Völlig abgeschaltet

Die grüne Methodik der Macht

Als kürzlich im Bundestag der Atomausstieg beschlossen wurde, ging dem auf Seiten der Oppositionsparteien SPD und Grüne eine eigentümliche Debatte voraus. Immerhin kam der Beschlussantrag von der Regierung und eigentlich gehört es sich nach demokratischem Brauch für eine Opposition, dagegen zu stimmen oder wenigstens ein Haar in der Suppe zu finden, was man aber „unter dem Eindruck von Fukushima“ nicht wollte. Nun mussten für diesen Gleichklang Begründungen gefunden werden. Während die SPD die neue Regierungslinie zur eigenen alten erklärte – siehe Ausstiegsbeschluss unter Schröder – und der Kanzlerin nur noch den scharfen Vorwurf „Schlingerkurs!“ zurief, wollten es sich die Grünen so einfach nicht machen. Sie hatten nämlich jetzt ein ernsthaftes Problem, und zwar eines der ganz eigenen Art: Die Regierung hatte sich mit dem Atomausstieg „ihres Themas“ bemächtigt.

Schon an dieser Stelle könnte man sich über die Rolle von „Sachthemen“ wundern, die sie als Material der Parteienkonkurrenz spielen. Die Grünen haben jedenfalls sofort befunden, dass sie, würden sie gegen Merkels Atomausstieg stimmen, als Partei ein „Glaubwürdigkeitsproblem“ bekämen. Mehr noch, es hieße dann wieder, sie seien gegen alles, und das geht natürlich für eine Partei, die „wählbar“ sein will, gar nicht. Zweitens aber müssen dringend neue grüne „Themen“ her, wenn selbst die Christliberalen jetzt nun einmal das Atom „besetzt“ haben. Heraus kamen im Wochenabstand ein Sonderparteitag und ein Zukunftskongress, deren Stattfinden allein schon das große grüne Verantwortungsbewusstsein demonstrieren sollte. Nein, diese Partei macht es sich gewiss nicht leicht mit ihrer Position – das müssen Wähler und Öffentlichkeit doch einfach honorieren.

Grüne Glaubwürdigkeit

Ironischerweise gehört der Satz, dass Politiker vor allem eines, nämlich „glaubwürdig“ sein müssen, gemeinsam mit dem, dass sie „das Volk“ ständig belügen, zu den landläufigsten Gemeinplätzen der Demokratie und niemand findet etwas dabei, sich eine schlechte Meinung über diese Typen zu halten und sie ungeachtet dessen spätestens alle vier Jahre wieder an die Macht zu bringen. Inwiefern Wähler notorisch misstrauisch sind und gerade deshalb dauernd danach verlangen, ihren Politikern doch wenigstens „vertrauen“ zu können, worauf sich Misstrauen wie Vertrauen richten, das ist allerdings eine ziemlich trostlose Angelegenheit. Folgendes muss ein Mensch nämlich geschluckt und gedanklich abgehakt haben, wenn er auf die bekannte Art skeptisch oder schon „verdrossen“ ist in Hinblick auf `die da oben´ und wie sie Poliltik machen:

• die Trennung von Einzelinteressen und deren Repräsentation im politischen Willen: Ein Interesse zählt erstens nicht für sich, sondern hat nur Berechtigung, sofern ein politischer Repräsentant sich seiner annimmt. Der wiederum nimmt sämtliche in der Gesellschaft existierenden Interessen aus der Warte des „Allgemeinwohls“ (sprich: der möglichst erfolgreichen Verwaltung einer nationalen Marktwirtschaft) wahr, das in dieser Sphäre fix und fertig eingerichtet ist. Die politische Debatte der Volksvertreter bezieht die Anliegen ihrer Wähler daraufhin, welchen tauglichen Beitrag sie dafür leisten und gibt ihnen gegebenenfalls Recht bzw. weist sie zurück;

• die Ein- und Unterordnung sämtlicher gesellschaftlicher Gegensätze in das Gesamtprogramm von Volksparteien: Moderne Parteien haben den Prozess des gegenseitigen Sich-Abarbeitens und der schließlichen Unterordnung von partikularen unter das Staatsinteresse längst bei sich institutionalisiert. Die Interessen taugen jetzt nur noch als politische Berufungstitel: zum Beispiel „Arbeitnehmer“ (SPD), „Mittelstand“ (CDU), „freie Berufe“ (FDP). So kommen selbst die alten Stände heute noch zu ihrem Recht, auch bei den Grünen, dazu nachher mehr.

• die Unterwerfung unter den repräsentierten Mehrheitswillen, der aus Parteilisten, Wahlstimmen und Koalitionsgeschacher hervorgegangen ist: Schnauze halten, heißt es am Ende dieser gelebten Demokratie schlicht – denn „wir sind gewählt“.

Wenn akzeptiert ist, dass sich Politiker nach Staatsnotwendigkeiten richten und richten müssen, die nur zufälllig oder gar nicht die Interessen und Nöte jedenfalls der meisten Wähler positiv abdecken, dann ist das Misstrauen gleich nur noch darauf gerichtet, ob die sogenannten Repräsentanten des Wählerwillens ihren eigenen Maßstäben und Grundsätzen treu bleiben. Oder ob sie die Freiheit ihres Amtes nach Belieben nutzen und gleichgültig gegen ihre vorausgegangenen Ansagen und `Versprechungen´ tun, was sie wollen.

Jedes der populären Wahl-Barometer operiert mit der Frage „Sind Sie der Meinung, dass Partei X oder Politiker Y gute Arbeit macht?“. Ja, gemessen woran denn? Bestimmt nicht gemessen an den partikularen Gesichtspunkten der jeweils Befragten, viel mehr aber gemessen an denen der Politik selbst, der Parteien und deren Konkurrenz. Nur wenn dieses Abstandnehmen und dieser Perspektivwechsel schon vollzogen sind, können Parteien und deren Vertreter als „konsequent“, „erfolgreich“, „durchsetzungsfähig“, „glaubhaft“ und schließlich „wählbar“ beurteilt werden – nach den immanenten Kriterien des Gelingens von Herrschaft und dem komplementären Vertrauen in sie. Und um das geht es schließlich. Glaubwürdigkeit fasst zusammen, welcher Anspruch an `die da oben´ übrig bleibt, wenn ein Wähler sich darauf hat verpflichten lassen, die Politiker nur noch an ihnen selbst, an deren proklamierten Zielen und Projekten zu messen: Der untertänige Anspruch, sie möchten sich treu bleiben und insofern eine Adresse der Herrschaftsausübung bleiben, auf die man sich einstellen und verlassen kann, von der man zugleich erwarten kann, dass sie sich allen „neuen Herausforderungen“ verantwortlich stellt.

Hierauf eine passende Antwort zu haben, das ist das Geschäft der Selbstdarstellung von Politik heute; Politprofis müssen darauf achten, gerade wenn einmal neue Dinge zur Entscheidung anstehen oder alte Positionen revidiert werden sollen, dass ihnen abgekauft werden kann, sich treu geblieben zu sein, gleichzeitig aber flexibel genug zu sein, um alles das anzugehen, was für die Nation wichtig ist.

Auch unabhängig von ihrer aktuellen Verlegenheit wegen Merkels Besetzung ihres Leib- und Magenthemas, haben die Grünen sich schon immer damit hervorgetan, ganz besonders penetrant um alles und jedes mit sich selbst zu ringen und allen Gesichtspunkten der `political correctness´ weit mehr hinterherzustiefeln als alle anderen Parteien zusammen. Stets wollen sie besonders verantwortungsvoll, besonders engagiert, besonders ernsthaft und daher besonders vertrauenswürdig sein. Der historische Umstand, dass dieser Verein seinen Ursprung einmal in einer Kritik an der politischen Klasse hatte, wird immer noch, nun aber inmitten dieser Klasse, als Duftmarke zur Wählerbetörung gesetzt und entsprechend zelebriert. Wie die Bergmannskapelle zur SPD, der Handwerkskammertag zur CDU und der Sudetentag zur CSU gehört es zu einer grünen Volkspartei eben auch, neben dem Programmpunkt „Zukunft“ die Traditionen zu pflegen. Diesem Zweck diente bei den Grünen der zum Abstimmungsverhalten beim Atomausstieg anberaumte Sonderparteitag. Auf dem wurde wieder einmal, wie alle paar Jahre, ein „Richtungsstreit“ aufgeführt, obwohl alles Entscheidende schon feststand.

Wie hätte es nämlich eine Partei glaubwürdig „vermitteln“ können, gegen einen Ausstieg zu stimmen, den sie immer gefordert hat? Womit sie als Anti-AKW-Bewegung einmal entstanden ist? Andererseits musste unbedingt der Eindruck vermieden werden, dass man „einfach“ auf die Regierungslinie einschwenkt und damit grünes „Profil“ verlöre. Heraus kam, vorhersehbar und als von den Medien ausführlich goutierter Höhepunkt des Parteitags, ein sorgfältig inszeniertes Rededuell zwischen Renate Künast, die demnächst Berlin regieren will, und Hans-Christian Ströbele, dem alten grünen Hofnarren oder, anders gesagt, dem parteieigenen Heiner Geißler für „abweichende“ Positionen. Künasts rhetorischer Coup war dabei ein Marx-Zitat, nach dem man die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern müsse. Was auch immer der Autor damit seinerzeit gegen Feuerbach im Sinn gehabt haben mag, ein Plädoyer für die Regierung (pardon: „Gestaltung“) des Kapitalismus und seiner Kraftwerke sicher nicht.

Wie dem auch sei, alle Seiten durften sich ernst genommen, repräsentiert und aufgehoben fühlen. Mit dem finalen Showdown von Künast und Ströbele war der Beweis erbracht, dass sich die Grünen ihr sehr spezielles Ja zur regierungsamtlichen Energiepolitik nicht leicht gemacht haben. Und nachdem nun dieses mehr oder weniger letzte kontroverse „Politikfeld“ begradigt ist, können Grünen-Wähler noch umwegloser – einfach dafür sein. Da jedoch stellt sich sofort die nächste Frage: Wenn das schon so ist, warum dann überhaupt noch grün wählen?

Bloß keine „Ein-Thema-Partei“ sein

Die grünen Macht-Methodiker, die ihre „Themen“ schon längst als Instrumente des Parteierfolgs sehen und selbst nur noch in den Kategorien von Politikwissenschaft und begleitender Journaille denken, haben ein wirklich apartes Problem entdeckt: Die Partei hat sich mit „ihrem Thema“ Atom ausgerechnet, aber blöderweise in der Opposition „zu Tode gesiegt“; und das kann und darf natürlich so nicht bleiben. Also sollte ein eigens zu diesem Zweck organisierter Zukunftskongress neue grüne „Themen“ erfinden, um auch weiterhin und noch vermehrt Wähler anzuziehen. Ganz nach dem Motto: Wer schon nichts zu kritisieren hat und trotzdem weiter als „Alternative“ gewählt werden möchte, muss sich wenigstens schnell etwas Neues ausdenken können. Das allein schon versprach nichts Gutes.

Erst einmal beeindruckt die schiere Breite der dergestalt inspirierten „Ideenwerkstatt“ und ihrer Resultate: Es gibt bis hin zum Frauenfußball schlicht kein wichtiges gesellschaftliches Thema, zu dem es nicht auch irgendeinen grünen Senf gäbe. Immerzu muss irgendetwas „stärker berücksichtigt“ oder „mehr in den Vordergrund“ gestellt werden. An anderer Stelle wurde etwas „zu Unrecht vernachlässigt“ oder gar fälschlicherweise „überbetont“. Schließlich muss vieles, ja eigentlich fast alles „in Zukunft stärker beachtet werden“. Man bemerke vor allem die scharfe Kritik am Bestehenden, wenn auch manches in Sprache und Diktion auf oberflächliche Leser ermüdend wirken könnte. Egal, in erster Linie zeichnen Themenbreite und -vielfalt eine wirkliche Volkspartei aus: In ihr muss sich jeder wieder finden und repräsentiert fühlen können.

Geht man dann, immer noch interessiert an den neuesten Einfällen der Grünen, die von der Partei vorformulierten Leitfragen durch, stellt sich schnell ein durchgängiges Strickmuster heraus: Wunsch relativiert sich an Wirklichkeit, aber Moral macht ganz besonders regierungsfähig; das Ganze in einem Kessel Buntes aus biederem Realitätssinn und grün-imperialistischem Größenwahn. Einige Beispiele:

– „Wie kann eine nachhaltige Entwicklung mit der Wirtschaft in Einklang gebracht werden?“
Antwort: Gute Frage, aber auf jeden Fall darf die Wirtschaft nicht beschädigt werden, denn von ihr hängt alles ab.

– „Welche Vorreiter braucht Europa?“
Antwort: Na, wen wohl?

– „Wie kann regional und international Gewalt künftig verhindert werden?“
Antwort: Mit überlegener und dadurch total überzeugender, friedlicher Gewalt.

– „Wie können wir die Daseinsvorsorge in den Kommunen auch künftig organisieren?“
Antwort: Wir in den Kommunen, das sind schließlich „wir alle“ mitten in unserer unmittelbaren Heimat.

Hier kümmert sich jeder um jeden, nicht wahr; und in grün-volksgemeinschaftlicher Verantwortung übersetzen wir selbst die ganz gewöhnliche Armutsverwaltung als „Daseinsvorsorge“, die „auch künftig organisiert“ werden muss, auf unsere Art eben. Na, prima.

Man könnte das endlos fortsetzen. Wirtschaft, Europa, die ganze Welt, die Kommunen, Familien und Geschlechter – die Grünen haben im Grunde noch nie ein „Thema“ auslassen wollen, um diesem ihre spezielle Ergänzung beizufügen. Nur, nach dem Wegfall der ehemaligen Alleinstellungsmerkmale – um wirklich einmal in den Jargon von Werbetextern zu fallen, deren Logik auch die der grünen Strategen ist – „Pazifismus“ (noch zu Fischers Zeiten) und jetzt „Anti-Atom“ haben andere „Themen“ für die Partei neue Bedeutung gewonnen. Ach ja, es gab auch mal das kämpferische Etikett „Frau und Feminismus“, heute ebenfalls als anerkannter Wert etabliert. Schade nur, dass bis auf wenige Eliteweiber „die Frauen“, auf die sich berufen wurde und wird, nichts davon gemerkt oder gehabt haben. Aber egal. Was zählt, ist die Partei, die das Thema mal erfunden hat.

Soviel und soweit hier nur am Rande zum kritischen Gehalt von vergangenen grünen „Themen“, soviel aber auch als Ausblick auf den künftigen Ertrag der „neuen“, sofern jemand sich darüber irgendwelche Illusionen machen sollte. Es geht nämlich um etwas ganz anderes: Parteien streiten sich als Konkurrenten um die politische Macht über die „Besetzung von Themen“, die sie für die kapitalistische Fortentwicklung des Modells Deutschland für entscheidend halten.

Die Grünen hatten dazu schon immer eine besonders volkstümelnde (pardon: „basisdemokratische“) Ergänzung im Angebot, eben als ihre Spezialität in der Parteienkonkurrenz. Das kann sein:

•  die Nutzung des Humankapitals, aber mit allen Geschlechtern;

• die Regulierung des Finanzmarktes, aber garniert mit einer Armensteuer;

• eine Wissensrepublik, aber für alle;

• ein Logistikstandort, aber umweltfreundlich;

• der Mittelstand samt seiner berühmt-berüchtigten Innovationskraft, aber bitte mit sozialem Verantwortungsgefühl – und jetzt eben die „Energiewende“ mit ganz vielen Exportchancen für die deutsche Industrie samt einem neu formulierten deutschen Autarkie-Ideal ganz aus Naturenergie.

Dass letzteres nunmehr regierungsoffiziell ist, drückt Erfolg und Dilemma einer Partei aus, deren kritische Moral schon immer eins war mit einem einzigen Verbesserungsvorschlag zur Modernisierung und Effizienzsteigerung der Republik – demokratietechnisch nur etwas um die Ecke gedacht und praktiziert.

„Sachthemen“

Dieses Wort ist eigentlich selbst schon ein schlechter Witz, aber hier passt er gut. Wenn sich in einem „Thema“ ohnehin nur der politische Wille zum Erfolg ausdrückt – gegen Konkurrenten aller Art – dann taugt es auch bestens für die Konkurrenz um den Wählerwillen.

Ganz in dieser Logik hat hier der Atomausstieg selbst, seine Gründe und die Kalkulationen mit ihm, keine Rolle gespielt. Alles Nötige dazu hier.

Mehr zu den aktuellen „Themen“ der Grünen in: Gegenstandpunkt 1-11, Die Wahloffensive der GRÜNEN im Wahljahr 2011

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„Haiti ein Jahr nach dem Erdbeben“

„Vorher Trümmer, nachher Trümmer“ (Spiegel online, 10.1.2011)

So die Bilanz des „Wiederaufbaus“ nach einem Jahr, das Ganze belegt mit „Vorher-nachher“-Bildern, die nahezu identisch sind. Ein eigentümliches Dokument: Fern von Aufklärung, Anklage oder wenigstens Sarkasmus dokumentiert der Bericht einfach nur, was es für ein Land nach einer Naturkatastrophe heißt, nicht im Fokus des Imperialismus zu stehen. Auch das kann nämlich ein Pech sein, wie man gerade sieht. Nach kurzen Raufhändeln der notorisch interessierten Staaten um die Zuständigkeit dort vor einem Jahr ist Haiti wieder in seine alte Bedeutungslosigkeit entlassen, mit allen Folgen.

Ein paar Fortschritte gibt es aber auch. Amerika bringt ein wenig christliche Vernunft auf die geplagte Insel. „Scharen von Missionaren“, ausgerüstet mit „Millionenspenden“, ziehen durch die Elendscamps. Sie erzählen den Haitianern, dass sie mit ihrem teuflischen Voodoo-Glauben selbst schuld daran waren, dass Gott sie mit einem Erdbeben gestraft hat. Und sie hetzen sie gegen die Voodoo-Priester auf, denen sie die Verantwortung für den Ausbruch der Cholera in die Schuhe schieben (bisher 50 von ihnen „gelyncht, erschlagen und zerhackt mit Knüppeln und Macheten“, SZ, 12.1.).

Gut, dass wenigstens der Westen über eine  aufgeklärte Religion verfügt!

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Heiße Ware aus Frankreich

Neue Castortransporte und der Protest dagegen

Es ist kein Geheimnis, wie verrückt es zugeht in Sachen Atommüllentsorgung. Abfallprodukt der Stromerzeugung im AKW ist jede Menge schwach-, mittel- und hochradioaktiver Müll, der auf Jahrtausende Ärger machen wird. In den europäischen Staaten wird dieser Müll nacheinander an verschiedenen Orten „behandelt“ (Herunterkühlen, Auseinandersortieren, Umverpacken, wieder Herunterkühlen, Zwischenlagern etc.); zwischendrin finden die leidigen Transporte statt. An jedem Punkt dieser ganzen Kette von Bearbeiten, Verladen und Bewegen gibt es kleine oder größere Umweltverstrahlungen. Und natürlich: Ein Ende der Kette ist nicht in Sicht, es gibt nirgends ein Endlager, in dem der gefährliche Schrott für immer verschwinden könnte (siehe: „Strahlender Müll für die Ewigkeit“).

Umweltminister Röttgen verspricht im Nachtrag des Laufzeitverlängerungsbeschlusses (siehe: „Rot-grün-schwarz-gelbe Energiepolitik“), die Atommülllagerfrage zügig zu behandeln – das ist der erklärte Wille, ein Endlager auch dann zu beschließen, wenn von „strengen Eignungskriterien“ Abstriche gemacht werden müssen. EU-Energiekommissar Oettinger, der schwäbische Atompolitiker, „verpflichtet“ neuerdings alle AKW betreibenden EU-Mitglieder, einen Fahrplan für die nationale Endlagerung zu entwickeln … Der „Mut“ zur politischen Klärung technischer Fragen wächst ganz offensichtlich.

Der Protest

Kein Wunder, dass sich Protest dagegen rührt. Dass die Castortransporte für eine nationale Atompolitik stehen, die rücksichtslos gegen die Lebensinteressen von Anwohnern rund um Gorleben, aber darüber hinaus rücksichtslos gegen Gesundheitsinteressen der Bevölkerung überhaupt verfährt, schafft nicht nur Unmut, sondern führt zu öffentlichen Bekundungen des Willens, so etwas nicht hinzunehmen.

Allerdings sollten sich die Demonstranten Klarheit verschaffen, wen sie eigentlich vor sich haben im deutschen Staat, der so eine Energiepolitik betreibt. Der Protest, den in Frankreich und Deutschland Tausende Aktivisten und Demonstranten mit symbolischen Blockadeaktionen mittragen, steht u. a. unter der Überschrift „Sackgasse!“. Das ist mindestens doppeldeutig.

• Will man damit ausdrücken, dass die haltlose Verschieberei und Auftürmung von Müll unabhängig von einer Klärung der End-Entsorgung für eine Atompolitik steht, die das Interesse der Leute an Gesundheit und Schutz vor Gefahren ganz nachrangig behandelt?

• Oder will man damit ausdrücken, dass eine staatliche Entsorgungspolitik, die keine endgültige Antwort auf ihre eigenen Fragen kenne, in die Irre führt und die ganze Atompolitik als Fehltritt für die Nation und Beweis für die Unfähigkeit und Unverantwortlichkeit der zuständigen Politiker entlarvt?

Wer sich in dieser Frage nicht entscheidet, diese zwei Lesarten vielleicht für miteinander verträglich oder vielleicht sogar für identisch hält, täuscht sich gewaltig. Er hat offenbar gar nicht mitgekriegt, wie viel Rücksichtslosigkeit nicht nur im Bereich Energiepolitik notwendig ist, wenn demokratische Politiker welcher Partei auch immer eine kapitalistische Marktwirtschaft regieren. Deren Wachstum und deren nötige Konkurrenzerfolge, wovon unser aller Leben ja in jeder Hinsicht abhängig gemacht ist, gehen tatsächlich nur, wenn dabei gesundheitsschädigende „Nebenwirkungen“ aller Art in Kauf genommen werden (vom Verschleiß der Ware Arbeitskraft in der Produktion ganz zu schweigen!). Diese systembedingte Rücksichtslosigkeit geben ja auch die für den besonders gefährlichen Bereich der Atompolitik Zuständigen (wie ihre Kollegen aus den Ministerien für Lebensmittel- oder Arbeitschutzkontrolle) seit jeher bekannt, wenn sie jeden Beschluss und jeden Erlass unter die schönfärberische, aber zugleich vielsagende Überschrift stellen: „größtmögliche Sicherheit ist unser oberstes Ziel!“ Was hier „größtmöglich“ ist, ergibt sich eben aus den Abwägungen des Staats, des „ideellen Gesamtkapitalisten“, der sich für den Erfolg des nationalen Standorts zuständig weiß.

Das ist die prinzipielle Härte demokratisch verantwortlichen Regierens. Wer meint, dass es dazu parteipolitische Alternativen im deutschen Politbetrieb gibt, ein kleineres Übel hier, das Vermeiden „unnötiger“ Reibungsverluste dort, findet auch vor Ort sofort die „richtige“ Adresse. Nicht umsonst tummeln sich in Wendland neben den Demonstranten auch Politprofis aus dem Lager der Opposition, die die Proteste für sich vereinnahmen wollen. Sie wittern Morgenluft dort, wo der Protest die Verantwortung der Politik vermisst.

Hier können sie sich einklinken und in bewährter demokratischer Manier ins Spiel bringen: Unzufriedenheit als bester Grund dafür, sie zu wählen – als die zuständigen Repräsentanten des Protests. Dass die von der Merkelregierung gerade beschlossene Verlängerung der AKW-Laufzeiten genau in der Logik des Ausstiegsbeschlusses von Rot-Grün liegt (Weiterbetrieb gefährlicher Meiler ungeachtet der offenen Müllentsorgungsfrage gilt für den Beschluss zum sog. Ausstieg in 2000 genau so wie für den jetzigen Beschluss zur nochmaligen Verlängerung!), bleibt außen vor. Dies sollte den Protestierern genau so zu denken geben wie die Tatsache, dass diese Politprofis aus dem „fortschrittlichen Lager“ sich ausdrücklich dessen rühmen, Proteste erfolgreich ruhig gestellt zu haben, und Merkel vorwerfen, den Frieden der Nation zu gefährden:

„Merkel und ihre vier Freunde sind es, die einen gesellschaftlichen Großkonflikt wieder eröffnet haben, der durch den Atomausstieg längst befriedet war“ (SPD-Chef Gabriel).

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Kreditkarten

In Amerika platzt die nächste Blase ...

... und da weiß der hiesige ökonomische Sachverstand, dass die Amis eben enorm unvernünftig sind. Anders als bei uns gewährt man dort ganz einfachen Leuten großzügig Kredit, Armen, armen Schwarzen, am Ende sogar armen schwarzen Alleinerziehenden. Kreditkartengesellschaften spendieren ihnen nicht nur eine, sondern gleich mehrere von diesen Dingern. Ausgestattet mit „Plastikgeld“ wird dann prompt konsumiert, was das Zeug hält:

„Den Fernseher, das Doppelbett oder den Espresso bei Starbucks – die Amerikaner bezahlen gerne alles mit Kreditkarte.“

Unser TV blendet an dieser Stelle gerne auf fette Amis jeder Hautfarbe, die ziemlich viele vollgestopfte Plastiktüten in der Hand und ihr Kreditkarten-Sortiment bereitwillig in die Kamera halten. Ja, ja, diese Amis! Überziehen mit Hilfe der Kreditkarten gnadenlos ihre Konten und

„schleppen laut US-Notenbank mittlerweile rund 950 Milliarden Dollar Plastikgeld-Schulden mit sich herum“ (Handelsblatt).

Mit einer Aufklärung über ein Stück ökonomische Realität ist das nicht zu verwechseln. Zuschauer und Leser können und sollen befremdet den Kopf schütteln – nach dem Motto: weiß doch jedes Kind, dass so was nicht gut gehen kann! Die Frage, was diese Praktiken eigentlich über das Leben der einfachen Leute im reichen Amerika aussagen, ist nicht angesagt. Genauso wenig wie die, was das mit dem Leben der Normalos auf dieser Seite des Atlantiks zu tun hat.

Von den Konsumentenkrediten ...

Nutznießer jeder Art von Konsumentenkredit sind natürlich in erster Linie die Kreditgeber – Banken oder Kreditkartengesellschaften. Sie machen aus der alltäglichen Armut der Leute ein nettes Extrageschäft. Die große Masse der Verbraucher, die den Kredit nimmt, hat offensichtlich ihre liebe Not damit, ihr tägliches Leben vom laufenden Einkommen zu bestreiten. Geld fehlt eigentlich immer und natürlich gerade dann, wenn größere Anschaffungen wie Waschmaschine, Fernseher, ein Sofa anstehen. Dass das so ist, verweist auf eine grundsätzliche Not: Diese Sorte Menschen besitzt kein Eigentum außer sich selbst; sie hängt deshalb davon ab, dass kapitalistische Geschäftsleute mit ihrer Arbeit Profit erwirtschaften und sie dafür brauchen können. Dieser Umstand reicht im Normalfall, um ein Leben lang einen Verdienst auszuschließen, von dem man einigermaßen über die Runden kommen kann – „working poor“ heißt das dann: Arm durch Arbeit sind diese Leute. Damit der schmale Geldbeutel die nötigen Anschaffungen außer der Reihe hergibt, heißt es, noch mehr verzichten und sparen. An dieser Stelle winken die Angebote der Konsumentenkredite: Ratenzahlung oder Kredit. Sie verschaffen denen, die darüber erst zu „Otto Normalverbraucher“ werden sollen, mit einem Schlag eine gewisse Zahlungsfähigkeit. Danach heißt es natürlich: zusätzlich zu den laufenden Ausgaben noch den Kredit bedienen, die Kreditsumme plus Zinsen zurückzahlen, je länger desto mehr.

Am Ende stellt sich heraus: Der Kredit hat die große Masse der Konsumenten noch ein Stück ärmer gemacht. Ein Kredit taugt eben nichts für Leute, die von einer knapp bemessenen Geldsumme ihr Leben bestreiten müssen und nicht ein Geschäft damit machen, aus dessen Erfolg sie Zins und Tilgung dann lässig leisten können.

Einen schönen Nebeneffekt für das kapitalistische Geschäftsleben bringt der Konsumentenkredit allerdings auch noch zustande: Als Schuldner bringen die kleinen Leute in ihrer Armut mehr Massenkaufkraft zustande und kurbeln so die Umsätze der einschlägigen Branchen an. Der Widerspruch aller kapitalistischen Warenproduzenten und -händler besteht nämlich darin: Als abhängig beschäftigte Produzenten des kapitalistischen Reichtums können die Leute nie billig genug sein – als Konsumenten aber ist ihr Einkommen zu mickrig, um all die tollen Produkte und Dienstleistungen kaufen zu können und so für Geld in der Kasse der Anbieter zu sorgen. Wie schön, dass da der Konsumentenkredit dem kapitalistischen Wachstum dabei immerhin ein Stück weit aus der Klemme hilft!

... zur Kreditkartenblase

Das alles funktioniert in Amerika ziemlich genau so. Anders als hierzulande werden allerdings Millionen von Amerikanern unaufgefordert Kreditkarten zugeschickt. Die Einstiegskonditionen sind großzügig: Monatlich wird nicht die volle Summe vom Konto abgebucht, sondern nur etwa 10 Prozent; Überziehungszinsen sind anfangs sehr niedrig. Die Kreditkartengesellschaften verdienen einfach an den Provision. Deshalb verschaffen sie sich über das freigiebige Austeilen von Kreditkarten eine riesige Masse von „treuen“ Kunden, die über kurz oder lang mit immer mehr Geld bei ihnen in der Kreide stehen und Schritt für Schritt in ihre individuelle Schuldenfallen tapsen.

Diese finanzielle Dauerkrise der Kreditkartennutzer ist allerdings nur die Basis für die „Kreditkartenblase“, die jetzt platzt. Mit den Schulden ihrer Kunden haben die Kartengesellschaften nämlich ein weiteres Geschäft angestoßen, das ganz der Logik verbriefter Wertpapiergeschäfte folgt (siehe dazu: Die Finanzkrise).

Knapp die Hälfte der annähernd 1 Billion USD "schweren" Kreditkartenschulden sind in „strukturierten Wertpapieren“ verbrieft. Die Kartengesellschaften warten nicht ab, bis sie ihre Schulden vom Schuldner oder irgendwann von dessen Erben eintreiben. Sie machen sie sofort zu Geld, um damit ihr Geschäft auszuweiten – durch Weiterverkauf. Nach dem Muster der Kollegen Immobilienfinanzierer werden die Schulden von Tausenden von Kreditkartennutzern gebündelt, nach Risikoklassen umverpackt und zur Basis für die Herausgabe neuer Wertpapiere gemacht. So kreiert man neue Geldkapitalanlagemöglichkeiten für andere Finanzinvestoren. Jetzt, im beginnenden Crash, stellt sich heraus, dass diese Wertpapiere nur so lange etwas wert sind, wie Finanzinvestoren sie immer neu nachkaufen. Und wenn das nicht mehr der Fall ist, weil Zweifel in die geschäftliche Solidität der Wertpapier-Emittenten aufkommen und bestätigt werden, ist die Entwertung da.

In diesem Fall reicht schon die Meldung, dass ganz unten am Anfang der Vermögensspirale uneinbringliche Kreditkartenforderungen in dem scheinbar mickrigen Ausmaß von 4,61 auf 6,92 Prozent angewachsen sind – übrigens kein Wunder bei immer mehr Arbeitslosen und Leuten, die die Hypothekenkrise verarmt auf die Straße gesetzt hat. Damit lösen sich weitere 500 Milliarden Dollar Vermögen in Luft auf und der Staat hat wieder einiges „zu retten“.

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All das könnte den kleinen Schuldnern eigentlich herzlich egal sein. Sie waren ja vorher schon abgebrannt und dass sich ihre Geldsorgen mal in Luft auflösen, haben sie eh noch nie geglaubt. Allerdings: Auch wenn ihre mickrigen Zahlungen nie und nimmer für die Verluste aufkommen können, die sich die oberen Finanzetagen so zusammengewirtschaftet haben, werden sie nach der geltenden Logik von Eigentum und Schuld unerbittlich weiter zur Kasse gebeten – solange sie sich das eben gefallen lassen.

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Lafontaine rettet die Nation 

Politische Führungskunst von links!

Krise mag für einige doof sein – für andere ist sie eine Sternstunde, in der sie zeigen können, was in ihnen steckt. Oskar Lafontaine, ehemaliger Finanzminister und heutiger Spitzenmann der Linkspartei, kommt der Regierung in Berlin jedenfalls mit ungemein harten Vorwürfen: Merkel & Co. – die können es einfach nicht!

Was – das ist dem Oskar keine besondere Erläuterung wert. Denn soviel ist schon mal klar:

„Wir haben doch gar keine andere Wahl, als das Finanzmarktsystem schleunigst wieder in Gang zu bringen. Selbstverständlich … müssen die Banken über ausreichend Kapital verfügen, um nicht pleitezugehen. Das steht alles außer Frage.“

Aber danach fängt die Regierungskunst ja erst an. Und da ist in Sachen Kompetenz, Führungskraft und Wählerbetörung komplette Fehlanzeige in den Reihen der Regierung.

Ökonomischer Sachverstand? Nicht vorhanden! Die regierenden Dilettanten verstehen schlicht nicht, um was es geht bei der Finanzkrise. Immerhin sind sie inzwischen seiner Meinung, der Staat habe einfach besser auf seine Wirtschaft aufzupassen. Umgekehrt muss Lafontaine das, was sich seine Linken unter ,mehr Staat’ und ,Kontrolle der Märkte’ vorstellen – irgendwas „Sozialeres“ jedenfalls –,  auf die Reihe kriegen. Gezähmte Banker, gebändigte Unternehmer, zufriedene Arbeitnehmer – so wäre die bundesdeutsche Klassengesellschaft wieder in Ordnung. Von den unvereinbaren Gegensätzen zwischen diesen Subjekten braucht ein verantwortungsvoller linker Politiker angesichts der großen Aufgabe, vor der die Nation steht, nichts zu wissen bzw. umgekehrt: Nur einer wie er kann überhaupt die nötige Balance zwischen Staat und Markt schaffen. Denn als nächstes fehlt der Regierung jegliche

Souveräne Führung. Sie lässt sich von ihren Bankern am Nasenring durch die Krisenarena schleifen und merkt es noch nicht einmal:

„Ich habe bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden.“

Logisch: Wenn die Regierenden die Finanzer nicht kontrollieren, kann das nur daran liegen, dass sie von denen kontrolliert werden! Die Gründe, aus denen der Staat seine Finanzinstitute dazu ermächtigt, ihre Profitrechungen anzustellen und sich damit auch von ihrem Erfolg bzw. Misserfolg ein Stück weit abhängig macht, lässt Lafontaine gegen besseres Wissen einfach links liegen. Ihm ist es viel wichtiger, die Regierungsmannschaft an einem Ideal von Souveränität zu blamieren: Eine Regierung, die nicht alle anderen beherrscht, sondern beherrscht wird – nicht zum Aushalten!

• Zum guten Schluss auch noch Versagen im politischen Kerngeschäft, der Volksbetörung. Eine glatte „sechs“ verpasst Lafontaine der Koalition, die noch nicht einmal das kleine Einmaleins des Wählereinseifens drauf hat:

„Das Volk sitzt jetzt staunend vor dem Fernseher und sieht auf einmal, dass 500 Milliarden Euro bereitgestellt werden, um Krisen zu bewältigen, und vorher haben wir uns um ein paar Hundert Millionen gezankt. Das Volk versteht das nicht mehr.“

Wenn man ihn nur ließe, wäre das Problem im Handumdrehen gelöst – billig und vor allem saugerecht: Eine „Millionärs- und Milliardärssteuer“, um es den gierigen Managern einmal so richtig zu geben. So könnte man zeigen, dass

„wir uns wieder um Gerechtigkeit bemühen (!)“ 

Und mehr, da ist der Oskar sich sicher, wäre gar nicht nötig, um das blöde Volk ruhig zu stellen.

Die Sachzwänge der globalisierten Finanzkrise kompetenter, souveräner und volksnäher bewältigen – ein wirklich schönes Angebot der linken Fundamentalopposition.

(Zitate aus: Rede vor dem Bundestag, 15.10.)

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