Lehrveranstaltungen für Anfangssemester:

Die gezielte Verblödung der geistigen Elite


Wer im vergangenen Semester durch die Räume der Alma mater lustwandelte, dem muß es aufgefallen sein: Das Schmusekissen, das mit dreistelliger Quadratmeterzahl aufwartende flauschige Symbol eines studentenfreundlichen Wissenschaftsfortschritts, ist der öden Leere des Foyers gewichen. Heißt das, daß der Student nicht mehr an die Staatsveranstaltung Universität herangehätschelt werden soll, so daß er jetzt – als Bremer Schlüsselkind – mit großen, traurigen Studentenaugen in den Kneipen herumlungern muß, während ihm die Mater alma die kalte Schulter zeigt? Sicher nicht. Gerade im „Jahr des Studenten“ ist der Universität eingefallen, daß diese Maßnahmen zur Bekämpfung einer studentenunfreundlichen Zivilisation inzwischen erstens ziemlich verschmuddelt und zweitens ziemlich überholt war. Erstens haben die Studenten nicht gleichfalls adrett symbolisch auf dieser Kommunikationsmatte kritisch-zwangslose Gruppenübungen veranstaltet, sondern sich bestenfalls draufrumgefläzt und den Frust kritisch-zwanghafter Gruppenübungen in ISES, IEL usw. verdaut, zweitens ist der Geist, der diese weiche kommunikative Grundlage unter bequeme Studentenärsche geschoben hat, längst in den Institutsräumen so etabliert, daß er gerade ungebrochen seine Wandlung zu einer normalen Leistungsuni vollführt. Und im selben Maße wie der Bremer Aufbruchsgeist den Studenten- und arbeiterfreundlichen Charakter seines Blödsinns um den andernorts üblichen Schein- und Prüfungsdruck ergänzt, im selben Maße haben die jedem Aufbruch abholden traditionsreicheren bürgerlichen Kaderschmieden ihre überkommenen Prüfungs- und Lehrstoffstrukturen um eine ordentliche kommunikative und anfängerfreundliche Note ergänzt: Der Zwang zur  „Kommunikation“, das „Problematisieren der Motivation“ und ähnliche Einübungen in eine kritikfeindliche dogmatische Wissenschaft überfallen in ganz Deutschland den Studienanfänger, und die Zahl der zu Einführungs- und Verdienstzwecken gedruckten Anfänger-Readers, Grundkurs-Versuchsmodelle, Einführungs-Konzeptionen wächst umgekehrt proportional zur Vielfalt, wie zur bloßen Anzahl der Argumente, die überhaupt noch vorgebracht werden –  von der „lebensnahen“, „praxisbezogenen“ Art, wie die Wissenschaft sich vorstellt, ganz zu schweigen.


Wissenschaftliche Begegnungen unbekannter Art

1. Ein Mann sitzt im Park auf einer Bank. Plötzlich wird er von zwei jugendlichen Menschen angesprochen und gebeten, ihnen ein Strichmännchen auf den mitgebrachten Block zu malen. Als der Mann ihnen den Vogel zeigt und ihnen zu verstehen gibt, sie sollten ihn in Ruhe lassen, setzen sich die beiden zu ihm und sagen, das mit dem Männchen sei doch keine Sache und sie würden ihm hinterher erklären, was es damit auf sich habe.

2. Eine Gruppe von Zwanzig- bis Fünfzigjährigen sitzt in einem Raum im Kreis um einen Schuh herum. Ein junger Mann sagt, an dem Schuh fiele ihm auf, daß er ganz schön unmodisch sei. Ein Mädchen entgegnet darauf, das stimme zwar, das sei ihr aber egal. Ihr persönlich sei der Absatz des Schuhs zu hoch ausgefallen. Außerdem würde sie gerne wissen, was wohl jetzt der mache, der ihn mal getragen habe. Überhaupt sei ihr gerade ganz warm ums Herz.

3. Ca. 15 Leute, dem Alter nach vielleicht Studenten, sitzen zusammen. Jeder hat Strickzeug dabei. Ein junger Mann beherrscht das Stricken nicht und wendet sich an ein Mädchen, sie möge ihm sagen, wie es ginge. Sie beschreibt ihm das Verfahren, zeigt ihm aber nicht, wie es geht. Als er Schwierigkeiten hat, ihre Erklärungen praktisch umzusetzen, verlangt er nach neuen Erklärungen und sie gibt ihm welche, verzichtet aber nach wie vor darauf, es ihm vorzumachen. Als der Bursche erneut nicht klarkommt, kichern beide und brechen den Versuch ab.

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Dreimal praktizierter Quatsch, aber nicht nur das. Die Szenen sind Bestandteil von wissenschaftlichen Einführungsseminaren. An ihnen fällt auf, daß ihnen nicht einmal mehr der Schein einer wissenschaftlichen Tätigkeit anhaftet: Es werden weder wissenschaftliche Resultate vorgetragen, noch wird argumentiert und diskutiert, noch werden Bücher gewälzt, noch Beobachtungen angestrebt als Voraussetzung erneuten Nachdenkens etc. Und wer jetzt einwendet, daß jede der Szenen zwar für sich genommen eine Albernheit sei, aber man könne doch nicht wissen, was wissenschaftlich dabei herauskäme, dem muß man allerdings den in anderem Zusammenhang oft gehörten Vorwurf der Wissenschaftsgläubigkeit machen, weil er nicht wahrhaben will, daß die Wissenschaft so blödsinnig ist wie die Mittel, derer sie sich bedient. Die Vorstellung, daß „Wissenschaft dahinter stecke“, ist allerdings die Voraussetzung dafür, daß man sich auf den oben geschilderten Quark einläßt. Wo aber Wissenschaft betrieben wird, da steckt sie nicht dahinter: sie wird gemacht. Umgekehrt: Wo den Studenten gesagt wird, das, was ihnen abverlangt werde, sei zwar noch nicht Wissenschaft, führe aber zu einer wissenschaftlichen Einsicht, da geht es offenbar nicht um Erkenntnis, sondern um eine Einstellung zu den befaßten Gegenständen.

Um das Eintrichtern von Vorschriften, wie man sich zur Wissenschaft zu stellen und wie man mit ihr umzugehen hat, geht es. Die dramatis personae sind Studenten und werden von der Wissenschaft zu einer spielerischen Handlung angestiftet, die als Beweis für wissenschaftliche Aussagen dienen soll, und, wie man sieht, sie lassen es sich gefallen. Wenn aber die Wissenschaft den Studenten zur Einführung in sie pädagogische Kindergartenspielchen abverlangt, die statt der üblichen Lebensmoral Wissenschaft üben sollen, dann offenbar deshalb, damit sie ihnen in Fleisch und Blut übergeht, bevor und statt daß sie sich irgendeinen wissenschaftlichen Gedanken über die Welt machen: Wissenschaft machen, wobei einem das Denken erspart bleibt. Womit auch klar ist, daß Leute, die sich diesem Zirkus nicht bereitwillig anschließen und womöglich ihrer Uneinsichtigkeit in Sachen moderne Gepflogenheiten argumentativen Ausdruck verleihen (z.B. mit der Behauptung, daß dieser Umgang mit den Studenten sie wie Idioten behandelt, für die jedes Argument eine Zumutung ist, nicht aber die Anforderung, diese Wissenschaft zu fressen), sehr unangenehm als Spielverderber auffallen – und solche behandelt man bekanntlich nicht argumentativ, sondern aggressiv.

Denjenigen aber, die mitmachen wollen, läßt die Wissenschaft größte positive Aufmerksamkeit zuteil werden, und zwar zunächst, indem sie sich den anerkannten studentischen Wünschen und Interessen bezüglich der Wissenschaft als angeblichem Inhalt des Seminars zuwendet, mit munteren Appellen an den schulisch vorverbildeten Verstand die Auffassung bekräftigt, daß unbefangenes Denken eine Sünde wider den Geist ist, und dabei zugleich die praktischen Erwartungen zurechtrückt.

Dazu eignen sich z.B. bestens demokratiebegeisterte kritische Einwände gegen den Unibetrieb. An den Universitäten sind manche Studenten bekanntlich für mehr Mitbestimmung, und zwar, wie es sich für eine zivilisierte Studentengeneration gehört, ohne von diesen Wünschen nach konstruktiver Beteiligung an der Ausgestaltung und Durchsetzung der ungeliebten Hochschulreform groß Aufhebens zu machen. Allerdings einen „Erfolg“ können die Parolen nach mehr „studentischer Mitbestimmung“ verzeichnen:. Sie rufen den Politologen auf den Plan, der ihren „Kampf“ gegen die Uni zum Bestandteil seines Einführungsseminars macht. So beginnt


Ein lebensnaher Unterricht

Denn für die studentischen Forderungen hat der Univertreter zwar nichts übrig und denkt auch nicht daran, seine Dienste an der Institution in Frage zu stellen, die mit ihren Maßnahmen den Grund des studentischen Unmuts abgibt. Aber für Partizipation – für das politologische Ideal demokratischer Formen der Unterwerfung unter den Staat – hat er eine Menge übrig und ist deshalb auf den Dreh gekommen, in seinem Seminar das studentische Interesse zu verwandeln in die politologische Abstraktion, wie man demokratisch seine Interessen aufzugeben und in der Durchsetzung des Staatsinteresses aufgehen zu lassen hat.

Jeder kennt diese Sorte lebensnaher Unterrichtung aus der Schule, wo Besinnungsaufsätze über die praktischen Probleme der Erziehung, über Strafe als Erziehungsmittel, über das Verhältnis zu Eltern, Lehrer usw. zum beliebten Instrumentarium der Produktion mündiger Staatsbürger gehören, weil sich mit vernünftigen Gedanken bezüglich der Zwänge, die einen gerade drücken, demonstrieren läßt, wie sehr man die staatsbürgerliche Gedankentechnik des wohlproportionierten Abwägens im Sinne höherer Werte und des Ganzen beherrscht. Warum diesen Trick zur Verlebendigung des Unterrichts nicht auch in der Uni anwenden!

Dabei braucht der Politologe über seine falsche Abstraktion – Partizipation soll der Witz am Verhältnis Staat-Bürger in der Demokratie sein – kein erklärendes Wort zu verlieren, die Mitbestimmungswünsche von Studenten sind seine Wissenschaft, wenn er sie nur unter der Hand von ihrem Inhalt trennt. Wie selbstverständlich schleifen sich dabei ihre Illusionen ab und verwandeln sich in das abgeklärte politologische Ideal der aktiven Anteilnahme eines jeden am Staatsgeschehen, also in die Beurteilung der Partizipation als einer Selbstverpflichtung auf dieses Geschehen. Wenn man statt über die Gründe dieser Wünsche über „Möglichkeiten, Grenzen, schon verwirklichte, noch zu verbessernde ...“ spricht, dann bleibt unterm Strich die saubere politologische Summe übrig, daß es im Grunde überall Partizipation gibt, auf die man sich als mündiger Bürger freudig beschränken und für die man als Politologe Propaganda machen müsse. Das Interesse, das sich hier als Mitsprache geltend macht, ist dabei von Anfang an auf der Strecke geblieben. Der Seminarleiter beschränkt sich darauf, seinen Hörern neben dem Lob auch den Tadel über die inkonsequenten Mittel hinzureiben, also ihnen ihre Unzufriedenheit über die Uni als Verstoß gegen die Politologie unter die Nase zu reiben: Wer partizipieren will, der soll sich staatsbürgerlich läutern und das Loblied der bestehenden Partizipationsmöglichkeiten anstimmen, dann ist er ein brauchbarer Politologe.

Gerade für einen Politologen ist also das „Leben der beste Lehrmeister“ und das Schöne an diesem theoriefeindlichen faschistischen Spruch ist, daß man sich das Denken ersparen kann, wenn man bereit ist, sich die Notwendigkeit der Realität umstandslos anhand seines praktischen Zurechtfindens in ihr einbleuen zu lassen.

Eine andere Weise, den Lehrmeister Leben für die Sache der Wissenschaft arbeiten zu lassen, besteht darin, daß der Grundkursleiter an den Berufssorgen seiner zukünftigen Kollegen anknüpft. Ihre Sorge um ihren künftigen „sozialen Status“ ist ihm Anlaß, um das völlig untheoretische Interesse an ihren Gründen für die Einführung in soziologisches Denken fruchtbar zu machen. Hier die Reihenfolge der Ohrfeigen, mit der das geht: Zunächst wird das studentische Gejammer über sinkende Chancen verwandelt in die – statistisch aufbereitete – Umschau in der Arbeitslosigkeit hierzulande überhaupt, wobei das Abklappern der verschiedenen Branchen und ihrer jeweiligen verschiedenen Kriterien bei der Durchsetzung eines ganz eindeutigen Kosten-Nutzen-Kalküls die Studenten zu dem blödsinnigen Schluß animiert, daß es sowas wie „die Arbeitslosigkeit“ eigentlich gar nicht gibt, daß also ein so zusammengesetzter Sachverhalt wie sie unmöglich eine einfache Ursache haben könne, daß es vielmehr an allen möglichen umlaufenden soziologischen Erklärungen der Arbeitslosigkeit ihren gemeinsamen Fehler hochzuhalten gelte: Die Behandlung der branchenspezifischen Kriterien unter Abstraktion vom Kosten-Nutzen-Kalkül als Teilursachen der AL.

Das gewünschte und erreichte – Ergebnis dieser beiden Gedankenschritte ist die schöne Schlußfolgerung, bei der Arbeitslosigkeit in ihrer Vielfalt und ihrem Reichtum an Bedingungsfaktoren handle es sich um ein Interpretationsproblem: um einen Haufen von in sich unbegreiflichen Fakten, denen einzig und allein durch eine gescheit ausgedachte Betrachtungsweise einige Ordnung und ein bißchen übersichtlicher Zusammenhang beizubiegen sei. (Der Grundkursleiter: „Ich halte es für ein wichtiges Erkenntnisziel, daß alles komplex ist.“)


Wissenschaftliche Einsichten grundsätzlicher Art ...

Damit ist man ohne viel erkenntnistheoretisches Vorgelaber beim Ziel der ganzen Veranstaltung angelangt: Soziologie hat man wie alle Wissenschaft als eine sich den verschiedensten bzw. einem Interesse am Gegenstand verschreibende Betrachtungsweise zu betreiben; Wissenschaft ist ein einziges Interpretationsproblem, weswegen die moralische Beurteilung des Interesses die Spitze der Erkenntnisleistung ist, zu der es ein moderner gebildeter Mensch bringen kann, oder – noch gekonnter – die moralische Verpflichtung auf ein Bekenntnis zur voreingenommenen Wissenschaft als wissenschaftliches Urteil über wissenschaftliche Bemühungen.

Die Studenten dürfen sich insofern daran erinnern, daß das Ganze von ihrem Anliegen seinen Ausgangspunkt genommen hat, als sie dabei als Mensch gefordert sind, der engagiert diese stetige Unmöglichkeit von Erkenntnis zu praktizieren und sich an den Gestus der Bescheidenheit mit der Wissenschaft, die ihr zur Schau gestelltes ständiges „Scheitern“ der unvollkommenen Menschennatur überantwortet, ebenso zu gewöhnen hat wie an die dazugehörige Rücksichtslosigkeit gegen dogmatische Vollkommenheitsfanatiker.


... und wie die Studenten sie an sich durchsetzen

Daß dabei studentische Interessen nicht vergewaltigt werden, zeigt nicht nur die Sicherheit, mit der die Uni auf die Vorurteile der Studenten bezüglich Wissenschaft und Leben spekuliert, sondern auch die konstruktive Kritik, die von Studentenseite geübt wird. Solange das Einführungsgeplänkel als leichter Einstieg ins Reich der prüfungsorientierten Wissenschaft offiziell passiert, bemäkeln sie sogar nicht selten, daß es noch zu theoretisch zugeht. Die einen meinen, zuviel „Kopfarbeit“ schade ihrem seelischen Teint und entfremde sie ihrer Individualität. Die Anfängerbedürfnisse müßten mehr im Vordergrund stehen. Die Intimitäten der eigenen Individualität als Ausgangspunkt, ersten Gegenstand und bevorzugtes Beispiel der Problematisierung feilhalten – was gibt es Schöneres für einen Anfänger?

Die studentische Aufforderung, die Wissenschaft zu einem Forum ihrer Neigungen zu machen, heißt beileibe nicht, daß sie den GK-Leiter nach Hause schicken und Fußball spielen gehen wollen. Sie verlangen von der Wissenschaft, daß sie ihre Individualität in die Mangel nimmt, sie als Mensch so formt, daß sie ohne theoretische Überforderung mit den Zwecken der Wissenschaft praxisrelevant ausgestattet sind. Kurz: Komm uns nicht mit Theorie, sondern sag uns, wie wir mit ihr umgehen sollen, damit wir so werden, wie wir gebraucht werden. Solche Studenten laufen vor jedem Semester in der Uni wie aufgescheuchte Hühner herum und fragen jeden, was sie denn nun machen sollen, haben also mit Erkenntnis nichts im Sinn, suchen aber überall nach Vorschriften und geben in ihrem Gejammere über ihre mangelhafte Individualität zu erkennen, daß sie nur ein einziges Hindernis für ihr Fortkommen kennen: Ihren Intellekt.

Andererseits kalkulieren sie vorsichtig, ob sie nicht ins Hintertreffen bezüglich prüfungsrelevanten Wissens geraten. Deswegen geht auch bald das Gemaule los, man lerne zu wenig, jetzt müsse endlich mal mit dem Stoff begonnen werden. Auch diese lebenserfahrenen Jungbürger, die wissen, daß vor jeden Preis noch irgendein Schweiß gesetzt ist, kritisieren also alles andere als das, was sie da so leichter Hand lernen.


„Kopfterror“ ohne Denken

Wie das anfängliche“ Stimmungsbild schon andeutete, wird beiden Genüge getan – schön der Reihe nach und mit gebührender Betonung auf der »Einführung« in die Wissenschaft, weil sie schließlich mit einer ordentlichen Einstellung den Stoff später selbst büffeln, wenn's auf die Prüfung zugeht.

Die Ärmel hochgekrempelt, sagt der Seminarleiter, schmeißen wir die Wissenschaft erst einmal ganz hinaus, und zwar indem wir sie pur praktizieren. Wenn die Studenten also meinen, sie würden von der Wissenschaft zunächst verschont, so täuschen sie sich. Sie lernen's in der Roßkur.

In einem Grundkurs Politologie werden sie eingangs dazu aufgefordert, auf einer Wandzeitung (!) jeder für sich seine Motivation für das Politologiestudium den Grundkursteilnehmern und ihrem Leiter zu veröffentlichen. Wer allerdings dabei seinem Grundkursleiter entgegenhält, er solle seine Nase nicht in Dinge stecken, die ihn nichts angingen, der verharmlost sein Anliegen. Es ist ja gar nicht dessen als geheucheltes Interesse an den Studenten vorgetragene unverschämte Neugierde, sondern die Wissenschaft trägt sich hier mit der Institution Universität im Rücken als Gesinnungsschnüffelei vor mit dem Ziel, die Einstellung der Studenten zu diskutieren, und das heißt Austreiben der nicht-Politologie-konformen Motive. Die Universität als moralische Anstalt hat sich ihrem Begriff gemäß so weit von jedem theoretischen Anstrich emanzipiert, daß sie einverständnisheischend und -erzwingend den pluralistischen Streit um Standpunkte durch die Debatte über die richtigen Bekenntnisse zu ihm vorbereitet.

Klar ist also eins. Die Motive Geld, Karriere oder schlicht Erkenntnis über den Staat zählen nicht, weil sie mit ihrem Mangel an Moral (egoistisch bzw. anmaßend) völlig unpolitologisch sind, und wer sie vorbringt, darf sich sicher sein, daß die Kursteilnehmer, die begriffen haben und billigen, was von ihnen da verlangt wird, über ihn herfallen und die Gunst der Stunde nutzen, um mit dem Verdikt, das sie über diesen Studenten fällen, ein paar Bekenntnisse in Sachen Lob des Staates loszuwerden und damit erste Punkte zu sammeln, wobei sie ausnahmsweise mal ganz ehrlich entrüstet sind. Denn zur Selbstverständlichkeit, mit der sie – distanziert und mit dem persönlichen Vorbehalt, den Zirkus zu durchschauen – ihre Motive aufs Tapet bringen, gehört das prinzipielle Einverständnis, daß das Nicht-Mitmachen oder gar Miesmachen einen studentenfeindlichen Ungeist verrät – was ja zumindest halb stimmt! Keine Angst also braucht der zu haben, bei dem der Wille, die geforderte Heuchelei zu bringen, wohl da ist, dem aber die politologischen Kalauer der Schulzeit entfallen sind. Denn wenn er sonst nie stimmt, hier gilt der Satz: Wo ein Wille ist, da ist ein Weg in die Politologie, d.h. er darf sich der schulterklopfenden politologischen Interpretation seines Gestammels durch den Grundkursleiter sicher sein.

Das Abfragen der Jungwissenschaftler, ob sie denn auch eine moralisch einwandfreie Einstellung zu ihrer künftigen Tätigkeit zumindest als zweiten Charakter sich zugelegt haben, ist zugleich der Übergang zur praktischen Demonstration und Einübung der Tatsache, daß man mit Wissenschaft nichts rauskriegen kann, daß es darum aber umso mehr darauf ankommt, sich engagiert hinter eben diese Wissenschaft zu stellen, mit allen Fasern seines Herzens Wissenschaftler zu sein – wenn man sie schon nicht machen kann. Damit löst sich endgültig das Geheimnis der anfänglich aufgeführten Studienszenen.


Wissenschaft mal anders – aber schlagend

Die Vorschrift, die zur oben geschilderten Szene 1 anstiftet, lautet folgendermaßen:

„Sprechen als handeln, sprache als werkzeugkasten: das hoffe ich Ihnen am beispiel des aufforderns deutlich machen zu können. Dazu werden wir das ganze Semester an diesem beispiel beobachten und analysieren und uns über zusammenhänge klarzuwerden versuchen.
Damit eine gemeinsame ausgangsbasis an bewußter erfahrung da ist, ist voraussetzung für die teilnahme am seminar, daß Sie spätestens zu beginn der 1. sitzung (am 2.5.) Ihre bearbeitung der folgenden aufgabe abgeben: Rüsten Sie sich mit einem block aus und bringen Sie (Ihnen fremde) leute dazu, daß die Ihnen 1 männchen auf den block zeichnen. Es ist Ihnen überlassen, wo Sie auf die Jagd gehen, wie Sie Ihre opfer anreden, usw. Den meisten von Ihnen wird es leichter fallen, wenn sie sich nicht einzeln, sondern zu zweit (mehr ist ungünstig) ans männchensammeln machen. Abzugeben ist von Jedem teilnehmer: 25 erbeutete männchen und eine sammlung von ratschlägen für künftige männchen-sammler (auf was sollte man achten?, welches vorgehen hat sich bewährt?, nicht bewährt?; tricks?; usw.). Während des ganzen semesters wird weniger arbeit anfallen, da wird es vor allem um mit- und weiterdenken gehen.“


Erjagt

Das ist keine Zauberei; der Mann spricht keine Formel, sondern die Vorschrift aus: Hole mir 25 Strichmännchen und du bist anschließend – ohne viel Arbeit – ein Linguist. Verblüffend einfach, und der Mann gaukelt einem nichts vor, er hat recht. Und wie! Nur verschweigt er, daß man vorher schon den ,,Verstehst mich! Versteh nix! Alles nur ein Mißverständnis, Hauptsache wir verstehen uns“-Mist auf dem Kasten haben muß, der ja alles andere als eine linguistische Exklusiverfindung ist. Deswegen geht es auch dann, wenn man – heimlich – die Männchen, 25-fach variiert, selber malt und sich – heimlich – die „Sammlung von ratschlägen“ gemäß den Angaben zu Papier lügt! Allerdings, heimlich muß es sein, sonst haut Teil 2, da, wo „weniger arbeit anfällt“ nicht hin und dann Scheinchen ade.

Warum ist dieser Hokuspokus eine großartige Einführung in die Linguistik? Weil die Quintessenz der Linguistik, die Betrachtung der Sprache als Kommunikation, schlicht als Handlungsanweisung existiert. Als Bedingung zur Teilnahme am Seminar muß man diese Tautologie praktiziert haben, sich den Zynismus geleistet haben, jemand dazu zu bringen, Blödsinn zu machen, indem man ihn mit blöden Gründen beschwatzt, und dabei so zu tun, als handle es sich um nichts anderes als um ein Problem der Sprache. Von wegen also „gemeinsame ausgangsbasis an bewußter (!) erfahrung“. Als ob irgendjemand von den Seminarteilnehmern noch nie irgendjemanden zu irgendetwas aufgefordert hätte. Der Leiter lügt den Seminarteilnehmern scheinheilig vor, es ginge ihm um die Erweiterung ihres Erfahrungshorizonts (er kann offenbar Studenten unterstellen, für die „erfahrungen machen“ immer und überall eine feine Sache ist, wenn die Wissenschaft ihr Placet dazu erteilt), um ihnen das Bewußtsein eines Linguisten zu verordnen, denn das ist erfordert, um den Schwachsinn zu bringen, das Herbeischaffen von Strichmännchen sei die Erlernung dessen, was es mit dem Auffordern auf sich habe. Kein Wunder also, daß im eigentlichen Seminar während des Semesters „weniger arbeit anfällt“.

Denn wer sich daranmacht, Sprache als „Werkzeugkasten“ zu praktizieren oder seine Hörer originell dazu auffordert, doch das nächste Mal „ein Fläschchen Linguistik“ mitzubringen, dem ist kein Problem mehr, daß der Einsatz der Sprache von ihrem Inhalt getrennt wird und mit der Gleichsetzung von Sprache und Interesse die „Interessenartikulation“ selbst zur Raison gerufen werden soll. Er hat das zentrale Dogma geschluckt, indem er ganz praktisch den Angriff der Linguistik gegen das Denken gegen sich und andere durchgeführt hat, und die Vertiefung dieser Einstellung – das „mit- und weiterdenken“ im Seminar – kann daher in zwanglos-lockerer Form vor sich gehen. Z.B. in Form des neckischen Spielchens (das natürlich kein Spiel, sondern eine Übung ist), mit Bonbons bewaffnet miteinander zu diskutieren – „Thema gleichgültig“ – und bei Benutzung so abscheulicher Sprachzwänge wie „Ich bin überzeugt, daß ...“ „es ist doch so, daß ...“jeweils ein Bonbon abzugeben, bis man als Zwangscharakter ausgeschieden ist, wenn man alle Bonbons verplaudert hat: Manipuliere nicht mit Sprache – meine nicht, du hättest anderen etwas mitzuteilen außer auf Basis des freundlichen gegenseitigen Einverständnisses, mit ihm im Grunde einer Meinung zu sein, daß man sich und andere immer beobachten müsse, ob man nicht mit bösen Worten Besitz von jemandes Denken ergreifen und ihn heimtückisch beherrschen wolle, indem man mit ihm diskutiert.


Gestrickt

Damit ist der Zusammenhang zu Szene 3 gegeben, die ebenfalls aus einem linguistischen Grundkurs stammt. Wer Sprache als Kommunikationsinstrument behandelt, sie zirkulär mit ihrer Funktion identifiziert und die daraus folgende Moral praktisch demonstrieren läßt, der kommt gerade aufgrund seiner Abstraktion darauf, daß sie ein untaugliches Instrument ist, und damit fehlt nur noch ein Schuß Einfühlungsvermögen, um die Studenten in ein Seminar Strickzeug mitbringen zu lassen mit der Vorschrift, sich gegenseitig das Stricken beizubiegen, ohne es sich zu zeigen. Die Banalität, daß es schwierig und umständlich ist, die bloße Beschreibung des Strickens in ein halbwegs brauchbares praktisches Resultat umzusetzen, lernen sie allerdings nicht dabei, denn darauf zu kommen, gehört nicht viel Phantasie. Ebensowenig lernen sie dabei, daß Sprache ein „untaugliches Mittel“ ist, auch wenn es nur die beschränkte Phantasie eines Linguisten ist, die dieses dämliche „Beweismittel“ ausbrüten konnte. Niemand kommt auf die Idee, einen Hammer als „untaugliches Mittel“ zu bezeichnen, weil man mit ihm nicht Kuchen backen kann.

Genausogut läßt sich die Tauglichkeit der Sprache zur „Verständigung“ spielend lernen, indem sich Studenten in Gruppen zusammensetzen, wortlos aus Briefumschlägen Puzzle-Teile eines Buchstabens auspacken, ihn stumm zusammensetzen und sich immer noch ohne ein Wort fehlende Stücke bei Nachbargruppen besorgen müssen. Da verschlägt's keinem Studenten die Sprache ob der Kindergartentricks in Sachen Wissenschaft (dann würde ihm auch die moralische Qualität solcher Beschäftigung aufgehen!), sondern der Zirkus versetzt ihn in das rechte falsche Einverständnis mit der Wissenschaft vom anständigen Sprechen.

Es gehört ein handfestes erkenntnistheoretisches Interesse dazu, das notwendige Scheitern jeglicher Erkenntnisbemühung anhand des erfundenen mangelhaften und unverzichtbaren Kommunikationsinstruments Sprache herzuleiern, um in dem Handarbeitskram oder dem Puzzle einen Beweis dafür zu sehen. Und mit diesem Unsinn hat sich die Linguistik am Anfänger als der erkenntnistheoretische Schlager par excellence bewährt, der sie in einer Wissenschaft ist, die in nahezu keinem Vorwort zu einem Schmöker bürgerlicher Wissenschaft mehr die „Problematisierung“ des verwandten „Sprachrahmens“ und des „begrifflichen Instrumentariums“ ausläßt.

Die Studenten, obwohl sie nichts Neues dabei gelernt haben – nicht einmal das Stricken –, haben, indem sie sich auf den Humbug eingelassen haben, immerhin dies geleistet: sie haben den Standpunkt der Linguistik genossen. Nicht einmal stricken zu wollen, wenn man mit Strickzeug herumläuft, ist ein taugliches Mittel, in die bürgerliche Wissenschaft eingeführt zu werden! Und die Auffassung, die Blödsinnigkeit dieser Spielchen sei das didaktisch begründete, extra simple Pendant der höheren und schwierigeren wissenschaftlichen Argumente späterer Semester und damit nicht der zur Anschauung gebrachte Begriff der simplen Lehre, die als Wissenschaft vorgebracht wird, läßt die Studenten munter mitmachen.

Den Willen zum Mitmachen müssen die Studenten allerdings mitbringen, um den Zweifel als wissenschaftliches Credo ganz praktisch in sich einpflanzen zu lassen. Wenn in der Vorschrift zum studentischen Männchenmachen den Studenten empfohlen ist, doch zu zweit ans Männchensammeln zu gehen, dann deshalb, weil damit zu rechnen ist, daß die Studenten vor dieser Mischung aus Blödsinn und Zynismus allenfalls als einer Peinlichkeit zurückschrecken, die ihnen die Sprache, die sie doch gerade einsetzen sollen, verschlagen könnte. Es gibt also den sicher gut gemeinten Rat, an ihrem psychologischen Gewissen – ich halt das zwar für blöd, aber will mich nicht blamieren –, das man braucht, um diesen Käse mitzumachen, doch das ganze Unternehmen nicht scheitern zu lassen, eine rote Birne zu bekommen und zu stottern, sondern sich zu überwinden bzw. sich zu zweit gegenseitig Mut zu machen (mehr als zwei sind schlecht, sie neigen zur Veralberung des Ganzen und verschrecken das ,,opfer“).

Die also erforderliche psychologische Stellung zu sich selbst führt exemplarisch – wie könnte es anders sein – ein psychologisches Einführungsseminar vor, nämlich die anfangs beschriebene Szene 2.


Erfühlt

Die ihr zugrundeliegende Vorschrift lautet so: Die Seminarteilnehmer setzen sich im Kreis um einen Schuh herum. Jeder berichte, was speziell ihm zu dem Schuh einfällt, keiner braucht Angst zu haben, nichts ist zu abwegig, bla, bla, bla. Gleich das Ergebnis: Natürlich geht es hierbei um den Schuh genausowenig wie in den vorhergehenden Beispielen ums Männchenmalen oder Stricken. Es geht darum, was jeder mit ihm aus seiner Individualität macht, also die psychologische Gemeinheit: Es ist kein Schuh zu gering, als daß nicht ein jeglicher mit seinen seelischen Fähigkeiten ein Himmelreich aus ihm machen können müßte, eine Verwandlung, die der Psychoausbilder noch jenseits aller psychologischen Theorien, deren Quintessenz sie darstellt, den zarten Anfängerpflänzchen als selbstgeschaffene „lebendige“ Erfahrungstatsache verordnet: Wer seine „Individualität“ dergestalt in den kalten Wissenschaftsbetrieb „einbringt“, daß er mit seinen höchstpersönlichen, ungemein wertvollen „Beobachtungen“ an dem blöden Schuh bereitwillig dem Zurechtbiegen jeglicher Erfahrung zur Selbsterfahrung das Beweismittel liefert, der kann sich jedenfalls über „nackte Kausalwüste“ sprich „theoretische Überforderung“ nicht mehr beklagen. Im Mitmachen ohne Wenn und Aber, demgegenüber die Frage nach richtig oder falsch als exotisch erscheint, bekennt er sich praktisch zur Selbstverständlichkeit des psychologischen Standpunkts. Und ein moderner Student, den der besagte Psycho-Schuh „fast andächtig“ stimmt, nimmt dies freudig oder auch mulmig als Gelegenheit, „auch einmal zu sich selbst vorzustoßen“ und „sich äußern“ zu können. Schließlich gehört zum guten Psychologen die an sich selbst demonstrierte Bereitschaft, die Leistung zu vollbringen, die er später seinen Klienten angedeihen läßt. Aufgeschlossen, mitteilsam, einfühlsam sein, das garantiert die entsprechende Fühllosigkeit beim Malträtieren seiner Opfer. In anderen Seminaren nimmt das dann auch schon mal die verrückte Form an, daß Sozialpädagogen zwecks Einübung von Verständnis für ihre schwererziehbaren Opfer sich in die angeblich infantile Welt infantil hineinversetzen müssen und „Tufftuff-Eisenbahn; ich bin der Bahnhof“ spielen dürfen.


Spielend lernen

Der immense Fortschritt in Sachen Studentenfreundlichkeit der umstandslos qua blödsinniger Handlungsanweisungen verordneten Einstellung gegenüber den „Motivationsphasen“ vom Typ des geschilderten Soziologenseminars besteht darin, sich den ganzen theoretischen Zirkus der Wissenschaftstheorie, der ansonsten die Einführungsphase beherrscht, ersparen zu können, weil die Studenten aus den ihnen verordneten „Erfahrungstatsachen“ ohne viel Anleitung die gewünschten Schlüsse ziehen, also aus dem mit ihnen konstruierten Spektakel die Intention bereitwillig aufgreifen, daß ihr Alltagsverstand mit seiner Moral als wissenschaftliche Einstellung von ihnen gefordert ist. Diese Gemeinheit läßt bei ihnen nur die Erleichterung aufkommen, daß es der Wissenschaft offenbar mit ihnen zunächst um nicht mehr geht, als daß sie den reifen Menschen herauskehren, und das bringen sie längst. In dem als wissenschaftliche Einführungsveranstaltung durchgeführten Spielchen demonstrieren, daß man die für die bürgerliche Wissenschaft verbindliche „Spielregel“ wechselseitiger Relativiererei intus hat – nichts leichter als das.

In einem „Weltraumspiel“ sich anhand einer vorgestellten Bruchlandung zeigen lassen, daß die Gruppe viel näher an die zu ergreifenden notwendigen Überlebensschritte, wie sie die NASA (!) – die oberste Weltwissenschaftsbehörde – ausgetüftelt hat, qua Diskussion und demokratischen Konsens herankommt, also das faschistische Ideologem der Soziologie, daß der einzelne nur in der Unterordnung unter die Gruppe überleben kann, heraushängen zu lassen – was ist einfacher?

Und sich in einem psychologischen Einführungskurs in die seelische Verfassung eines sozial Gescheiterten hineinzuversetzen, wie er am Bahnhof steht, um den nächsten Versuch anzutreten, einen Job zu bekommen, wie der Zug kommt, die Umwelt ihm arg zusetzt, so daß er seelisch und sonst gar nicht in die Misere getrieben wird – und das Ganze am besten als Rollenspiel, bei dem man sich eine Schaffnermütze aufsetzt, in die Trillerpfeife bläst und eine Spielzeugeisenbahn am. Bänzel hinter sich herzieht: wenn es weiter nichts ist!

Und schließlich erfährt man, daß man eigentlich schon als Kind Wissenschaftler war, wenn nämlich die Vorlesung darin besteht, lauthals „Schiffchen-Versenken“ zu spielen, und der Professor mit „Richtig- ... Falsch-“ Rufen der beflissenen Tippgemeinschaft Bescheid erteilt, daß man nichts anderes gemacht hätte als die „Simulation eines Forschungsprozesses“, man sich so verhalten habe, „wie der Forscher sich gegenüber seinem Gegenstand verhält“, nämlich 1. „spekulativ und hypothetisch“, 2. „falsifizierend und verifizierend“, 3. „Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftige Ereignisse bildend“.


(Un)Gemütlichkeit gereifter Menschen

Daß die Bemühungen eines Uni-Professors, der jungen Studentengeneration jegliches intellektuelles Selbstbewußtsein abzugewöhnen und ihnen spielerisch die eigene Verdummung abzuverlangen, bei denen, die die entsprechenden Ideologien von wegen Komplexität und Relativität schon von der Kollegstufe her auf dem Kasten haben und für ihr Fortkommen einsetzen, keinen Streit provozieren, sondern die Anerkennung, daß motivierend auf sie zugegangen wird, kann also nicht der Grund dafür sein, daß Wissenschaftler über „Anpassung und Autoritätsgläubigkeit“ ihrer Schützlinge jammern.

Im Gegenteil: Wenn heute ein Uniinstitut eine 27-seitige Literaturliste „zur Orientierung für Studierende des 1. Abschnitts“ veröffentlicht, dann deshalb, um die Studenten vor ihrer Anpassungsgeilheit insofern zu warnen, daß sie sich nicht einbilden sollen, sie könnten auf die Durchblickertour – wissen, wie der Hase läuft – das Studium durchziehen: die 27 Seiten sind ein sanfter Hinweis, daß den Standpunkt der Wissenschaft teilen nicht heißen darf, man könne sich jetzt zynisch-pragmatisch über sie erhaben dünken. Zur wissenschaftlich praktizierten Moral des Alltagsverstandes gehört die Hochachtung vor dem himmelhohen Niveau der Wissenschaft, zu der man in ihrer Vielfalt als für den einzelnen unerreichbares Anliegen emporzublicken hat, um sich ihm als Mensch einzugliedern. Der Studienanfänger wird im Vorwort der Literaturliste beschworen, sie bloß nicht „im Hinblick auf irgendeine Prüfung brav durchzuackern...“. Vielmehr soll er sich dazu noch zu Gemüte führen, daß

„pure Kenntnisse ... keine besondere Achtung verdienen, weil sie weder vor Dummheit noch vor Charakterschwäche bewahren. ... Das Wesentlichste überhaupt, worauf es ankommt, ist eine elementare Beunruhigung, eine plötzliche und nachhaltige, aber durch keinerlei Literaturdirektiven herbeizuführende geistige Erschütterung, die mit der Erkenntnis eines wirklichen Problems – eines Rätsels, eines Abgrundes! – verbunden ist ... Lesen, reisen und Lieben erscheinen mir als durchaus verwandte Aktivitäten.“

Auf so einen Schmarrn fallen diejenigen, die sich zur radikalen uni-konformen Zurichtung ihres Verstandes entschlossen haben, natürlich nicht rein. Sie kennen durchaus die kleinen Unterschiede zwischen Lesen, Reisen und Lieben, wissen aber auch solche erschütternden geistigen Ergüsse zu schätzen als notwendiges Zubehör einer geistigen Autorität, von der sie sich soweit etwas sagen lassen, wie es fürs Durchkommen erforderlich ist. Deswegen führen sie sich bewußt als Anfänger auf, organisieren sich auch als solche und versichern sich wechselseitig, daß sie welche sind, deswegen besondere Probleme haben. Außerdem demonstrieren sie an Kommilitonen, die sich nicht als Anfänger organisieren, die eine furchtbare Sprache sprechen, auf die Psyche keine Rücksicht nehmen, mit dem Anspruch absoluter Wahrheit daherkommen – kurz, die ihr Mißfallen gegenüber der Wissenschaft samt ihren fertigen und halbfertigen Verfechtern ab und zu ziemlich lautstark äußern –, was sie schon alles gelernt haben: Von solchen Menschen braucht man sich gar nichts sagen zu lassen, weil die höhere Semester sind bzw. sich so aufführen, und solche Bevormundung läßt sich ein Erstsemester nicht gefallen. Als Unbefugter so zu tun, als hätte man etwas zu vermelden, erfüllt also an den Stätten der geistigen Elite schon den Tatbestand der Störung, noch jenseits dessen, was man zu vermelden hat, und führt zu Unmutsäußerungen der versammelten mündigen Studenten und zu verwandten Aktivitäten. Hier beweisen die Anfänger im Verein mit den verständnisvollen Lehrern, daß sie mit Überzeugung studieren. Also wird es auch in Zukunft an Deutschlands Universitäten nicht ohne das unbedingte Mitmachen – und nicht ohne einige Störungen abgehen!

 

aus: MSZ 28 – April 1979

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