Aus der Welt der Wissenschaft (III)

Die geistige Ordnungsmacht: Der Vergleich


„Ja, das ist mir jetzt nur grad so eingefallen, weil man's ja in einen gewissen Vergleich ... man muß ja immer gewisse Vergleiche setzen, sonst hat man ja überhaupt keine ... äh ... Basis, auf der man eine vernünftige ... äh ... ahm ... äh ... vernünftigen Vergleich also durchführen kann, nicht wahr. Und darum geht's ja auch.“ (Der bekannte Wissenschaftskritiker Otto Grünmandl)

Argumentieren ist in unserer aufgeklärten Zeit eine allseits beliebte Angelegenheit, auch dann, wenn es um Argumente am allerwenigsten geht. Für die moralische Unterweisung, dies oder das müsse so sein und damit basta (die man sich so nur noch mit Gören unterhalb des Vorschulalters leisten kann) muß man sich schon einiges an Gründen einfallen lassen, die „einleuchten“. Zum Beispiel die Aufforderung an die vergleichende Vorstellungskraft eines ordnungsbewußten Gewissens: „Wo kämen wir hin, wenn das jeder täte...“ Der umstandslose Ersatz einer Begründung durch den schlichten Appell an das staatsbürgerliche Ich, man möge sich die katastrophalen Folgen vorstellen, wenn jeder sein schlechteres Ich zum Zuge kommen ließe, und dieses Chaos mit der Harmonie vergleichen, die die allgemeine Rücksichtnahme auf die Schranken des Gegebenen erzeugt, ist allerdings eine einfache Übung des gesunden, also vergleichenden Menschenverstandes, die sich nicht gerade weit von der Argumentationsweise der 10 und mehr Gebote entfernt.


Dem Subjektivismus freie Bahn

An die Wissenschaft, der es um Begründungen geht, sind höhere Anforderungen gestellt, sich zur unmittelbar moralischen Qualität vergleichender Urteile emporzuarbeiten. Doch läßt sie bekanntlich den Vorwurf der Praxisferne nicht gerne auf sich sitzen und hat deswegen in der Benutzung des besagten Verstandes wenig Skrupel. Es gilt sogar als besondere Qualität wissenschaftlichen Denkens, durch die hemmungslose Ausgestaltung des Pseudovergleichs mit Beispielen aus dem „praktischen Leben“ die „Anschaulichkeit“ zu erreichen, die dem Alltagsverstand, wo er über die Welt nachzudenken gezwungen ist, das Abstandnehmen vom Denken erleichtert. Es zählt als didaktische Kunst, mit der ein Lehrer sich vergleichsweise gut stellen kann, den Opfern seiner Indoktrination falsche Gründe durch „passende Vergleiche“ ,,einleuchtend“ vorzuführen und den lästigen Hang des Denkens, jeder Sache auf den Grund zu gehen (was manche in einem recht ungünstigen Licht erscheinen läßt) dadurch aus dem Weg zu räumen, daß per Vergleich mit den alltäglichen Vorstellungen an die Stelle von Argumenten geläufige Vorstellungen, also die Sicherheit des praktischen Denkens tritt, das sich die Welt für das tägliche Zurechtkommen zurechtgelegt hat. Was auch noch als Denkhilfe angetrieben wird mit der Lüge, das Denken müsse erst gelernt werden. Was an dem angeblich verschämten Vergleich des Kinderkriegens mit den Blumen oder Bienen noch jedem auffällt – daß mit dem Vergleich der wahre Sachverhalt gerade nicht ausgesprochen werden soll –, wird ausgerechnet dort, wo es ums wissenschaftliche Erklären geht, hochgelobt. Mit dem didaktischen Trick der beständigen Vergleicherei geht es also auch um alles andere als um Anschaulichkeit. Der Gedanke tritt vielmehr in einer Form auf, der den praktischen Erwägungen des täglichen Lebens, den Vor- und Nachteilsrechnungen, die sich auf die Gegebenheiten als Mittel beziehen, geläufig und vertraut ist, und der Fortschritt der Erkenntnis besteht nur darin, sich zur Kritik der Ansprüche vorzuarbeiten, dem vergleichenden Verstand die Gegebenheiten, die in seinem Vergleich die Bedingungen seiner Abwägung ausmachen, als ausschließlichen Fixpunkt seines Interesses anzuempfehlen, also den Vergleich umzudrehen und seine Wünsche als vor- oder nachteilige Bedingungen der gegebenen Ordnung abzuwägen.

Was für die Vermittlung von Wissenschaft, gilt für sie selbst erst recht. In der Identifikation einer Sache mit einer anderen, von der sie sich gerade unterscheiden soll, und der folgenden Erfindung neuer Unterschiede des zuvor Gleichgesetzten, findet der Subjektivismus den aller logischen Fesseln ledigen Spielraum, statt Gründen sein jeweiliges Interesse zur Geltung zu bringen und der Welt als Erklärung anzuhängen, so daß auf dem Felde der bürgerlichen Wissenschaft die Vergleiche blühen wie Sand am Meer und so vielfältig-schöpferische Gestalt annehmen wie der berühmte Proteus.


Wer wird da noch nach den Gründen fragen?

Wer fragt noch nach Gründen, wenn eine Linguistikeinführung die Sprache in die Funktion aufgelöst hat, der Verständigung zu dienen, und dann diese Abstraktion zum Ausgangspunkt eines Vergleichs macht, indem sie „die Grundstrukturen kommunikativer Prozesse“ durch ein Beispiel „veranschaulicht“, das nicht nur den Vorteil der „verbalen Kommunikation“, sondern auch die rechte Einstellung zur Sprache – man muß eigene und fremde Worte interpretieren (= an eigenen und fremden Willensäußerungen zweifeln), wodurch sich erst die rechte Bedeutung einstellt – klarstellt:        

„Wenn ein chinesischer Beamter vom Kaiser eine Seidenschnur erhielt, bedeutete das für ihn die Aufforderung, sich zu erhängen. Es ist aber klar, daß hier weder (!) eine Exekution noch (!) eine Aufforderung versandt wird, sondern eine normale Seidenschnur, die erst durch Interpretation zum Exekutionsinstrument wird: Weil (!) der chinesische Beamte diesem Signal die sozial festgelegte Bedeutung zuordnet, bindet er sich die Schnur um den Hals und erhängt sich.“ (Funk-Kolleg Sprache I, S. 35)

Doch sind diese gängigen Übungen der anschaulichen Einführung in falsches Denken vergleichsweise hochgeistig gegen die Konstruktion von Beispielen, in denen die Forderung nach schlauen und zugleich brutalen Staatsmännern fabelhaft ins moralische Tierreich verlegt wird und vom durchgeführten Tiervergleich nur die volkstümliche Verwandlung bestimmter Eigenschaften in Tierbilder bleibt, anhand derer der Nutzen von Stärke und Schläue für die „grausame, unabwendbare Realität des menschlichen Lebens“, die „Macht“, vergleichend abgewogen werden:

„Eine Elite von Löwen etwa kam an die Macht dank ihrer Fähigkeit zu kraftvollem und entschlossenem Handeln. Früher oder später (!) entsteht jedoch eine Situation, in der eben diese Fähigkeit sich selbstzerstörerisch auswirkt. Was nun gebraucht wird, sind kühle Überlegung und Diplomatie. Das aber sind genau die Fähigkeiten, die den Löwen abgehen (weshalb die Füchse aus ihren Löchern kriechen) ... Umgekehrt kann eine Elite von Füchsen nur auf der Höhe der Situation bleiben, solange ihre Schläue gebraucht wird. Früher oder später (!) entsteht jedoch die Notwendigkeit, Schluß mit den klugen Machenschaften zu machen und entschlossen zu handeln. Den Füchsen fehlen aber (!) die entsprechenden Fähigkeiten. Sie sprechen immer noch die Sprache der Diplomatie, wenn Kanonen sprechen sollen (da lacht noch die letzte Gans, daß Füchse immer nur verhandeln!). Wahrscheinlich (= hoffentlich) werden sie deshalb bald abgelöst durch Leute, die im richtigen Augenblick die Kanonen sprechen lassen.“ (Berger & Berger, Wir und die Gesellschaft, S. 198)

Die Logik des (un)möglichen Vergleichs erlaubt noch ganz andere Kunststücke, gerade dann, wenn es darum geht, eine Sache einmal für sich zu betrachten und unwiderleglich ihre notwendige Existenz ganz ohne Notwendigkeit zu begründen, z.B. das Geld:

„Will man autoritären Zwang vermeiden (der Zwang der Verhältnisse hat auch was für sich!), muß diese Aufgabe“ (Zugänglichmachen von Leistungen und Erzeugnissen für „ungeheuer viele Interessenten“) „grundsätzlich im Wege des Tauschverkehrs bewältigt werden. Die Methode des unmittelbaren Austausches freilich, der sogenannte »Naturaltausch«, wäre hier zum Scheitern verurteilt. »Zirkulare« Tauschvorgänge von der Art, daß ein Individuum A mit B in Tauschverkehr tritt, um von diesem gegen Lieferung von (Y) ein Gut (Z) zu erwerben, das ein dritter Tauschpartner, C, gegen seine Ware (X) – deretwegen A dieses mühselige Geschäft betreibt – einzuhandeln geneigt ist, lassen sich durch Naturaltausch nur höchst umständlich bewerkstelligen.“ (F. Geigant, Die Wirtschaft, S. 35)

Der Vergleich mit dem Naturaltausch ist also keiner. Die heimliche Vorstellung von Germanen, die um Ger gegen Met gegen Tusnelda feilschen, wird nur bemüht, um ihrem Treiben erst die erlogene Funktion des Geldes anzuhängen, jedem Zugang zu den Gegenständen der Bedürfnisbefriedigung zu verschaffen, und dann triumphierend festzustellen, daß ihr primitiver geldloser Austausch diese nützliche Leistung nicht bringt, weil ihm das Geld fehlt. Das wissenschaftliche Interesse am Lob des Geldes läßt also hier seine Phantasie spielen und erfindet sich eine zirkuläre Tauschgesellschaft ohne Zirkulationsmittel. Klar, was dann rauskommt: die zirkuläre Erklärung, daß nichts über ein ordentliches Zirkulationsmittel geht. Das Praktische an solchen Vergleichen ist ihre Einfachheit. Man braucht sich nicht weiter um Gegebenheiten zu scheren, sondern kann die eine Seite gleich so erfinden, daß sie die andere Seite mit dem gewissen Unterschied ist, auf den es einem ankommt, und braucht sie dann höchstens noch mit dem Schein einer früheren Realität zu versehen. Bei entsprechender Phantasie und Mut zum reinen Gedankenexperiment läßt sich mit diesem Trick ein regelrechtes Ableitungsmodell der Tauschgesellschaft und ihres Lieblingsfetisches konstruieren:

„Wir wollen annehmen, daß eine Gruppe von Personen auf einer Insel gestrandet sei und daß auf dieser Insel der Wirtschaftsablauf organisiert werde. Ferner wollen wir annehmen, daß an jedem Tag z.B. durch ein Flugzeug eine bestimmte Menge Konsumgüter abgeworfen werde, die auf die Inselbewohner zu verteilen sei ...“ (Schneider, Mikroökonomie, S. 9. Wer sich dafür interessiert, was sich aus dem „Beispiel“ alles machen läßt, möge dort weiterlesen!)


Blick zurück ohne Zorn

Die Geschichtswissenschaft kann über solche Schwierigkeiten, die Notwendigkeit eines Gegenstandes zu begründen, nur den Kopf schütteln. Ihr Gegenstand erklärt sich von alleine, wenn man nur mit beiden Beinen fest im Hier und Heute steht. Weil, was war, nicht mehr ist, was aber ist, nicht war, läßt sich das, was war, lässig als das erklären, was es noch nicht ist, und damit das, was ist, zur Vollendung dessen machen, was war. Falsche Vergleiche braucht diese Wissenschaft nicht unbedingt anzustrengen, sie ist einer, wobei die eine Seite, das Jetzt, schon rein zeitlich so unerschütterlich feststeht, daß es nur einiger kleiner Korrekturen am Jetzt und Früher bedarf, um als Wissenschaft durch und durch moralische Qualität zu gewinnen. Daß die BRD ein ordentlicher „freiheitlicher und sozialer Rechtsstaat“ ist, beweist man damit, daß man sein schönes Funktionieren zur gelungenen Verfassungslösung des allgemeinen Problems staatlicher Stabilität erklärt und daran die Weimarer Verfassung mißt, die dabei gar nicht gut wegkommen kann (schließlich ging sie ja baden). Der Verzicht auf die Erklärung der Weimarer Republik wird beispielsweise so vorgetragen:

„Fehlkonstruktionen der Weimarer Verfassung hatten einen erheblichen Anteil an dem schleichenden Zersetzungsprozeß. Diese Verfassung wurde zwar gerühmt als die freieste Verfassung der Welt (wo doch jeder weiß, daß unsere FDGO on top of the world ist), aber sie war nicht realistisch genug“ (wie das GG, das jedem von ihm großzügig gewährten Grundrecht seine Einschränkung bzw. Verwirkung bei Mißbrauch gegenüberstellt). „ ... Die Republik hat es kaum je mit einer echten“ (– staatstreuen wie der unseren) „Opposition zu tun gehabt, sondern fast nur mit entschlossenen Gegnern (gegen den Staat gehört Gegnerschaft verboten). Die politische Willensbildung war durch das Verhältniswahlrecht erschwert“ (anstatt wie heute durch die 5 %-Klausel dem Wähler seine Entscheidung zu erleichtern und für die richtigen Verhältnisse zu sorgen). „Es begünstigte die Erbanlage“ (immer diese furchtbaren Gene) „der Deutschen zu Eigenbrötelei und Sonderbündelei und erleichterte das Aufkommen von Splittergruppen.“ (usw. usf. quer durch den Staat hindurch bis zur „Verantwortungsscheu der deutschen (!) Parteien“.) (Informationen zur politischen Bildung, Folge 109 -110: Die Weimarer Republik)

Wenn man will, läßt sich jetzt der Vergleich auch offen aussprechen: Das Grundgesetz hat, dies die beglückende Moral, aus Weimar gelernt, und die BRD ist sozial- und rechtsstaatmäßig „der beste, den wir je gehabt haben.“ (Hobbyhistoriker Scheel). Die explizite Veranstaltung von Vergleichen zwischen früheren und heutigen Lösungen überzeitlicher Probleme des heutigen Staatsmenschen baut also auf der unausgesprochenen vergleichenden Verfälschung der Geschichte auf, die keines Hinweises auf Heute bedarf, sondern sich getrost mit heutigen Problemen voll ins Damals versenken kann. Sie ist also notwendige Zusatzveranstaltung, die das wissenschaftliche Ergebnis gebührend festhält, in dem sie das Heute als einzigen Gegenstand und Zielpunkt der Beschäftigung mit der Vergangenheit herausstreicht, und die moralischen Lehren auch als solche ausspricht. Solche groben Klötze sind z.B. bei der alten Abteilung immer wieder einmal geboten, die weniger mit der Entstehung der BRD seit 1789 als mit der Entstehung des BRD-Abendlandmenschen seit 2000 v. Chr. zu tun hat:

„Wunder über Wunder – wer könnte es leugnen!“ (Nur Gegner dieser Wissenschaft und andere Ungläubige!) „Dieses Babylon war, wenn man Herodot, Diodor und Strabon glauben darf (nur zu!), die Weltstadt schlechthin. Eine Metropole der Pracht, des Luxus und des Reichtums, Wohlstands- und Sündenbabel, Moloch und Sirene zugleich. Lärmend, geschäftstüchtig und stolz. Ausschweifend, sittenlos und lasziv, hochmütig und hybrid.“ (Ende des Zettelkastens).
„Das Urbild aller großen Städte bis heute: London und Rom, Paris und New York“ (besonders wenn die Zivilisation, wie bei Stromausfall, versagt) „in einer Gestalt.“ (R. Pörtner, Alte Kulturen ans Licht gebracht, S. 71)

Natürlich beherrscht diese Wissenschaft für ihre Lehren auch den phantasievollen Trick der Ökonomen, sich vergleichsweise andere historische Verlaufsformen der BRD-Werdung des Menschen auszudenken, mit der beruhigenden und aufregenden Gewißheit, daß die Macht des Faktischen damit nicht angekratzt, sondern teleologisch überhöht wird: Was wäre gewesen, wenn Hannibal einen Elefanten Nachschub bekommen hätte, wären wir nicht heute Nutznießer oder Leidtragende tunesischen Handelskapitals? Nicht auszudenken, wenn die alten Griechen bei Salamis verloren hätten:

„Die welthistorischen Perspektiven des großen Sieges über die Perser sind fast unübersehbar. Erst durch den siegreichen Freiheitskampf der Griechen ist Europa als Idee und Wirklichkeit geboren worden. Die Güter, für die einst die Griechen ihr Leben einsetzten, sind auch heute noch die höchsten Werte im Leben der abendländischen Menschheit. Nicht nur die politische Freiheit, auch die geistige Unabhängigkeit des abendländischen Menschen haben die Griechen verteidigt, und wenn wir uns heute als denkende, freie Menschen fühlen, so haben jene die Voraussetzung dafür geschaffen. ... Das Beispiel (!) des griechischen Freiheitskampfes beweist, daß die Geschichte des menschlichen Geistes nicht an geographische und machtpolitische Gegebenheiten gebunden ist, sie beruht vielmehr auf der Leistung des schöpferischen Ingeniums, nicht auf dem kollektiven Faktor der Masse, die der Staatsmann für seine Pläne nicht entbehren kann. Ist es ein Zufall, wenn das Perserreich ... keine einzige Individualität aufzuweisen hat, deren Leistungen in irgendeinem Bereich des menschlichen Geistes sichtbar würden?“ (Nein, das ist natürlich kein Zufall, weswegen es auch gerechtfertigt ist, daß die Perser bei der WM und sonst eins draufkriegen!) (Bengtson, Griechische Geschichte, S. 174 f.)


Konfrontation für Andacht und Würde

Daß und was man aus der Geschichte lernen kann (= muß), wenn man sie nur richtig zubereitet, ist also entschieden, ebenso wie die daraus folgende Streitfrage, ob es immer im Kreis geht (= der heutige Mensch schon immer derselbe war und Demut üben muß) oder stetig vorangeht ( = die BRD die höchste Stufe ist, mit der der Mensch zufrieden sein muß). Die Geschichte macht am besten beides:

„ ... denn die Geschichte geht nicht nur (!) vorwärts, wie man in der Jugend und in naiven Epochen glaubt, sondern sie geht immer auch im Kreise, und die Skeptiker sagen, unter Berufung auf die Antike, sie gehe nur im Kreise.“ (Sengle, Zur Überwindung des anachronistischen Methodenstreits in der heutigen Literaturwissenschaft)

Dann kann der Germanist auch aus der Rekonstruktion des Biedermeier ein moralisches Vergleichsprogramm machen für die Besinnung darauf, „daß es nicht nur das Jetzt und Hier gibt“ (na sowas!) und „das Wissen um die menschliche Unvollkommenheit und Tragik“ Bescheidenheit lehrt:

„Wenn ich so versuche, die Biedermeierzeit, so gut ich kann, wiederherzustellen, ... so ... glaube (ich), eben dadurch der Gegenwart den besten Dienst zu erweisen. Oder meint man, daß unserem herrlichen Jahrhundert die Konfrontation mit anderen Epochen weniger nottut als dem achtzehnten?“ (F. Sengle, Biedermeierzeit, S. IX)

Die krude Anbeterei des Hier und Jetzt, die das Prinzip dieser überaus praktischen Wissenschaften von der Vergleicherei durch die Hintertür ausmacht, wird offen in jenen Unterabteilungen von Geschichts- und Literaturwissenschaft vorgetragen, die nichts anderes mehr treiben, als die verschiedenen Staaten bzw. Nationalliteraturen, die von ihren Kollegen schon auf Konfrontation getrimmt wurden, direkt miteinander ins Verhältnis zu setzen. Das, was historisch passiert ist, interessiert einzig und allein unter dem Gesichtspunkt dessen, was sich damit an Glanz und Gloria des Vaterlandes herausholen läßt. Es setzt ein fröhlicher Wettbewerb um die Frage ein, welche Nation den größten (Kultur-)Staat hervorgebracht hat. Ein Italiener, der den hier zur Schau getragenen Chauvinismus natürlich genauso beherrscht, stellt zunächst fest, daß es ein „Gemeinplatz“ ist, daß die Italiener „einen großen Teil der Welt mit dem Ruhm ihrer Werke erfüllt haben“, um dann zum Ruhme seiner Heimat loszulegen:

„Die Italiener haben Amerika für die Amerikaner entdeckt; sie haben den (schon vorher?) frommen irischen Katholiken und vielen anderen ihre Religion weitergegeben, sie brachten den Engländern die Dichtkunst, das Verständnis für die Kunst der Staatsführung und die doppelte Buchführung in Banken und Handel bei; den Deutschen die Grundzüge der militärischen Taktik und die Verwendung der Artillerie; den Russen die Rezitationskunst und das klassische Ballett; den Franzosen die Kochkunst und fast allen Völkern haben sie die Musik geschenkt.“ (L. Barzini, Die Italiener, S. 10)


Rückwärts und vorwärts, Unter- und Übermenschen

Die Amerikaner in ihrem Erfindungsreichtum setzen in der Anwendung dieses Fehlers auch für andere Wissenschaften natürlich Maßstäbe, beispielsweise indem sie in der Disziplin der Anthropologie der Welt und nicht zuletzt den eigenen Mitbürgern die wenn auch späte, so doch letztlich siegreiche Überlegenheit ihrer Kultur vor Augen führen. So heißt es in einem US-Schmöker über die Indianer, in denen man „nicht den edlen Wilden und das unverdorbene Naturkind sehen“ will:

„Die Romantik primitiver Kulturen liegt anderswo (= es kommt mir nicht darauf an, sie selbst zu erklären) – sie liegt in der Erkenntnis (!) unseres eigenen Ursprungs, unserer eigenen Bedeutung.“ (P. Farb, Die Indianer, S. 27; Originaltitel: „Man's Rise to Civilization“),

womit sofort auf der Hand liegt, daß die rote Untermenschenrasse zu Recht anderen Platz machen mußte (kleiner Trost: immerhin war sie Vorläufer), weil sie es nur zu einem „zusammengesetzten oder gemischten“ Stamm, nicht aber zum Staat brachte, in dem des Menschen ganze anthropologische Unvollkommenheiten auf das Vollkommenste aufgehoben sind.

Wenn schon die Vergangenheit sich vergleichend dem Preis der Gegenwart beugen muß, warum dann nicht auch die Zukunft? Die Futurologie beweist, daß der Produktivität, mit der sich das „vergleichende Argument“ ins Unendliche ausdehnen läßt, absolut keine Grenzen gesetzt sind und die Probleme des gegebenen Staates vergleichsweise einfach zum Maßstab alles Sehnens und Trachtens zu machen sind, wenn man den Trick der historischen Wissenschaft phantasievoll umkehrt: Erfindet man sorgenvoll und mit statistischem Material „mögliche Entwicklungen“ unserer geliebten Staatenordnung, dann drängt sich der bewertende Vergleich zwischen solchen selbstgeschaffenen Zukünften geradezu auf und entscheidet sich zwangsläufig nach den subjektiven Kriterien, denen sich die Zukunftseinfälle verdanken. Der Pseudovergleich hat sich damit ganz von den lästigen Schlacken des Wirklichen freigemacht und erlaubt dem freischwebenden Geist, der sich seine Gegenwartsprobleme unbekümmertspielerisch in seinen Alternativen vor Augen führt und entscheidet, damit eine ganz andere Entscheidung zu treffen: wenn der Maßstab der Fortbestand der Menschheit ist, hat man sich trotz aller Schwierigkeiten auf jeden Fall für ihn gegen Zukunftsträumereien zu entscheiden. Verglichen mit dem Ideal eines Kapitalismus ohne Störungen ist der Kapitalismus immer noch besser als gar keiner!


Vergleichsweise auf dem Boden der Realität

Solche Phantastereien, die sich in allen möglich-unmöglichen Verbesserungsvorschlägen niederschlagen, kranken allerdings daran, daß am Ende wenig Hilfe für die praktische Lösung der aktuellen Staatssorgen herausspringt, weswegen realitätstüchtigere Wissenschaftszweige zwar diese Form des alltäglichen, nicht auf falsche Begründung, sondern auf Abwägung von Vor- und Nachteilen zielenden Vergleichs aufnehmen, sich dabei allerdings streng auf dem Boden staatlicher Realität bewegen.

Pädagogen, die sich für die „Effekte von Differenzierung“ interessieren, weil sie die „Frage nach den Bedingungen von Reform oder Nicht-Reform“ beantworten wollen, um dem Staat unnötige Anstrengungen zu ersparen, schauen sich dazu in der Welt um –  selbstverständlich ruht ihr Blick nur auf „ebenso hoch industrialisierten Staaten“ (zwecks „methodischer Absicherung“ des „vergleichenden Arguments“) – und entdecken in ihr das Gleiche wie in der Heimat:

„Hier ergibt sich die Chance, die spezifischen Verhältnisse in einem Land hypothetisch als die Variation eines allgemeinen Problems zu begreifen und aus der vergleichenden Analyse mehrerer Länder jene Variablen zu gewinnen, die eine Art konditionalgenetischer Rekonstruktion des Phänomens erlauben.“ (S. Robinson u.a., Schulreform im gesellschaftlichen Prozeß. Ein interkultureller Vergleich, Bd. II, S. XXI)

Was Schweden, Engländer, Russen mit ihren Kindern in ihren Schulen anstellen, ist diesen Leuten schnurzpiepe, geht es doch ausschließlich darum, die diversen Schultypen und Selektionsmechanismen als „Variationen eines weiten internationalen Feldes zu identifizieren (!)“, d.h. als die immergleiche Konstellation des ganz bestimmten Problems zu begreifen, das bundesdeutsche Pädagogen mit ihrer Schule haben, nämlich sie den wechselnden Anforderungen der eigenen Gesellschaft anzupassen. Was „für die Verhältnisse im eigenen Land lehrreich oder gar (!) wiederholbar“ ist, wird begierig aufgegriffen und auf seine Vor- und Nachteile hin abgeklopft, um „Handlungsmodelle für Schulreformen mit reduziertem Reibungsverlust“ abzuleiten und dem Staat Entscheidungs„hilfen“ und -alternativen vorzulegen.


Systematik des Systemvergleichs

Politologen haben dieses Verfahren, sich bei anderen Staaten umzusehen, ohne einen einzigen Gedanken auf die Besonderheit der ins Verhältnis gesetzten Gegenstände und folglich auf ihre Differenz zu verschwenden, zur Perfektion entwickelt, indem sie sich gar nicht erst an Einzelproblemen abarbeiten, sondern aufs Ganze gehen: Um das Schöne daran, hier leben zu dürfen, effektvoll herauszustreichen, darf uns das Land der Brüder und Schwestern jenseits von Mauer und Stacheldraht den Spiegel vorhalten, auf daß „wir alle“ uns erst so richtig erkennen und zu unserer Identität als Staat samt dem entsprechenden Staatsbürgerbewußtsein von Stolz und Bescheidenheit via DDR finden.

Man kann die Vorzüge des Modells Deutschland gegenüber den mißlungenen Modellen der anderen in kaum noch zu überbietender Simplizität ausmalen, wenn man in dicken, streng empirischen Wälzern nach dem Muster des „Zahlenspiegels BRD-DDR“ (herausgegeben vom Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen) überraschenderweise feststellt, daß die DDRler zwar mehr Kartoffeln (gehobener Standard hierzulande!) essen, „wir“ aber mehr Fleisch (genau: 78,8 zu 75, 4 kg pro Kopf für die BRD) und Chiquitabananen.
Wenn kritische Politologen in einem ersten Schritt BRD und DDR in unterschiedliche Ausprägungen des gleichen Typus der modernen Gesellschaft verwandeln –

„Auch in der DDR zeigt sich eine Anpassung des staatlichen Organisationstyps an die Dynamik der hochindustrialisierten Gesellschaft.“ (R. Waterkamp, Herrschaftssysteme und Industriegesellschaft – BRD und DDR, S. 8) –

und anschließend unter diesem „Aspekt“ beide Staaten einer kritischen Überprüfung unterziehen –

„Zumal bei der Berufsausbildung, bei der weiblichen Erwerbstätigkeit sowie im Bereich der Schul- und Hochschulpolitik zeigt sich der Vorsprung“ (Scheiße!) „der DDR, den Anforderungen der modernen Industriegesellschaft gerecht zu werden.“ (ebd.) –,

so unterscheiden sie sich von ihren Kollegen, die an der DDR nur das Fehlen der Vorteile der BRD entdecken, nur durch die besondere Gewitztheit ihrer Vergleicherei, die den anderen deutschen Staat benützt, um den westdeutschen praktisch weiterzubringen. Diese Herren kommen nämlich zu dem Ergebnis, daß die Verhältnisse drüben uns insofern „etwas sagen“, als sie brauchbare Hinweise geben, wo genau die BRD noch etwas tun muß, um ihren Vorsprung im Verhältnis zur DDR insgesamt auszubauen. Und noch jedes Mal erweist sich erfreulicherweise dort, wo sich, gemessen am allgemeinen Modell der „Industriegesellschaft“ bzw. seiner DDR-Ausgabe, Schwachstellen der BRD ausfindig machen lassen, die Überlegenheit des westlichen Systems. – Schließlich macht es erstens das Gleiche, zweitens perfekter, was man drittens an seinen „Selbstheilungskräften“ sieht, und viertens kann hier jeder sagen, was er denkt. Viertens wird immer zu Erstens, wenn das jemand bestreitet: An den „Menschenrechten“, die woanders nicht verwirklicht sind, kommt doch gerade die Blüte heraus, in der die vom Staat hierzulande zugestandenen Freiheiten wirklich stehen.

Die ganze falsche Vergleicherei dient dazu, das, was man schon vorher wußte bzw. als selbstverständliche Unterstellung annahm, mit der Würde der internationalen Respektabilität auszustatten, so daß man eine Nachteil-Vorteil-Rechnung aufmachen kann, in der entweder immer die eine Seite von Anfang an gewinnt oder unter dem Strich herauskommt, wer den schönsten Staat auf dieser Welt hat. Wobei gegenüber bösartiger Kritik, die den Vergleich moralisch umdreht (großer Bruder SU, China!) und ebenso kräftig mit und ohne Statistik lügen muß, die eigenen Statistiken und oft der bloße Hinweis ausreichen, „ Geh’ doch nach drüben ...“ (dort wirst du erleben, wie gut es hier ist).


Sorgen – Alternativen – Entscheidungen

Wo der Politologie dieser Nutzen zu gering erscheint, da stellen alsbald die entsprechenden falschen Vergleiche sich ein, die das tägliche Geschäft der Politiker sorgenvoll kritisch begleiten und beraten, nach der Devise: Wie lassen sich die DDR und andere Staaten am besten ausnutzen, bringt's die Entspannungspolitik oder die CDU-Alternative; was wäre, wenn wir stärker rüsten würden, uns nicht so stark vom arabischen Öl abhängig gemacht hätten usw. usw. Aufdringlich mischen sich die Paradepolitologen in das Geschäft der theoretischen Staatspraktiker, der Journalisten, und bereichern die alltägliche Vorführung politischer Nutzenerwägungen und Entscheidungsprobleme, die die Öffentlichkeit zu ihren macht, um Beiträge, die etwas Besonderes nur durch das Gewicht ihrer wissenschaftlichen Persönlichkeit sind. So nimmt noch jede Wissenschaft, wenn sie sich auf das in ihren wissenschaftlichen Pseudovergleichen betätigte Interesse ausdrücklich besinnt, vom wissenschaftlichen Denken offiziell Abschied mit Vergleichen, die auf der Sicherheit basieren, daß die Rechtfertigung ihrer Gegenstände – und sei es auch mit falschen Vergleichen weniger wichtig, weil staatlicherseits garantiert ist und es stattdessen auf die Unterstützung der praktischen Staatsdurchsetzung ankommt, die viel mit Entscheidungen über vor- und nachteilige Folgen, günstige-ungünstige Voraussetzungen usw., aber nichts mit Wissenschaft zu tun hat. Hier endlich ist die Wissenschaft ganz von der Last des Argumentierens befreit, hat aus der Aufgabe der Begründung des Staats die staatsfürsorgliche Verwandlung von allem und jedem in vorhandene oder mögliche Alternativen gemacht, deren „Durchspielen“ die von einer ordentlichen Wissenschaft verlangten „praktischen Erkenntnisse“ bringt. Hier, wo das subjektive Interesse unmittelbar mit den politischen Erwägungen der Machthaber zusammenfällt, kann es sich auch vergleichend am hemmungslosesten austoben und von jeder Erkenntnis ungetrübte theoretische Entscheidungen treffen, so daß politische Wissenschaftlermeinung gegen politische Wissenschaftlermeinung steht.


Widerspiegelung an wehrlosen Geistern

Die bedingungslose Behauptung des eigenuneigenen Interesses am Fortgang des Gegebenen als Maßstab wissenschaftlichen Denkens bedarf allerdings – weil keineswegs selbstverständlich – der wissenschaftlichen Selbstvergewisserung, daß Wissenschaft so und nicht anders zu gehen hat. Ein weiteres Mal tut der Vergleich dabei seine Dienste und nimmt die diesem Dienst gemäße Form an. Weil die Logik des Vergleichs die erfindungsreiche Verhinderung von Argumenten und Gründen ist, die etwas über die Vergleichsgegenstände aussagen, findet sie ihre logische Fortsetzung überall dort, wo die moderne Wissenschaft sich mit sich selbst beschäftigt. Mit der Waffe des Vergleichs verbietet sie sich und anderen das Denken und holt zum Totschlag an alten und neuen Denkern aus, daß sie das Gleiche fabrizieren, was sie jeweils an falschen Aussagen ansammelt, – nur eben nicht so gekonnt. Dabei macht es sich besonders günstig, daß die Benutzung der schon gemachten Erkenntnisse zu ihrer Zerstörung durch Vergleich statt zu ihrer Fortführung, bzw. kritischen Korrektur einen selbst in eine Reihe mit den großen Geistern von früher stellt – und zwar auf einen vorderen Platz. Ein Odo Marquard greift z.B. auf den alten Philosophen Schelling zurück, den er zu seinem Ruhme auf folgende Weise wiedererstehen läßt:

„Kein Zweifel: Schelling ... starb 1854; aber man kann (!) meinen, daß dieser Tod nur die gelungene Tarnung“ (bis zum Tag, da Marquard kam) „seiner zunehmenden Lebendigkeit war. Für diesen – wie man ihn nannte – Proteus war auch sein Ableben nur die willkommene Gelegenheit, zu einer neuen Gestalt zu finden, kunstvoll (!) überzugehen aus Schellings Leben in Schellings Aktualität (das ist ein Übergang!). Denn die Gegenwartsphilosophie das ist in wichtigen Teilen entzauberter Schelling.
Freilich ist sie dies unbewußt; denn hier – in der Gegenwart – liebt es Schelling (der Schelm), inkognito auf zutreten. Darum (!) können (!) Überlegungen zur Aktualität Schellings im Versuch bestehen, diese Inkognitos“ (Schelling an jeder Ecke?) „seiner heutigen Präsenz zu lüften. Mit dieser fixen Idee (sie!) als Wünschel(!)rute durchstreift der Verfasser im folgenden die Landschaften der Gegenwartsphilosophie, wo sie ihm (!) angenehm, wo sie ihm (!) nicht zu beschwerlich sind, und sucht dort – durch Hinsehn mit der Hoffnung auf Tagebau oder aber bohrenderweise – nach mehr oder minder verborgenen und ergiebigen Schellingvorkommen.“ (Schelling – Zeitgenosse inkognito, in: Einführung in seine Phil, Hg, H.M. Baumgartner, S. 9)

Statt der Frage nachzugehen, was es mit dem Denken Schellings auf sich hatte und was heute von seinen Inkognitos damit getrieben wird, sich also auf der Grundlage der Kenntnis der verschiedenen Theorien um die Feststellung ihrer Unterschiede zu bemühen, kommt Marquardt auf den Unsinn „Schelling lebt in uns allen“, auch wenn das keiner weiß, weil er beide Seiten seines irrwitzigen Vergleichs für sich vereinnahmen will: 1. mag Schelling alles mögliche gedacht haben – was zählt, ist die von mir veranstaltete „Aktualisierung“; 2. mag die Gegenwartsphilosophie tun, was sie will – ich zeige ihr, daß sie nichts als Schelling ist.


Selbstbehauptung und Selbstaufgabe

Mit diesem doppelten Vergleich (Schelling und die heutige Wissenschaft gemessen am eigenen Standpunkt) treibt die bürgerliche Wissenschaft ihren Subjektivismus auf die Spitze: Das Interesse des Wissenschaftlers wird zum ausschließlichen Bezugspunkt, an dem sich alles zu relativieren hat. Mit dieser Leistung, die jedem Verfasser von Seminar- oder Abschlußarbeiten als das mehr oder weniger geschickte Einstreuen von Fußnoten des Typus „Vgl. hierzu ...“ bekannt ist, wodurch er seinen Standpunkt gekonnt untermauert, wird die gesamte existierende Wissenschaft samt ihren großen Geistern von früher zum Aufmarschgebiet von auf „Ansätze“ herabgebrachten Theorien, mit deren Ausschlachten man sich unverwechselbar als neuer Geist profilieren kann, wobei es parasitäre Geister bis zu Blüten folgender Art bringen:

Cassirer hat Humboldt mit den Augen eines durch Haman nicht abgestoßenen, sondern aufgeklärten Kant gelesen.“ (Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 8)

So erhält und propagiert die Wissenschaft durch die vergleichende Erniedrigung aller Erkenntnisse auf den eigenen – noch mit Stolz als subjektiven Ansatz vorgestellten – wissenschaftlichen Beitrag den Pluralismus. Die wechselseitige Relativierung an den eigenen Lösungsvorschlägen bedient sich gekonnt des inzwischen wohlbekannten Vergleichsverfahrens, wobei anderen Denkern nicht nur dieselbe Sorge, sondern die Sorge in derselben subjektiven Form („Fragestellung“) untergejubelt werden muß, um ihre Beiträge dann zu unvollständigen „Vorläufern begrenzten „Teillösungen“ oder nützlichen „Ergänzungen“ runtermachen zu können.

Die Vergleicherei ist damit jedoch noch nicht zu Ende, sie hat sich die Vernichtung jedes bestimmten Gedankens vorgenommen.

„Wer war Schelling? Kant war die Wahrheit; Fichte war die Unwahrheit, die als absolute Selbstsicherheit auftrat; Hegel suchte – in jeder Beziehung – zu retten, was zu retten war, und konnte doch jenen Teil von Marx, der nur Fichte wiederholte, nicht verhindern. Und Schelling? Was war der – nach Kant und Fichte, vor Hegel und neben Hegel und nach Hegel – in dieser Formation?
Schelling war die Unsicherheit. Gerade das macht ihn auf besondere Weise interessant, gerade das macht ihn aktuell: Unsicherheiten sind immer aktuell“ (Schelling ebd.)

Solche sehr sicher vorgetragenen Gedanken entspringen keineswegs unmäßigem Alkoholgenuß vor, neben und nach internationalen Philosophentreffen auf Mittelmeerinseln, sie sind eine durchaus ernstgemeinte Absage an jede Wissenschaft, die dafür munter mit dem falschen Vergleich zwischen vergewaltigten großen oder kleinen Geistern operiert. Was das Vergleichen soll, ist damit auf seinen Begriff gebracht – und existiert gerade wegen seiner allgemeinen Beliebtheit als methodische Vorschrift:

„Wer glaubt, gewisse Begriffe seien schlichtweg die richtigen, wer andere hätte, sähe eben etwas nicht ein, was wir einsehen, – der möge sich gewisse sehr allgemeine Naturtatsachen anders vorstellen, als wir sie gewohnt sind und (abrakadabra) andere Begriffsbildungen als die gewohnten werden Ihm verständlich werden.“ (L. Wittgenstein, Phil. Untersuchungen)

Wer Schwierigkeiten mit seiner Alten hat, weil er sich einen falschen Begriff von ihr gemacht hat (und nicht, weil sie nicht mehr das ist, was sie mal war), der erhält vom Philosophen den Rat, sie sich einmal anders vorzustellen. Diesen überaus einfachen Trick, der es erlaubt, mit der idealen Frau im Kopf und der Angetrauten neben sich durch die Welt zu laufen (was einen, nebenbei gesagt, zum psychotherapeutischen Fall macht), erhebt Wittgenstein zur Vorschrift für den wissenschaftlichen Verkehr, um sie mittels des Vergleichs für das Zurechtkommen mit ihrem Gegenstand – also das Gegenteil von Erklärung – zuzurichten.

Die Methodenwissenschaft ist das unverschämte schlechte Gewissen der falschen Wissenschaft – und Gewissen beruht schließlich auf einem sauberen, vorweg entschiedenen Vergleich zwischen dem, was man macht, und dem, was man machen soll, was nicht auf Wahrheit, sondern Vorschrift hinausläuft.


Verglichen wird – Vergleichen muß man können

Wo das Relativieren und Vergleichen für den Bürger sein Mittel ist, Gott und die Welt als Bedingungen für sich zu betrachten und sich praktisch in ihren Beschränkungen einzurichten, benützt es die Wissenschaft also, um sich aller Argumente und theoretischen Begründungen einer Sache zu entledigen. Wie der gesunde Menschenverstand unterstellt sie alles als gegeben und unabänderlich, übersetzt ihn nur in eine doktrinäre Sprache. Die gegen jeden Gedanken rücksichtslose Logik des Pseudovergleichs nimmt daher im logischen Inventar der Vulgärwissenschaft einen bevorzugten Platz ein, die sich ihrer bedient, um die Mühsal, die selbst falsche Gedanken bereiten, als unnütz abzutun und möglichst umstandslos an die Stelle interessierter Begründungen die jeder Erkenntnisverpflichtung enthobene Besprechung staatlicher Sorgen treten zu lassen und die Bürger auf diesen nützlichen reinen Staatsbürgerverstand festzulegen.

Wenn sich Schüler in Besinnungsaufsätzen mit Themen wie „Was braucht der Mensch nötiger: die Arbeit oder das Spiel?“ „Was erzieht den heranwachsenden Menschen mehr, Lob und Belohnung oder Tadel und Strafe“, herumschlagen, dann ist das die Sorte von Beitrag, den die Wissenschaft zum Fortschritt der Menschheit beizutragen hat: die Propaganda und die praktische Einübung des staatsbürgerlichen Vergleichens, mit dem man in dieser Gesellschaft über die Runden kommt oder auch nicht – je nachdem, welchen Platz man in ihr einnimmt. Vergleichen muß man können, wenn man auf den Ausbildungsstufen vorankommen will, was andererseits nicht heißt, daß es einer schafft, der sich diese Form falschen Denkens in seinen Kopf eingetrichtert hat, wird er doch selbst permanent einem praktischen Vergleich unterworfen (dessen Maßstab nicht er selbst ist) – ob in der Schule oder im späteren Leben.

Argumentieren ist also in der bürgerlichen Welt die überflüssigste Sache von der Welt, weil an der Staatsgewalt noch jedes Argument zuschanden wird, was am schlagendsten die Wissenschaft beweist, die ganz ohne Pluralismus und ganz ohne jedes Argument mit Vergleichen den größten Nutzen bringt, die Rechtswissenschaft, welche dazu da ist, die existierende Welt an den staatlichen Geboten zu messen, die er der Welt als ihre notwendige Existenz vorschreibt. Diese Wissenschaft fragt nicht nach Gründen, sondern mißt jede Handlung an den vom Staat festgelegten Grundsätzen, ein Vergleich, dem die Staatsgewalt auf dem Fuße folgt, weil die eine Seite und der Maßstab des Vergleichs die abstrakten Gebote sind, denen sich alle Bürger zu unterwerfen haben, weswegen ihre konkreten Handlungen auch nicht erklärt, sondern gewaltsam beurteilt werden. Wenn die Rechtssätze als dasselbe wie die Handlungen behauptet werden, dann liegt der Unterschied nämlich allein darin, daß die Handlungen sich ihnen nicht immer fügen, ein Unterschied, dem man abhelfen muß. Die verbreitete Logik des falschen Vergleichs ist also nichts Gemütliches, weder in der Wissenschaft noch im gesellschaftlichen Leben. So oder so läuft sie auf Gewalt gegen Erkenntnis und Interessen hinaus – und zwar immer auf dieselbe.

 

aus: MSZ 24 – Juli 1978

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