Fußballweltmeisterschaft 1974 in der BRD: Größerer Versuch über das Balltreten

Abseits & Andererseits


Der Gegenstand, über den im Folgenden gehandelt wird, ist der Fußball. Die bekannteste Begriffsbestimmung stammt aus dem Repertoire deutscher Sportreporter und heißt: Der Ball ist rund. Daß dieser Umstand Faszination bewirkt und seine massenwirksame Umsetzung selbst einen Krieg auslösen kann, wie den zwischen zwei mittelamerikanischen Bananenstaaten, wird allseits konstatiert und je nach der Position dessen, der sich mit dem Thema befaßt ins Unerforschliche menschlicher Psyche abgeschoben („Faszination Fußball“ nannte das Fernsehen eine Sendereihe zum Auftakt der WM) oder dem Kapitalismus und seinen Verführungskünsten in die Schuhe geschoben. Daß aber der Fußball quer durch die gesellschaftlichen Klassen seine Anhänger hat, in den meisten Industriestaaten Stadien füllt, verweist auf ein Moment an ihm, daß die oben angeführten Erklärungsversuche nicht treffen.

Selbst der Unterschied zwischen dem Normalzuschauer und dem marxistischen Betrachter reduziert sich vor dem Fernsehschirm auf eine differenzierte Stellung zum Kommentator: während die Beliebtheit von Sportreportern daher herzurühren scheint, daß sie die Meinung der Volksseele über den Bomber der Nation artikulieren, ärgern Linke sich schwarz über die Kommentare eines Oskar Klose: diese Differenz kommt jedoch nicht aus dem Fußball, sondern aus seiner nachträglichen Interpretation. Spätestens der Torschrei eint die kritischen Köpfe mit den angeblich so manipulierten. Überlegungen des KSV, eine Demonstration gegen den Volksbetrug Fußball-WM durchzuführen, scheiterten an der Unvereinbarkeit von Demonstrationszeitpunkt und Sendetermin der Übertagung dessen, wogegen protestiert werden sollte. Wir nehmen uns davon nicht aus: Sitzungen des MSZ-Kollektivs paßten sich dem Spielplan des WM-Organisationskomitees an. Grund genug so meinen wir, abgesehen von der Bewußtseinslage der meisten potentiellen Adressaten unserer Politik, mit den Mitteln der wissenschaftlichen Analyse einem Phänomen nachzugehen, das zunächst eher Wissenschaft behindert, als sie anzuregen.


I. Der Fußball als Spiel: Negation der Nützlichkeit

Das Spiel ist anders als die Arbeit emanzipiert vom Zwang des Nutzens. In einer Gesellschaft, deren Formen jener bestimmt, bleibt es den Kindern vorbehalten, obwohl auch hier sich der Nutzen einbildet, wofür die Frühpädagogik „Der kleine Elektromann“ gesorgt hat. Der Begriff des Spiels enthält jedoch, daß es nur seinen eigenen Regeln gehorcht. Das Herantragen von Momenten, die nicht im Spiel enthalten sind, gilt als Spielverderbnis, der Spielverderber ist einer, der die Regeln des Spiels verletzt, das der andere im aufzwingen will oder das Spiel stört. Den Zusammenhang finalen Handelns, die Mittel-Zweck-Relation, bezeichnet die Wissenschaft als Teleologie, das Spiel verkörpert deren Negation. Der Sinn des Spiels liegt ausschließlich in ihm selbst.

Das zeigt sich schon daran: Wer das Spiel nicht kennt, steht ratlos vor ihm. Zeitgenössische Berichte über junge Männer, die einer Lederkugel nachjagen, erinnern an Beschreibungen über das Verhalten Geistesgestörter. Nachvollziehbar ist dies dem Kontinentaleuropäer, wenn er den Versuch unternimmt, den Sinn des Kricketspiels zu enträtseln. Oder umgekehrt: eine Gruppe japanischer Studenten sieht zum ersten Mal ein Fußballspiel und meint, Ziel des Vorgangs auf dem Rasen sei es, den Ball mit dem Kopf zu treffen und ihn möglichst hoch in die Luft zu schießen. Würde man den Zweck des Fußballspiels bestimmen, als möglichst häufige Beförderung des Balles in das gegnerische Tor, so erführe dieser Zweck seine Begründung nur aus dem Spiel selbst, in dem er vorkommt.

Anders bei der Arbeit: ihr Zweck liegt außerhalb des Vorganges, der bei ihr stattfindet. Reproduktion des Arbeitenden, Stoffwechsel mit der Natur ist ihr telos, sei es unmittelbar oder vermittelt über den Lohn in einer Gesellschaft, in der Arbeit vorwiegend als Lohnarbeit vorkommt. Das Spiel als gesellschaftliche Institution, das nicht nur den Kindern Vorbehalten bleibt, setzt eine Gesellschaft voraus, die den Stoffwechsel mit der Natur, die Bereitstellung der Mittel zu ihrer Reproduktion soweit entfaltet hat, daß neben der für die Arbeit verwandten Zeit noch Zeit übrig bleibt, die frei von Arbeit ist, Freizeit. Diese Gesellschaft ist die kapitalistische. (In der Antike hat das Spiel noch Zwecke, die außerhalb seiner selbst lagen. Im agon, dem rituellen Spiel, diente es der Kommunikation mit der Gottheit, selbst die olympischen Spiele reflektieren in ihren Disziplinen einen gesellschaftlichen Zweck, die Ertüchtigung im Kriegshandwerk. Der Feudalismus reservierte das Spiel für die herrschende Klasse und beließ den Volksmassen nur das Zuschauen.)

Indem das Spiel den Nützlichkeitszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft negiert, einen Freiraum darstellt, in dem die freie Zeit jenseits vom Nutzenprinzip gemäß dem Lustprinzip eingesetzt wird, an die Stelle der zweckorientierten Kraft- und Hirnanwendung das freie Spiel von Muskel- und Verstandeskräften tritt, enthält einen Verweis.

„Das Reich der Freiheit (das) beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.“ (Marx, Das Kapital)

Fußball und Nation

„Paul war Deutschland und Deutschland Paul.“ (Bild am Sonntag)

Zum Fußball hinzu kommt bei der Weltmeisterschaft, daß es Nationalmannschaften sind, die ihn spielen. Er betritt die Sphäre des Staates und diese verleiht ihm hoheitliche Züge. Verteidiger, Mittelfeldspieler und Sturmspitzen betreten plötzlich daneben noch als Staatsbürger den Rasen. Ihre Besonderheit, die besten Kicker des Landes zu sein, macht sie zu dessen Repräsentanten, als solche gleichen sie Beamten oder Mandatsträgern:

– das Geld versteckt sich hinter der Ehre

– der persönliche Ehrgeiz tritt hinter das Mannschaftsganze, denn es gilt, ein größeres Ziel zu erreichen, den Sieg Deutschlands

– die Auserwählten werden Vorbilder, nationale Idole und dies affiziert sie als Ganze, sie haben sich als Vorbilder zu benehmen auch außerhalb des Fußballfeldes.

Es geht um die Nation, dem ist der Eigennutz hintenan zustellen! (Gerade bei Nationen, denen deren Grundlage, die Allgemeinheit der im Staat aufgehobenen Interessen, abgeht, wie z. B. Zaire, soll die Nationalmannschaft jene herstellen und zwar — schenkt man Presseberichten Glauben — bei Gefahr für Leib und Leben. „Siegt oder sterbt!“, soll Mobutu ihnen gekabelt haben wie einst Kaiser Wilhelm den nach China ziehenden Soldaten nachrief).

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Auftreten der Nationalmannschaft der DDR, die sich einerseits als Nation behaupten, andererseits die Überlegenheit einer gesellschaftlichen Entwicklung beweisen will, deren Subjekte, das Proletariat,; so hieß es einmal im Kommunistischen Manifest, kein Vaterland haben, sich gerade nicht als Nation behaupten, sondern als Klasse Geschichte machen wollen. Dieser Widerspruch drückt sich in der Argumentation des DDR - Fußballs aus! Richtig wird gesagt, daß Fußball ein Spiel ist, das Spaß macht, an ihm also nichts falsches sei. Gefährlich würde er erst im Einsatz für schlechte Zwecke. Im Sozialismus sei er eine Möglichkeit der allseitigen Entfaltung des Menschen. Hinter diese Einsicht fällt die DDR sofort wieder zurück, wenn sie ihre Nationalmannschaft beweisen lassen will, daß der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen ist: die Erfolge unserer Sportler, heißt es da, zeugen von den Leistungen beim Aufbau des Sozialismus in der DDR! Die Absurdität des Arguments, die das Unverständnis seiner Benutzer vom Sport und vom Sozialismus verrät, wird offenkundig, wenn die Sportler der DDR Mißerfolge haben. Die Differenz der gesellschaftlichen Systeme könnte nur sich zeigen am Umgang mit dem Sport, nicht an ihm selbst. Am Auftreten der DDR - Nationalmannschaft jedenfalls, zeigt sie sich nicht. (Wenn in der UZ, der Zeitung der DKP, von „unserer Mannschaft“ die Rede ist und das BRD/Westberlin Team gemeint ist, so geben diese deutschen „Kommunisten“ zu erkennen, daß sie ein Vaterland haben und eine bürgerliche Zeitung machen.)

II. Der Fußball als Sport: Produkt der bürgerlichen Gesellschaft

„Sport (engl.), eine körperliche Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird, aus Freude an der Überwindung von Schwierigkeiten und meist unter Anerkennung bestimmter Regeln.“ (dtv-Lexikon)

Der Begriff des Sports ist um 1800 in England entstanden. Er meint eine bestimmte Art menschlichen Handelns, das um seiner selbst willen betrieben wird auf eigens dafür geschaffenen Einrichtungen und in besonderen sozialen Institutionen. Was er voraussetzt, ist eine Leistung des Kapitals:

„Es ist so, malgré lui, instrumental in creating the means of social disposible time, um die Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft auf ein fallendes Minimum zu reduzieren, und so die Zeit aller frei für ihre eigene Entwicklung zu machen.“ (Marx, Grundrisse)

Ebenfalls in England entstand das Fußballspiel als Sport: zunächst Zeitvertreib von Collegeschülern organisierte er sich früh in Vereinen, gehorchte allgemein anerkannten Regeln und spielte sich im Rahmen einer nationalen Konkurrenz um die Meisterschaft ab. Hier ist festzuhalten, daß der Sport vom Anbeginn seiner Existenz als gesellschaftliche Sphäre seinen ursprünglichen Zweck negierte: trieben die Colleges zunächst Leibesübungen nach dem Motto mens sana in corpore sano, so nahm die Leibesübung als Sport darauf keine Rücksicht mehr. Spätestens die Einführung des Faustkampfes als Sport erweist die Verkehrung der sportlichen Tätigkeit ins Gegenteil der Gesundheitsbeförderung.

„Der Zweck des Sportes ist natürlich nicht körperliche Ertüchtigung, sondern der Zweck körperlicher Ertüchtigung kann Sport sein.“ (Brecht, Die Todfeinde des Sports)

oder plastischer:

„Boxen zu dem Zweck, den Stuhlgang zu heben, ist kein Sport.“ (ibid).

Die minutiös registrierten letzten Wochen des Günter Netzer vor der WM rücken den Zusammenhang zurecht: Vom Fußball hat er regelmäßige Verletzungen, die seine Fitness fortlaufend ankratzen, deshalb macht er Fitnesstraining, um wieder Fußballspielen zu können, (über die Funktion von „Trimm-Dich- Aktionen“ ist hier nicht der Ort zu handeln, denn hierbei handelt es sich nicht um Sport, sondern um Trimm- Dich-Aktionen, wie aus obigem klar sein dürfte). Netzer spielt Fußball zunächst um des Fußballs Willen, sein Spiel als Fußballspiel gehorcht den Regeln der FIFA und sonst niemandem. Der Witz am Sport liegt nun darin, daß eine Gesellschaft, in der produziert wird, um Werte zu erzeugen, einen Bereich sich hält, indem keine Werte produziert werden, in dem nicht gearbeitet wird. (Daß Fußball keine Arbeit ist, macht trotz des Geschwätzes „linker“ Kritiker vom Fußballkapitalismus eine anschauliche Überlegung deutlich: obwohl kein Mensch auf den Gedanken käme, zu verkünden „Ich gehe jetzt arbeiten!“, wenn er mit Freunden zum Fußballspielen aufbricht, soll der gleiche Vorgang plötzlich Arbeit sein, wenn er für Geld gemacht wird. Einen defekten Motor reparieren nennt man allemal jedoch Arbeit, gleichgültig, ob man dafür bezahlt wird oder nicht). Aus dem Fußball selbst ist nur herauszuholen, daß er seinen Zwecken gehorcht, die – wie oben schon angegeben – darin bestehen, den Ball so oft wie möglich im gegnerischen Tor unterzubringen. Aus der Arbeit hingegen, die sich in Produkten niederschlagen muß, die menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigen müssen, um als gesellschaftlich nützlich anerkannt zu werden, läßt sich ihre gesellschaftliche Qualität unmittelbar erschließen. Hieraus folgt, daß der Fußball als Sport zwar die kapitalistische Gesellschaft voraussetzt, diese mit ihm aber noch ein emanzipatives Produkt hervorgebracht hat, einen Bereich menschlicher Tätigkeit, der eigenen Bestimmungen gehorcht, „ausschließlich um seiner selbst willen ausgeübt wird“, wie Brockhaus formuliert.


 

III. Der Fußball als Geschäft: Vollendung und Zerstörung des Spiels

„So perfekt spielen nur Profis!“ (Westdeutscher Sportreporter)

Das Spiel hat an sich selbst sein Maß: da es hierin der Kunst gleicht, eröffnet dieser Sachverhalt den Sportreportern ein weites Reich der Superlative, die aus einem Vokabular stammen, wie es ansonsten provinziellen Kunstrichtern eignet). Nicht dem Spiel Äußeres bestimmt den Grad seiner Wirkung (über den Nationalismus im Sport siehe Kasten), sondern die vollendete Exekution seiner Regeln. Dies setzt aber die unumschränkte Formierung der körperlichen und mich der geistigen Fähigkeiten voraus. Der Arbeiter im kapitalistischen Produktionsprozeß, dem dieser das zweckmäßige Funktionieren seiner Physis abverlangt, bezahlt damit durch die fortwährende Zerstörung seiner Individualität. Erst wenn diese ganz freigesetzt wird für das Spiel kann sie sich voll dessen Erfordernissen anpassen. Im professionellen Fußball wird das Fußballspielen zum „Beruf“. Der Berufsfußballer ist ein Mensch, der eine Wunschvorstellung des kapitalistischen Individuums vorstellt: er verdient sein Geld nicht durch Arbeit, sondern im Spiel. Spielend Geldverdienen, wer möchte das nicht?

Der Begriff des Berufs drückt üblicherweise eine Postion in der kapitalistischen Arbeitsteilung aus, mit Hilfe derer man sein Geld verdient durch Arbeit, das heißt durch einen Beitrag zum Reproduktionsprozeß der Gesellschaft. Die Rede vom anständigen Beruf meint, jemand verdient durch Arbeit sein Geld und nicht durch etwas anderes, wie z. B. Betrug und Gaunerei. Daß Fußball kein Beruf ist, zumindest kein anständiger, geben seine Fans auch offen zu, wenn sie z. B. in Porträts der Nationalspieler immer wieder betonen, er habe es auch beruflich zu etwas gebracht und wenn er nur sein Geld gut angelegt hat. Die Superstars des westdeutschen Kickens, Netzer und Beckenbauer haben auch geschäftlich die größten Erfolge vorzuweisen.


Daß das Geld, das Fußballer verdienen, etwas anderes ist, als der Lohn des Arbeiters, zeigen die Beträge, die für Asse bezahlt werden: bemißt sich die Lohnhöhe nach dem Preis der Arbeitskraft, so die Höhe des Fußballersalärs nach Erfolg, Attraktion des Starnamens und anderen Faktoren. Dennoch ist die Bezahlung des Fußballspielens die Voraussetzung des Niveaus, das es mittlerweile erreicht hat. Nicht zu unrecht spricht man Ballartisten, Leuten, die ihren Körper bis zur Perfektion formiert haben, Mannschaften die „traumhaft“ harmonieren. Der Sorgen um die Reproduktion enthoben können sich auf das Spiel konzentrieren und das Spiel bleibt zunächst Spiel, auch wenn noch soviel Geld daran hängt. Dennoch bezahlt es seinen Preis fürs Geschäft, das mit ihm gemacht wird: um die Basis des Profifußballs zu erhalten, muß das Publikum ihn sehen wollen: die Profimannschaften sind zu guten Spielen verurteilt. Haben sie einen schlechten Tag, verlieren sie Publikum, der Verein Geld und die Profis Prämien. Längere Zeit außer Form befindliche Profis verlieren das „Bundesligaformat“'und ihren „Beruf“, der gerade die Bedingung ihrer Form ist. Da sich gute Spiele in Erfolgen niederschlagen (wir erinnern uns: Zweck des Fußballs sind die erzielten Tore), bemißt das Publikum die Güte des Spiels einer Mannschaft an ihren Erfolgen. Das geflügelte Wort des Sportjournalismus, eine Mannschaft „sterbe in Schönheit“ ist wörtlich zu nehmen, meint es doch, sie hätte keinen Erfolg und steigt deshalb ab. Das Angewiesensein auf Erfolge (kein Mensch fragt heute noch, ob die Mannschaft von Milan letztes Jahr gegen Ajax schön gespielt hat, sie gewann 1:0 und damit den Europacup), produziert im Profifußball ein Moment seiner Selbstzerstörung, indem er das Resultat des Spiels verabsolutiert und damit immer wieder selbst das Spiel destruiert. Defensivfußball, vorsätzliche Fouls (im Jargon „Notbremse“ genannt) sind Verstöße gegen die Bestimmungen des Spiels und verraten, daß sich ins Spiel selbst das Geschäft eingenistet hat. Spitzenverdiener der Profifußballs erklären in Interviews, vor allem spielten sie aus Freude am Fußball und daß es dafür Geld gäbe, sei ein nicht unwillkommener Nebeneffekt.

Darin liegt das Wahre, daß sie gute Spieler sein müssen, um an das große Geld zu kommen. Zugleich aber ist dieses Selbstverständnis in dem Augenblick der Lächerlichkeit überführt und vorm Geschäft blamiert, wenn sie nicht mehr in Form sind.

Dann nützt die ganze Freude am Spiel nichts, weil sie damit kein Geld mehr verdienen, arbeiten müssen, mehr außer Form geraten und schließlich in der Amateurliga – sofern sie dann noch Freude am Spiel haben – sich die Schienbeine polieren lassen müssen. Der Fußball als Geschäft ist somit das Doppelte, daß er die im Spiel angelegten Möglichkeiten menschlicher Entfaltung voll freisetzt, sie zugleich jedoch pervertiert und zerstört. Diese Überlegung steht noch vor den in linker Kritik gängigen, die sich die Unterwerfung des Fußballs unters Kapital naiv vorstellen und dann nicht mehr herkriegen, warum Fußball immer noch Freude bereitet, erregte Anteilnahme, wo sonst der Kapitalismus doch fortlaufend das schiere Gegenteil davon produziert. (Damit soll der Zusammenhang von Fußball und Profitmaximierung nicht geleugnet werden. Sie treffen jedoch nicht den Fußball, sondern seine Verwalter. Reklame auf dem Trikot von Beckenbauer affiziert seinen Umgang mit dem Ball mitnichten.)


IV. Der Fußball als Ideologie: Opium fürs Volk?

„Die Brasilianer begingen den Triumph ihrer Mannschaft mit einem zweiten Karneval. Auch die ärmsten der Armen fühlten sich als Brasilianer.“ (D. Kronzucker im „Weltspiegel“)

Was der Kapitalismus den Individuen antut, analysiert Marx als Herrschaft sachlicher Verhältnisse über die Personen. Die Privatsubjekte erfahren zwar die Bestimmungen ihres Handelns vermittelt über den freien Willen, jedoch affiziert dessen Grundlage, die jeweilige Revenuequelle (Arbeit, Kapital oder Grundbesitz), noch abstrakt ihr Selbstverständnis als Personen, indem es die Alternativen ihrer willentlichen Entscheidung einengt. Die quantitative Begrenzung des Lohns schränkt den Kreis der Bedürfnisse vermittels eines diesen äußerlichen Kriteriums ein: nicht „will ich das?“ oder „brauch ich das?“ ist allein entscheidend, sondern „kann ich mir das leisten?“ Der Entfaltung ihrer selbst sehen sie sich durch Voraussetzungen behindert, die nicht sie selbst kontrollieren. Die Vergesellschaftung des Menschen wird als Fremdbestimmung erfahren. Die bürgerliche Soziologie formuliert dies als „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“ (Dahrendorf). So produziert diese Beschränkung der Individualität bei den ihr Unterworfenen den Wunsch nach einem Bereich, in dem das Individuum nur sich gehorcht.

Das Bürgertum, solange es noch erfüllt war von seiner historischen Mission, erschloß sich diesen in der Kunst:

„Im Kunstschönen ist der Gedanke verkörpert, und die Materie von ihm nicht äußerlich bestimmt, sondern existiert selber frei, in dem das Natürliche, Sinnliche, Gemüt usf. in sich selbst Maß, Zweck und Übereinstimmung hat, und die Anschauung und Empfindung ebenso in geistige Allgemeinheit erhoben ist, als der Gedanke seiner Feindschaft gegen die Natur nicht nur entsagt, sondern sich in ihr erheitert und Empfindung, Lust und Genuß berechtigt und geheiligt ist, so daß Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Begriff in Einem ihr Recht und Befriedigung finden.“ (Hegel, Vorlesungen über Ästhetik I)

Ähnliches galt für die Religion, die der zitierte Hegel neben der Kunst im Reich des Geistes gelten läßt. Man muß nicht die Essays der Kulturkritik gelesen haben, um zu wissen, daß zeitgenössische Kunst dazu nicht mehr taugt, wofür sie selbst weniger kann, als daß die volle Durchsetzung des Kapitalismus sie nicht daran hindern würde, und daß die Religion als Faszinosum im entfalteten Kapitalismus nur noch als Farce à la Jesus-People auftaucht. Die Sehnsucht der kapitalistischen Privatsubjekte nach einem Bereich, in dem sie sich als Individuen behaupten können, muß aber durch die immer gravierendere Zerstörung der Individualität eher intensiver denn schwächer geworden sein. Sie findet nur neue Objekte. Diesen ist eigen, daß sie den Mangel der bürgerlichen Kunst, die „von Anbeginn mit dem Ausschluß der Unterklasse erkauft“ war, nicht mehr kenne. Jene,

„denen Not und Druck des Daseins den Ernst zum Hohn macht und die froh sein müssen, wenn sie die Zeit, die sie nicht am Triebrad stehen, dazu benutzen können, sich treiben zu lassen“, (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung)

können dies durch die Entgleisung der Bereiche, die nicht vom telos kapitalistischer Produktion beherrscht sind. Neben die Kulturindustrie tritt z. B. der Fußball.

Im Gegensatz zur großen Kunst ist der Fußball nur noch Ideologie deshalb, weil er eine Welt vorstellt, in der das möglich ist, was die wirkliche verweigert, selbstbestimmtes Handeln, dieses jedoch limitiert auf eine fade Spielwiese, innerhalb dessen Freiheit sich auf diejenige des Toreschießens beschränkt.

Dient der Fußball als Träger der Projektionen vom besseren Leben, so resultiert daraus seine Wirkung auf diejenigen, die an ihn glauben. Die Ideologie wirkt zurück auf die sie hervorbringende Gesellschaft. Hier haben ideologiekritische Versuche über den Fußball ihr Recht, die darauf hinweisen, daß Erfolge der deutschen Mannschaft das Staatsvolk mit seiner Regierung versöhnen, deren Wahlchancen steigern, den sozialen Frieden stabilisieren helfen, das Selbstbewußtsein stärken u.a.m. Nachweisen ließe sich auch, daß in den Ländern, die dem imperialistischen System subsumiert sind ohne selbst eine nationale Kapitalakkumulation und die Ausbildung bürgerlicher Verkehrsformen nachvollzogen zu haben, der Fußball als synthetische Form der nationalen Identität, als Ersatz für die mangelnde Staatlichkeit herhalten muß. Brasilien als Nation repräsentieren die Nationalspieler eindringlicher als die Reißbrettstadt Brasilia. Noch augenscheinlicher und auch gefährlicher wird das Ideologische, Falsche am Fußball, wenn Baby Doc Duvalier eine haitianische Fußballmannschaft aus den besten seiner Totons Macoutes aushebt, die prompt zum „Liebling des Münchner Publikums“ (SZ) wird.


V. Fußball als Faszination: Die Überhöhung des Banalen

Unter die Todfeinde des Sports rubriziert Brecht den

„Wissenschaftlichen Fimmel. Hierzu gehören leider meistens mit besonderer Unterstützung der Presse die krampfhaften Bemühungen einiger ,Kenner‘ aus dem Sport eine Art ,Kunst‘ zu machen.“ (op. cit.)

Dabei ist die Artifizierung des Fußballs noch eine relativ harmlose Variante, deren bekanntester Vertreter, Heinz Mägerlein, nahezu in Vergessenheit geraten ist. Häufiger ist die Adelung des Königs Fußball, der zur „herrlichsten Nebensache der Welt“ glorifiziert wird. Diese Phrase verdient jedoch, näher untersucht zu werden, weil in ihr mehr Wahrheit über Fußball und Kapitalismus steckt, als in allen bislang erschienenen kritischen Veröffentlichungen zu diesem Thema. Ein scharfsinniger SZ-Leitartikler, C. H. Meyer, formuliert auf dem Boden dieser These die Mahnung: „Es wäre etwa bedenklich, wenn durch den Fußball die Politik zur Nebensache degradiert würde, wenn das Urteil darüber verlorenginge, was wichtig ist.“ Was wichtig ist, das ist der bürgerlichen Gesellschaft längst verloren gegangen, nicht ist dies z. B. was im Vorderteil der SZ steht, was die herrschenden Charaktermasken so verzählen im Parlament oder auf Reisen. Die Oberfläche dessen, was wichtig wäre, findet sich am ehesten noch im Wirtschaftsteil. Der Witz besteht gerade darin, daß die Schreiber von Leitartikeln bürgerlicher Zeitungen nicht wesentlich mehr von der Welt und dem, was sie im innersten zusammenhält, wissen als Oskar Wark. Der Rücktritt eines Bundeskanzlers hat auf die gesellschaftliche Entwicklung in diesem Land kaum mehr, eher weniger Einfluß als ein eventueller Sieg der BRD/Westberlin-Mannschaft bei der WM, nicht auszudenken einer der „Ostzone“ (A. Tetzlaf) über uns!

Wenn es also darum geht, was denn die Hauptsache sei, zu der sich Fußball als Nebensache verhält, haben sich Politjournalisten und Sportreporter aber auch gar nichts vorzuhalten. Die Beschäftigung damit findet praktisch in den Klassenkämpfen, theoretisch in der Arbeit einer winzigen Minderheit, der Kommunisten, statt. Dennoch liegt in der Rede von der „herrlichsten Nebensache“ ein Verweis auf eine Gesellschaft, in der freies Spiel der Kräfte, das Tun einer Sache um ihrer selbst willen, nur Nebensache sein soll, reserviert für wenige. Die Ahnung einer vom Zwang der Produktionsverhältnisse, von der Not der Reproduktion durch (Lohn-)Arbeit befreiten Gesellschaft, ist in unserem Lande bei den Unterdrückten und Ausgebeuteten nicht vorhanden als Klassenbewußtsein, als revolutionäre Theorie und Willen zur verändernden Konsequenz, sondern u. a. als Faszination Fußball oder als Traum vom kleinen Prinzen, der einen bei der Hand nimmt und in ein anderes Land entführt. In der Nebensache steckt der Keim der Hauptsache und daraus bezieht sie ihre Herrlichkeit. Im Fußball jedoch, der ein Spiel ist, finden wir den Gedanken der emanzipierten Individualität, der selbstbestimmten Vergesellschaftung im kollektiven Handeln nur als Karikatur; letztlich ein Hohn auf das vorgestellte Andere, wenn es ausgerechnet in den Fußball projiziert wird.

Daß Fußball fasziniert in dem Maße, wie er es tut, ist erschreckend für das kritische Bewußtsein. Die Hunderttausende, die samstags die Stadien füllen, und in der Identifikation mit dem Spiel ihre Identität suchen, stehen gleichsam in einer gigantischen Abseitsfalle, andererseits, wer wollte ihnen verübeln, wenn sie ausgerechnet beim Fußball suchen, was die Waren produzierende Gesellschaft ihnen vorenthält?

Hier klärt sich auch das eingangs angesprochene Problem, warum Linke die BRD spielen und siegen sehen wollen: Die Freude am Spiel ist das Rationale am Fußball, die Identifikation mit der Nationalmannschaft Konsequenzen des modernen Fußballs, der die bürgerliche Individualität auch dann noch erliegt, wenn sie im Denken über sie schon hinaus ist. Wogegen man sich ständig wehren muß ist jedoch der ideologische Versuch, ausgerechnet den Fußball zu einer Sache zu überhöhen, die er nicht ist. Dies gilt auch für diverse marxistisch auftretende Versuche, am Fußball eine kapitalistische Qualität zu entdecken, wo immer nur das gemeint ist, was der Kapitalismus aus dem Fußball macht. Letzteres, das Walten der Schuhfabrikanten und der Werbeindustrie um den Fußball herum, affiziert die Freude am Fußball zunächst ebenso wenig, wie dasjenige der pharmazeutischen Industrie beim Geschlechtsverkehr.

Die Überhöhung des Fußballs vom Spiel zur Weltanschauung scheitert aber immer wieder am Fußball selbst, er ist einfach zu blödsinnig – und dies ist durchaus positiv gemeint – als daß er sich mit dem Denken vertrüge:

„Seit der Gerd im Strafraum denkt, trifft er nicht mehr“ (Udo Lattek)

Warum soll man auch ausgerechnet beim Fußball, der doch als Spiel seinen Sinn hat, und nur als solches, Denken investieren, das doch bitter nötig ist, um dasjenige zu erkennen, was immer noch die Hauptsache ist. Die Zerstörung irrationaler Faszination, die Fußball produziert, ist kein Verdikt, das gegen ihn erlassen wird:

„Noch Blödeln braucht nicht stumpf zu sein, kann selig als Dispens von den Selbstkontrollen genossen werden.“ (Adorno, Freizeit)

Der AStA der LMU zur WM 1974


MSZ-interview mit Sportreferent Brandlmeier

MSZ-kollektiv: Genosse Brandlmeier, sicher verfolgst Du mit großer Anteilnahme das erregende Geschehen der Fußball-WM in diesen Tagen …

Brandlmeier: Nein!

MSZ-kollektiv: … und da hätten wir gerne gewußt, ob Du uns kurz Deine Einschätzung dieses Spektakels geben könntest?

Brandlmeier: Nein!

MSZ-kollektiv: So. Glaubst Du, Genosse Brandlmeier, daß Deutschland Weltmeister wird?

Brandlmeier: Die BRD, die DDR oder Westberlin?

MSZ-kollektiv: Die BRD und Westberlin, also das Gebiet, das im DFB organisiert ist?

Brandlmeier: DFB?

MSZ-kollektiv: Genosse Brandlmeier, als Sportreferent bist du ja ziemlich schlecht informiert über das sportliche Tagesgeschehen.

Brandlmeier: „- - - “

MSZ-Kollektiv: Du als Referent in einem Rote-Zellen-AStA bist wohl mehr mit den gesellschaftlichen Aspekten des Sports befaßt?

Brandlmeier: Nein!

MSZ-kollektiv: Sicher treibst Du selbst Sport?

Brandlmier: Nein!

MSZ-kollektiv: Welche besondere Funktion hat der Sportreferent des (AStA)?

Brandlmeier: hm.

MSZ-kollektiv: Nun gut. Könntest Du uns abschließend noch Deine persönliche Meinung über den Leistungssport sagen?

Brandlmeir: Ich studiere Chemie.

MSZ-Kollektiv: Genosse Brandlmeier, wir danken Dir für dieses Interview.

(Reihenfolge korrigiert – war wahrscheinlich falsch gesetzt)

 

aus: MüSZ 5 – 1974

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