Vietnamflüchtlinge Immer zu viel und trotzdem zu wenig!
Die vietnamesischen Staatsmänner, von denen hier die Rede ist, haben in der Tat nach dem Abschluß des einen Krieges nichts besseres zu tun, als den nächsten vom Zaum zu brechen, ihre Armee statt aufs Feld nach Kampuchea zu schicken, weiter aufzurüsten, um dem ehemaligen Bündnispartner China falls notwendig „weitere, harte Lektionen zu erteilen“ und die ausgeblutete Bevölkerung für den Aufbau „der stärksten Militärmacht Südostasiens“ einzuspannen. Zweifellos haben die Verwüstungen der US-Armee und ihrer Bombergeschwader genügend Gründe geschaffen, um ein Leben in Vietnam wenig attraktiv zu machen, zumal für Leute, die vorher vergleichsweise ein geregeltes Auskommen hatten; und die Politik der neuen Herren hat alles ihrige getan, um die Gründe zur Flucht zu vermehren. Das Interesse hierzulande an den Flüchtlingen aus Vietnam schert sich hingegen einen Dreck um die Not der Menschen in Vietnam und ihre Gründe.
Dabei kommen ganz merkwürdige Dinge zustande wie z.B. „eine große Koalition derer, die einfach helfen wollen“: „Inzwischen unterschrieben Hunderte: Richard Stücklen und Günter Grass, Rudi Dutschke und Matthias Walden, Johann Baptist Metz und Lothar Späth, Heinz Oskar Vetter und Heinrich Alberts. Der katholische Rheinische Merkur unterstützt die Aktion ebenso wie die kommunistische Zeitung Rote Fahne.“ Der eine Teil der Helferkoalition bleibt jedoch nicht unbescholten: „Kein Linker in diesem Land kann jetzt noch sagen, er habe nichts gewußt. Wer wissen will, der weiß auch.“ Genüßlich stellt die Presse fest, „daß dieses Vietnam auch nicht besser ist als jenes, das die Amerikaner verloren“ haben, und reibt ihre Schadenfreude darüber den Linken unter die Nase, wenn sie die Frage stellt: Wo sind die Linken heute, die einst für Vietnam auf die Barrikaden gingen, als die Amis dort Krieg führten? Diejenigen, die in den 60er Jahren gegen die Amis lautstark protestierten, sollen sich heute schuldbewußt an die Brust klopfen: Weil die Vietnamesen auch jetzt nichts zu lachen haben, kann und darf man nichts gegen den Imperialismus und seine Blutspur haben. – Und die Linken von damals bereiten der Öffentlichkeit von heute in ihrer Abrechnung mit ihrem antiimperialistischen Kampf keine Schwierigkeiten. Sie unterschreiben jeden Schmarrn in der Hoffnung, daß man ihre guten Absichten zu würdigen weiß, und begeben sich in eine peinliche Defensive, wenn sie im Fernsehen und sonstwo dem CDU-Vorwurf der „Mitverantwortung für das Bestehen des jetzigen Mörder-Regimes in Vietnam“ (Todenhöfer) gegenüber ihr „Das haben wir nicht gewollt“ heraushängen lassen. Während so Dutschke und Kollegen klarstellen, daß ihr antiimperialistischer Humanismus unter gewandelten Umständen die Vorzeichen wechselt, beweisen ihre bürgerlichen Antipoden, worin die zeitgemäße Ausgestaltung von Menschenrechten besteht. Voller Begeisterung wird das Elend der Flüchtlinge in den düstersten Farben ausgemalt, um aufs neue das ewig gültige Urteil fällen zu können: „Was muß das für ein widerliches, unmenschliches, abartiges Regime sein, das für diese Flucht, dieses Elend, dieses Leid verantwortlich ist. Was sind das für Männer dort in Hanoi!? Kommunisten ...“ (BILD)
Das ,,Flüchtlingsproblem“ wird vom Westen, der an Indochina derzeit kein besonderes ökonomisches oder strategisches Interesse hat, begierig aufgegriffen und für eine weltweite moralische Kampagne gegen die Supermacht Nr. 2 und deren Verbündeten aufbereitet. Wenn die bürgerliche Öffentlichkeit gerade den vietnamesischen Flüchtlingen so große Aufmerksamkeit schenkt, liegt der Grund eben nicht in der Not und dem Elend, das die Flüchtlinge zu ertragen haben. Konstatiert „Die Zeit“ eine „Völkerwanderung des 20. Jahrhunderts“ („Heute sind in Afrika 4 Millionen auf der Flucht, in Asien über 3 Millionen, im Nahen Osten gibt es fast 2 Millionen Flüchtlinge ...“), so drückt sie die Selbstverständlichkeit aus, mit der man es heutzutage hinnimmt, daß Menschen gezwungen sind, ihr Land zu verlassen. Die Gründe der Flüchtlinge werden zur natürlichsten Sache der Welt erklärt: Es sind „Urströme“, die ,,unaufhaltsam ... in dieses Zeitalter raffinierten Fortschritts und perfekter Zivilisation“ einbrechen. Umgekehrt darf es natürlich niemanden wundern, daß der Westen bei den vietnamesischen Flüchtlingen so tut, als handle es sich hier um eine ganz außergewöhnliche Angelegenheit. Man entdeckt voller Freude einen „Holocaust im kommunistischen Vietnam“ (Todenhöfer). Ist doch klar, daß der feige Rückzug der Amis nichts Gutes nach sich ziehen konnte! Man ist mit seinem humanistischen Engagement natürlich meilenweit entfernt von der billigen Genugtuung einer nachträglichen Rechtfertigung des US-Einsatzes in Vietnam, sondern kleidet es in Mitleid für die Opfer mangelnder amerikanischer Standfestigkeit: „Genugtuung, die ehemalige Kolonialkrieger des Westens angesichts dieses Exodus empfinden mögen, wird schnell erstickt, wenn etwa ein US-Beamter in Bangkok gesteht: Sie sind das menschliche Strandgut unseres Schiffbruchs“ (arme Amis!) „in Indochina.“ (Spiegel) Es ist nur folgerichtig, daß die boat people Vietnam nicht verlassen haben, weil sie dort Not und Elend erwartete, sondern ihnen die Freiheit abging, für die es sich lohnt zu sterben und die der Westen dort unten preisgegeben hat: „Lieber ertrinken, lieber sterben, als weiter in Südvietnam leben.“
Boat people gibt es also genügend, damit jede Nation, die etwas auf sich hält, ihr eigenes Quantum auffischen kann: Es setzt eine eitel Konkurrenz zwischen den Staaten ein, die es sich im Gegensatz zu Hongkong oder Malaysia leisten können, ein wohlausgewogenes Kontingent an Vietnamesen in ihr Arbeitsleben einzugliedern. Dabei geht man allerorten getreu der Devise „Den Opfern helfen, die Täter anklagen! Menschliche Pflicht, politische Konsequenz“ (Bayernkurier) vor und schickt seine Lazarettschiffe, Flugzeugträger und sonstige Kreuzer in die fernen Gewässer, um die Humanität der eigenen Nation zu demonstrieren („Die Einladungskarten sind verschickt: das DRK rechnet mit 600 Gästen, die bei zünftiger Erbsensuppe das Schiff feierlich und hoffnungsfroh verabschieden werden“!), und unsere Staatsmänner müssen sich fragen lassen: „Warum rettet die italienische Marine Hunderte von Flüchtlingen, ohne daß in Bonn jemand auf die Idee kommt, dasselbe zu tun? Warum bauen die Amerikaner – wieder einmal – eine Luftbrücke, nicht aber die Bundeswehr?“ Gegenüber der eigenen Bevölkerung läßt sich der schöne Weihnachtseffekt vom letzten Jahr – jedem Landesvater seine Vietnam-Babies! – bereits in der sommerlichen Vorweihnachtszeit wiederholen: Während unsere Regierung nur äußerst langsam die bundesdeutschen Aufnahmequoten erhöht, fordert die Opposition die Aufnahme von mindestens 50 000 Vietnam-Flüchtlingen (wobei sie sicher ist, daß der bundesinterne Umverteilungsschlüssel die meisten von ihnen sowieso in Nordrhein-Westfalen landen läßt). Andererseits enthält natürlich die Aussage „Die Franzosen waren schneller“ auch ein berechtigtes Lob, denn schließlich haben diese eine historische Verpflichtung dort unten und außerdem spricht sowieso jeder Vietnamese französisch ... Ausgesprochen ärgerlich ist nur, daß unser Schiff dort unten 14 Tage rumgeschippert ist, ohne mehr als eine Nußschale voll Vietnamesen präsentieren zu können, weil die anderen uns schon alle weggefischt hatten. Klar, daß auch „einige realistische Worte“ erlaubt sein müssen: „Viel vernünftiger wäre es, den Staaten in Ost- und Südasien bedeutende Geldmittel anzubieten, wenn sie bei sich Flüchtlinge in großer Zahl Aufnahme gewähren. China und Taiwan haben bisher keine große Bereitschaft gezeigt, Flüchtlingen der jüngsten Welle die Tore zu öffnen, obwohl (sehr gut!) es ja vorwiegend Vietnamesen chinesischen Ursprungs sind, die untergebracht werden müssen. Das Bild würde sich ändern, böte man der Volksrepublik China für 200 000 Flüchtlinge – sagen wir (er kennt seine Chinesen!) – eine Milliarde Mark, denn China braucht dringend ausländische Währung und es kann die tüchtigen, großenteils ausgebildeten Vietnam-Chinesen sehr wohl verwenden. Auch Indonesien würde die Ohren spitzen ...“ (K. Mehnert)
Die knallharte Berechnung, mit der der Indochina-Experte vorführt, was dem Westen die antikommunistische Agitation wert zu sein hat, wird ergänzt durch das rassistische Argument, daß sich die Vietnamesen bei uns eigentlich gar nicht wohl fühlen könnten, weshalb man sie doch lieber in den in Südostasien „vorhandenen und ihnen gemäßen Räumen“ ansiedeln sollte. Sogar die Gründung eines Staates für die Flüchtlinge wurde vorgeschlagen, der einem die Flüchtlinge vom Leibe gehalten und ein Mahnmal gegen kommunistische Unfreiheit dargestellt hätte. „Hilfe“ erhält hier nur die Mobilisierung des eigenen Volkes: Werbewirksam werden die Vietnam-Flüchtlinge in die BRD verfrachtet, werden der Bevölkerung von „Welt“, „Zeit“ und „Bild“ einige Millionen entlockt (das schärft das Bewußtsein des Volkes für seine wahren Bedürfnisse, stärkt unsere Position im internationalen Gerangel der Helfer und entlastet die Staatskasse um einiges) und kann sich schließlich jedermann mit „seiner“ Spende gegen die da drüben (Heute haben gespendet... ) sehen lassen. Hier kann dann eine glückliche Familie, die vielleicht noch von jenem, um seine politische Karriere besorgten CDU-Hinterbänkler im Alleingang eingeflogen wurde, als erstes ein deutsches Volkslied auswendig lernen und gemeinsam mit Wim Thoelke und den Fischerchören ein „Jägel aus Kulpfalz“ auch über die Grenzen der deutschen Lande hinaus erschallen lassen. Dem Bürger, der sich das am Samstagabend anhören muß, mutet die staatliche Agitation einige Gedankenakrobatik zu: Während man ansonsten über die Arbeitslosen in unserem Land klagt und reihenweise Ausländer nach Hause schickt, besteht wohlverstandener Nationalismus plötzlich darin, in Landgemeinden 100 Vietnamesen in freistehende Wohnungen zu setzen und sie mittels Sprachkursen etc. für die Konkurrenz an „unserem“ Arbeitsmarkt fitzumachen. Dafür, daß so manchem Bürger diese verordnete Mitmenschlichkeit nicht so ohne weiteres in den Kopf rein will (es bedarf da einiger Extra-Veranstaltungen obiger Art), muß er sich dann von der Presse als „Kleingeist“ und „Egoist“ beschimpfen lassen. Kaum hat man den Humanismus eines kinderlosen Ehepaares aufgestachelt, bezieht es herbe Schelte nur, weil es einen kleinen Vietnamesen adoptieren wollte, der zufällig noch seine Mutter dabeihatte, statt – wie es sich gehört, Geld zu überweisen auf die diversen Sonderkonten. Die Vietnamesen, die das Material dieser imperialistischen Kampagne abgeben, die den westlichen Vormarsch mit Humanität begründet, erwartet hier also nicht das Glück auf Erden. Sie müssen sich die Musterung der amerikanischen, französischen, deutschen usw. Einwanderungskommissare gefallen lassen (hier beklagt die kritische Presse ,,bürokratische“ Engpässe), die durch ihre Auslese dafür sorgen, daß ihrem Staat keine überflüssigen Kosten entstehen. Zwar liegen erste Angebote aus der Wirtschaft vor (Spüler werden immer gebraucht und der Heiratsmarkt mit Fernost kann eine Angebotssteigerung vertragen), doch sollen sich „unsere“ Vietnamesen auch längerfristig rentieren. Das Gebaren der Behörden ist folglich nicht als ,,Menschenhandel“ zu verurteilen – diese Bezeichnung bleibt dem vietnamesischen Staat vorbehalten, der an der Flucht verdient – , geschieht dies doch alles im Interesse der Opfer selbst, für die man sich fragt, „ob Vietnamesen dem scharfen Wettbewerb standhalten können“ (FAZ). „Die Flüchtlinge“ – viele von ihnen Kleingewerbler, Wirte, Bauern – müssen „auf Berufe gesiebt werden, die sie in Europa ausüben können“; und dafür müssen sie „lernwillig, fleißig und zäh“ sein (BILD).
„Für Späth ist das Bemühen um die Vietnam-Flüchtlinge ein erneuter Anlaß gewesen, für eine Änderung des Asylrechts in der Bundesrepublik zu plädieren. Sie soll dafür sorgen, daß sogenannten »Wirtschaftsasylanten« nicht mehr ein mehrmonatiger Aufenthalt in der Bundesrepublik möglich ist. In diesem Zusammenhang war sogar von Asylschnorrern die Rede, die nur auf Sozialhilfe spekulierten und für die, wie Späth sagte, »tagtäglich Weihnachten« sei. Sie verzerrten das Ansehen echter politischer Flüchtlinge in der Öffentlichkeit. Die rund 10 000 in Baden-Württemberg lebenden Wirtschaftsasylanten sollten (nicht zuletzt zugunsten (!) der Vietnam-Flüchtlinge) so schnell wie möglich abgeschoben werden. Bis dahin wird erwogen, den Asylanten, die vor allem aus unterentwickelten Ländern wie Indien und Pakistan meist mit Hilfe von »Menschenhändlern« kommen, anstelle der Sozialhilfe nur noch Verpflegung zu geben.“ (Frankfurter Rundschau) Während sich hier Mitmenschlichkeit darin beweist, daß man den „90 % Scheinasylanten“ (Strauß) klar macht, daß sie sich bei uns nicht auf die faule Haut legen können (von wegen Weihnachten und so, wie das ja bei denen so üblich ist), muß sich die „Internationale Flüchtlingskonferenz“ von Genf, abgehalten im Juli, nicht dahinter verstecken: „Auch ohne Schlußresolution ist das Fazit dieses zweitägigen Treffens klar: 1. Die vertretenen Länder, vor allem aber die westlichen Industrienationen, haben neuerdings eine aktive Solidarität mit den Flüchtlingen manifestiert und weitere große Hilfsleistungen angekündigt. 2. Sie haben sich, trotz (!) anderem Konferenzkonzept, nicht gescheut, die politischen Aspekte anzusprechen und den Schuldigen an diesem Elend, die kommunistische Regierung in Hanoi, an den Pranger zu stellen. 3. Sie haben durch diesen Druck auf Vietnam, der ja schon vor der Konferenz spürbar war, eine Zusage Hanois erwirkt, seine brutale Ausweisungspolitik zu beenden. Für die Flüchtlinge, um die es in erster Linie geht, ist das ein positives Resultat ...“ (Neue Züricher Zeitung)
Geholfen ist dem Flüchtling, wenn er dort, von wo er weg will, bleiben muß! Getreu dieser Logik hilft man den Vietnamesen also am allermeisten, indem man a) wie die Bundesrepublik seine vorgesehenen Entwicklungshilfegelder erstmal „auf Eis legt“ oder wie die EG das Verhungernlassen von Leuten in Vietnam durch das Stoppen der Nahrungsmittelhilfe als „Druckmittel“ einsetzt, und b) auf diese humane Weise erreicht, daß Hanoi keine Leute mehr rausläßt. Wenn das kein Erfolg der „humanitären Solidarität mit den Flüchtlingen“ ist! Schließlich muß alles seine Grenze haben – Ost-Flüchtlinge sind zwar unbegrenzt brauchbar im ideologischen Kampf gegen den realen Sozialismus, andererseits aber auch immer zu viele, wenn es gilt, den Staatshumanismus praktisch werden zu lassen. Dem hiesigen Staatsbürger wird ein weiteres Stück Gehirnakrobatik zugemutet: Gewohnt, daß man alles Böse im Osten an Berliner Mauer und Stacheldraht zu erkennen hat, und Geschäfte mit der DDR vom Visum für Ausreisewillige abhängig gemacht werden, soll er es nun begrüßen, wenn die vietnamesischen Kommunisten aufgefordert werden, ihre Leute mit den gleichen Methoden am Ausreisen zu hindern. Wann eine Mauer von Nutzen ist, bestimmt der Westen nach seinem Kalkül: So haben die Amerikaner erschrocken abgewinkt, als ihnen die Chinesen bei den vergangenen Wirtschaftsverhandlungen das Angebot machten, als humanitäres Entgegenkommen für westliche Kredite gleich 10 Millionen Chinesen die Ausreise in den Westen zu gestatten ... Bleibt nur ein Problem: Gibt es zu Heilig Abend noch genügend boat people zum Rausfischen? Die Sowjetunion, die in diesem Zusammenhang auch erwähnt sein muß, hat eine Antwort für uns bereit: „Es sei die chinesische Politik, die Vietnam Schwierigkeiten bereite, erklärte ihr Vize-Außenminister Firjubin: China vertreibe Menschen in die vietnamesischen Gewässer und verstehe es, »daraus Vietnam-Flüchtlinge zu konstruieren«.“
aus: MSZ 31 – Oktober 1979 |