Andere Staaten wie USA und Großbritannien müssen ihre Notenbanken anweisen, die neu ausgegebenen Staatsanleihen aufzukaufen, um angesichts der ausbleibenden Nachfrage am Kapitalmarkt nicht den Zinssatz erhöhen und damit die Konjunktur abwürgen zu müssen. Die Profis der Finanzmärkte, Banken und andere Finanzunternehmen, die normalerweise die Verschuldung der Staaten abwickeln, weil sie selbst daran verdienen, versagen momentan diesen Dienst. Sie beglaubigen die Staatskredite nicht, sie stellen sie in Frage. Was ist da los?


Der Grund der Staatsschuldenkrise: Die staatlichen Rettungspakete zur Eindämmung der großen Finanz- und Wirtschaftskrise

Die Staaten haben mit der Förderung von Wachstumsbedingungen, mit ihrer Erlaubnis für finanzkapitalistische Kreditoperationen aller Art, selbst die Grundlage für die größte Weltwirtschaftskrise seit vielen Jahrzehnten geschaffen. Und sie selbst haben durch ihre Rettungsaktionen - erst für die Finanzwelt, dann für die abstürzende Realwirtschaft -, für die jede Menge Staatsschulden aufgelegt werden mussten, die jetzige Infragestellung ihrer eigenen Kreditmacht mitproduziert. Die führenden europäischen Wirtschaftsmächte wie Deutschland müssen jetzt ihre Kreditwürdigkeit sogar darüber hinaus weiter strapazieren, um Partnerstaaten innerhalb wie außerhalb des Euro-Währungsverbunds aus deren Kreditklemme herauszukaufen.

Bekanntlich ging die jetzige Krise im Zentrum der kapitalistischen Welt, bei den größten US-amerikanischen Banken los und dann wie ein Wirbelsturm um die ganze restliche Welt. Das Geldverdienen der Finanzinstitute mit Kredit und Kreditpapieren und daraus abgeleiteten Zusatzspekulationen brach zusammen und hätte ohne staatliches Eingreifen ein drastisches Ende genommen. Durch Mobilisierung von Billionen Euro seitens der Notenbanken und der Regierungen konnte die Liquidität des Finanzsystems aufrechterhalten werden. Und der rezessive Absturz der warenproduzierenden und -handelnden Restwirtschaft wurde durch wiederum kreditfinanzierte staatliche Konjunkturprogramme in nie gesehenen Ausmaßen gebremst. Die Finanzmärkte wurden mit Geld und Staatsschuldtiteln „überschwemmt“. Die fast kostenlose Bereitstellung von Zentralbankgeld und Staatsknete (oder -bürgschaften) verhinderte die Pleite der Banken, ermöglichte ihnen die Bedienung ihrer Schulden, die Abwicklung ihrer fallierten Altgeschäfte. Sie führte allerdings nicht zu neuen Geschäftgelegenheiten fürs Geschäft mit Kredit: Teilweise parkten die Banken das aufgenommene Geld unter Inkaufnahme von Zinsverlusten bei der Notenbank, nur um ihre Zahlungsfähigkeit zu sichern, als ob das pure Festhalten von Geld nicht der Tod einer Bank wäre.


Die Entwertung des Staatskredits durch seine Verwendung …

Neue finanzkapitalistische Geschäfte sind auch in Gang gekommen, allerdings fast nur in einem „Marktsegment“: Die Banken verdienten wieder Geld, und zwar ausgerechnet mit dem Stoff, den die sie rettenden Staaten mit ihrer Verschuldung in die Welt setzen mussten, den Staatsschuldtiteln. Natürlich muss der Handel mit dieser Sorte Schulden, der jetzt auf extrem ausgedehnter Stufenleiter stattfand, früher oder später die Frage aufwerfen, was überhaupt noch deren Wert ausmacht. Denn anders als `normale´ Staatsschulden, die direkt oder indirekt zur Förderung des kapitalistischen Wachstums aufgenommen werden und sich im Nachhinein in dem Maße `rentieren´, also rechtfertigen, wie dieses Wachstum auch wirklich zustandekommt, sind die jetzigen Schulden pur negativ begründet: Sie kamen in die Welt, um den Zusammenbruch des privaten Reichtums in der Hand von Finanz- und Realunternehmen zu unterbinden; und sie taugten auch nur dazu – nicht aber für die Wiederherstellung von Wachstumsprozessen, weder im Bankensektor noch in der Restwirtschaft. Diese ganzen Schulden waren zwar ungeheuer nötig: Sie waren unverzichtbar vom Standpunkt der Verhinderung eines Kollaps´ aller Geschäftemacherei und damit der Überlebensbedingungen aller „Menschen“ (Merkel), die offenbar Standortinventar sind und sonst nichts. Aber diese Sorte Schulden sind ein Widerspruch in sich. Sie sind nicht dazu angetan, Wachstum und damit Staatseinnahmen zu befördern. Die sonst übliche Beglaubigung als `Wechsel auf die Zukunft´, auf die Zukunft des Standortwachstums, gilt bei ihnen nicht und ihre Rolle als quantitativ enormer Sonderposten gefährdet rückwärts die Qualität aller bisher aufgelaufenen Staatsschulden gleich mit.


… vollzogen von den dazu befugten Akteuren der Finanzmärkte

Die finanzkapitalistischen Profis, die mit Staatsschulden Geld verdienen wollen, müssen momentan befürchten, stattdessen Geld zu verlieren: Ob die Masse der derzeitigen Staatsschulden aus künftigen Staatseinnahmen jemals bedient werden kann, steht für sie ab sofort mehr als dahin – und damit ist die staatliche Schuldenkrise da! Die Analysten der Finanzmärkte machen die schlechte Qualität der Staatsschulden an quantitativen Maßverhältnissen fest – wie sollten sie auch anders verfahren? Für sie zeigen Kennziffern wie die Relationen Nettoneuverschuldung/Bruttoinlandprodukt oder Gesamtschulden/BIP und ihr Anstieg, wie prekär und unsolide die Schulden seien, wie sehr die Kreditwürdigkeit der staatlichen Schuldenmacher herabgestuft werden müsse. Und dann kommen noch kritische Prognosen hinzu, was künftige Wachstumspotenziale der Länder und Finanzbedarfe ihrer staatlichen Instanzen angeht. Die Akteure der Finanzmärkte machen diese negativen spekulativen Zukunftserwartungen durch ihre Taten, also das Kaufen und Verkaufen der Papiere, schon jetzt ein Stück weit praktisch wahr: Sie entziehen Staaten den Kredit. Sie stellen somit die Zukunft des jeweiligen Standorts praktisch in Frage – und das ganz ignorant gegen den Umstand, dass sie damit ihrer eigenen Geschäftsgrundlage den Boden entziehen.


Staaten „kämpfen“ mit den Finanzmärkten um ihre Kreditwürdigkeit

Die Staaten, die sich der Bewertung durch die Finanzmärkte bewusst aussetzen, weil sie anders ihre Schuldenwirtschaft nicht fortführen können und weil sie mit ihren Wirtschaftserfolgen eine gute Bewertung herbeiregieren wollen, sind schockiert über den Entzug des Vertrauens, von dem sie leben. Erst helfen die Stärkeren unter ihnen den Schwächeren mit nochmaligen Krediten und Garantien aus der akuten Zahlungsnot heraus, weil sie sonst selbst – mit ihren eigenen Banken, ihrem Geld, ihrer eigenen Kreditwürdigkeit – mit hineingerissen würden in die Krise anderer (Griechenland-/Eurorettungspakete). Dann aber verdonnern sie sich schweren Herzens selbst dazu, „ihre Finanzen in Ordnung zu bringen“, um das Vertrauen der Märkte, sprich: deren schöne Funktionalität von gestern, wiederzugewinnen. Sie akzeptieren nämlich das – praktisch wahr gemachte – Urteil der Märkte, dass viel zu viele Staatsschulden aufgehäuft worden sind, um glaubwürdig bedient zu werden. Sie versuchen durch Einsatz ihrer Macht über die Gesellschaft, der sie vorstehen und jetzt ein „Sparregime“ oktroyieren, zu beweisen, dass sie ab sofort ein besseres Urteil verdienen. Sie verbieten sich zumindest ein Stück weit selbst die altgewohnte Freiheit, im Interesse künftigen Wachstums schuldenfinanzierte Staatsausgaben zu beschließen, weil die zuvor aufgehäuften Schulden prekär geworden sind und damit ihre weitere Verschuldungsfähigkeit in Frage steht. Diesen Widerspruch erkennen und reflektieren sie selbst, ohne ihn allerdings aus der Welt schaffen zu können: Sie verordnen sich „drastische Sparhaushalte“ und verkünden gleichzeitig, dass ein „Kaputtsparen“ der Wirtschaft unbedingt vermieden werden muss.

Worauf die Sparpakete spekulieren
„Der Staat muss endlich wirklich sparen“, heißt es. Das ist natürlich nicht so mißzuverstehen, als wolle die Regierung ab jetzt auf ihre Schuldenwirtschaft gänzlich verzichten. So, als sollten ab sofort die aktuell 1,7 Billionen Euro deutsche Staatsschulden durch Sparen abgetragen werden! Oder wenigstens die in der Krise dazugekommenen Hunderten Milliarden! Auf lediglich 80 Milliarden Euro beläuft sich das von der Merkel-Regierung für die nächsten Jahre auf Basis von frohgemuten Hochrechnungen einkalkulierte Einsparvolumen bei den Ausgaben, das wachsende Neuverschuldung ersparen helfen soll …

Schon die ziemlich unterschiedliche Dimension der Zahlen ist ein Hinweis darauf, worum es wirklich geht. Es geht um eine Demonstration für die Märkte. Demonstriert wird die Bereitschaft und Fähigkeit der Sparstaaten, sich dem Schuldenproblem `endlich´ in einer radikalen Ernsthaftigkeit, die alle Tabus beiseite schiebt, zu widmen und damit wieder das zu ermöglichen, auf was es allein ankommt: das Wachstum aller Geldrechnungen.

Nehmen wir Deutschlands Sparpaket: Einerseits wird Wert darauf gelegt, dass der Staat alle Ausgabenposten kritisch auf Streichmöglichkeiten hin überprüft, also vieles infragestellt, was bisher für nötig befunden wurde, als ob es sich um überflüssigen Luxus handelte. Andererseits wird herausgekehrt, dass die Implikationen der Sparbeschlüsse für künftiges Wachstum auf dem Standort entscheidend sind für die Frage, wo gespart werden kann und muss: Das ergibt dann eine schöne klassenspezifische Rangordnung, wobei die Härten für die „sozial Schwachen“ die Seriosität der „intelligenten“ Sparpolitik unterstreichen sollen – auch wenn kein Schwein sagen kann, ob die eine Streichung (etwa bei Hartz-IV) wirklich keine Umsätze der Wirtschaft kostet, die andere Nichtkürzung (etwa im Bildungsbereich) wirklich Wachstumsimpulse freisetzt …

Dieses zwar widersprüchliche, aber machtvolle Signal ergeht also momentan an die Märkte. Es soll selber schon dafür sorgen, dass diese ihre Negativeinstellung zu den umlaufenden Schuldpapieren überdenken. Noch bevor absehbar ist, welche Einsparungen tatsächlich zustande kommen und wie sie sich auf das deutsche BIP auswirken werden, soll die Botschaft für Fakten sorgen – so erhofft es sich jedenfalls die Regierung in Berlin. Die Kreditwürdigkeit Deutschlands, die auch nicht mehr sakrosankt ist, soll gestärkt werden (und darüber indirekt auch diejenige der unterstützten Partner).

Das funktioniert allerdings nur dann, wenn das Signal von den Adressaten richtig verstanden wird…
Die aber nehmen es auf ihre bornierte Weise zur Kenntnis. Sie fragen – wie stets – nach Gewinnausssicht und Sicherheitsrisiko ihrer Investments, und reagieren deshalb widersprüchlich. Sie bejahen den Sparwillen und bezweifeln seine Wachstumswirkung, schwanken also in ihrem Urteil, was sie von dieser praktizierten staatlichen Selbstkritik, die sie selbst herausgefordert haben, jetzt halten sollen. „Die Unsicherheit an den Märkten nimmt zu“, heißt es dann in den Medienberichten. Die Kreditwürdigkeit der Staaten bleibt eine offene Frage.

PS: Wenn ein Staat wie Deutschland, dessen Schuldpapiere nach wie vor mit triple-A geratet sind, anderen vorangeht, bleibt das nicht ohne Wirkung auf andere seiner Art. Auch Staaten, die mehr Schulden zur Konjunkturankurbelung von Deutschland verlangen, weil sie davon profitieren wollen (Sarkozy, Obama), sollen seine Linie notgedrungen anerkennen, weil auch sie sich um den Zuspruch der Märkte sorgen müssen. Umso glaubwürdiger kann Deutschland dann anderen Pleitekandidaten Vorschriften für deren Sparpolitik machen kann ...

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