Jeder hat seine Tradition


„Er wußte, daß der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, daß er seine Gegenwart nur versteht, wenn der den Weg kennt, der zu ihr geführt hat ... Er dachte an die Vergangenheit, weil er sich seiner Pflichten für die Zukunft bewußt war. Das ist verantwortliches Denken.“ (Walter Scheel: „Selbstbesinnung der Technik“. Festrede zum 75jährigen Bestehen des Deutschen Museums)

„Pseudopolitische und pseudowissenschaftliche Aktivitäten entfalten sich meistens dort, wo verantwortliche Politiker und verantwortliche Wissenschaftler zuvor das Feld geräumt oder unbestellt gelassen haben.“ (Helmut Schmidt: Rede vor dem Deutschen Historiker-Tag)

In einem Land, in dem das Kapital mit Konjunktur und Krise zügig akkumuliert, hat alles seine Konjunktur und seine Krisen, jedenfalls alles, was den Staat betrifft. Nach der „Krise des historischen Bewußtseins“ hat das Denken in Tradition jetzt wieder Konjunktur, und untrügliches Zeichen dafür ist – wie in der Wirtschaft –, daß man sich lauthals und einmütig über den schlechten Stand der Geschäfte beschwert, die man derweilen unbeschwert und blühend betreibt. Wenn die verantwortlichen Politiker keinen Tag verstreichen lassen, landauf landab das Feld der Tradition zu bestellen und „pseudopolitisches und pseudowissenschaftliches“ Unkraut auszujäten, und gleichzeitig der Kanzler unter beifälliger Anteilnahme der gesamten gebildeten Nation vor der versammelten Historikerzunft aus drei Jahren Oberbefehlshaberzeit die historische Lehre zieht, daß „vor allem auch die junge Generation zu der Besorgnis Anlaß gebe, daß Deutschland ein geschichtsloses Land werde“ (als ob eine Nation ihre Geschichte wie andere Leute 5 DM verlieren könnte!), dann ist nach Jahren politischer Bildung durch die Quintessenzen von Politologie und Soziologie jetzt dasselbe auch wieder im historischen Gewande gefragt. Nicht daß in den Jahren von Reform-, Ostverständigungs- und sozialer Netzknüpfungspolitik die Geschichtslehrer arbeitslos, das Volk ohne Geschichte und der Staat ohne Tradition gewesen sei. Aber es war in dieser Zeit doch schon so etwas wie eine Tradition geworden, einige (un)mögliche Argumente dafür auffahren und sich sogar darüber streiten zu müssen, daß Demokratie etwas Schönes und ein normales Leben für jeden etwas Nützliches sei. Der Blick zurück in die Vergangenheit, den Politiker immer gerne machen, um ihn von da zurück auf die Gegenwart zu richten, mußte sich oft erst durch das Gestrüpp von Ansprüchen und Erwartungen an Demokratie und soziale Ordnung hindurchquälen, um frei schweifen zu können. Heute kann er es wieder frei und hemmungslos, weswegen er die Staatsgewalt auch wieder in ungetrübterem Lichte glänzen sieht und unverzüglich auf die historische Wahrheit stößt:

„Kein Staat ist vollkommen. Auch der unsere nicht. Doch vergleichen Sie ihn. Noch keiner deutschen Generation wurden solche Chancen geboten, wie dieser Staat sie Ihnen bietet. Helfen Sie, diesen Staat besser zu machen.“ (Walter Scheel am 30. Jahrestag des Kriegsendes)


Der Geist von Camp David

„Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus“, aber im Lichte geschichtlicher Vergleiche werden umgekehrt auch aus gegenwärtigen Staatsaktionen große Ereignisse ohne Schatten. In Camp David wurde nicht nur Politik, sondern Geschichte gemacht, was zwar eigentlich dasselbe sein sollte, aber nicht ist, weil Politik ein schmutziges Geschäft ist, welches dadurch erst zur Geschichte wird, daß es in die Tradition vergangener Politik gestellt wird, die auch ein schmutziges Geschäft war, inzwischen aber schon Geschichte ist. Der Geist von Camp David, an dem sich jeder seiner Erfinder messen lassen muß, kam einfach dadurch über die Staatsmänner, daß sie ihn entsprechend würdigten. Der Christ Jimmy Carter stellte den Juden Menachem Begin und den Moslem Anwar el-Sadat in die Tradition Jesu Christi:

„Gesegnet seien die Friedensstifter, denn sie werden Kinder Gottes sein.“

Etwas weniger, aber genügend Weitblick verrieten auch der amerikanische Kongreß-Sprecher O’Neill: „Nichts Vergleichbares, seit Churchill hier sprach“ und Begin selbst: „Die wichtigste Konferenz seit dem Wiener Kongreß“. In der Tat also „ein Wendepunkt der Geschichte“ (George McGovern), zumal der Kongreß nicht tanzte, sondern seinen würdevollen Abschluß im Besuch der drei Friedensstifter auf dem historischen Schlachtfeld in Gettysburg fand, wo vor mehr als 100 Jahren einige tausend Amis geschichtsträchtig ins Gras bissen.

Daß der Frieden, zumal im traditionell Heiligen Land, eine heilige Sache ist, beweist allein der Umstand, daß vier Kriege vergeblich versucht hatten, ihn herbeizuführen.

„Wir können uns keinen neuen Krieg mehr leisten. Wir müssen Frieden haben.“ (Weizmann).

Daß es vielleicht billiger geht, dachte auch das Nobel-Komitee und stellte die – wie man es traditionell zu nennen pflegt – „um Frieden Ringenden“ in die Tradition großer Kämpfer für Frieden und Völkerverständigung (man kennt ja deren leidige Verständigungsschwierigkeiten) wie Brandt, Kissinger, Amnesty usw. Noch ehe der Frieden (in dem manche ruhen werden und manche nicht) unter Dach und Fach ist, wird schon an seiner Glorifizierung gebastelt und das rücksichtslose Geschäft staatlicher Interessensregelung mit all den Insignien ausgestattet, mit denen die gebildeten Staatsbürger ihren Staat samt Männer zu adeln und ihr Einverständnis zu demonstrieren pflegen, daß noch jedes Argument des staatlichen Alltags vor den Idealen staatlichen Interesses verstummt und der Blick nach rückwärts nicht nur ein, sondern das Argument jedes Gebildeten ist, wenn es wirklich drauf ankommt.

Historischer Dialog

Begin: „Guten Abend, Herr Präsident. Ich gratuliere Ihnen zum Nobelpreis.“
Sadat: „Ich gratuliere Ihnen ebenfalls.“
Begin: „Herr Präsident, erinnern Sie sich an unser Gespräch in Ismailia, wo ich Ihnen sagte, der Weg nach XXXBeersheba führe über Stockholm? Sie haben damals sehr darüber gelacht. Lassen Sie uns unsere XXXDelegationen auffordern, die Verhandlungen wiederaufzunehmen, um den Friedensvertrag XXXfertigzustellen, ihn zu unterzeichnen und Präsident Carter einzuladen.“
Sadat: „Mein Vizepräsident hat bereits Anweisung erteilt, unsere Delegation möge die Verhandlungen mit XXXder Ihren wiederaufnehmen.“
Begin: „Wunderbar. Wir können Präsident Carter sicher einladen, sobald wir zu einem unterschriftsreifen XXXAbkommen gelangt sind.“
Sadat: „Absolut. Präsident Carter ist in dieser Angelegenheit der Unbekannte Soldat.“
Begin: „Natürlich. Ich hoffe, Sie anläßlich der Vertragsunterzeichnung zu treffen, Der wahre Preis ist der XXXFriede selbst.“
Sadat: „Ich stimme mit Ihnen überein,“
Begin: „Auf Wiedersehen, Herr Präsident.“
Sadat: „Auf Wiedersehen, Herr Begin.“

Sei’s als schlichter Hinweis auf die Größe eines Ereignisses oder Politikers (= das nationale Interesse an ihm), sei’s als Erinnerung an für selbstverständlich erklärte Dogmen deutscher und anderer Ideologie, der verfälschende Blick in die Geschichte, der Fingerzeig auf vergangene Größe und Verfall (von wem wohl?), kurz auf Traditionen, die im Geiste mitmarschieren (woher „wir“ kommen = wohin wir gehen – müssen!), erstickt noch allemal die Frage nach dem wozu und warum der Gegenwart wie der Geschichte, also nach dem Nutzen staatlichen Handelns für andere als den Staat. Tradition ist, wie schon der Name sagt, die der Gegenwart, und jede Gegenwart hat ihre Tradition. In diesem Lichte besehen ist der Handel Ägypten-Israel mit dem ehrlichen Makler Jimmy (man verzeihe den Hinweis auf Bismarcksche Vertragstraditionen!) einer mit Tradition, also kein Handel mehr, sondern Geschichte, die unbestritten nur von Völkern und Staaten handelt und immer schon von Männern gemacht wird. Und wenn die Geschichte mit dem Frieden baden gehen sollte, gibt es auch dafür Traditionen, die aus Politikern verhinderte Friedensstifter (jeder Krieg ein mißglückter Frieden!) und damit tragische Figuren machen. Man denke nur an Wilson mit seiner wegweisenden Völkerbundidee, an die er sich selbst nicht halten konnte!


Persönlichkeit mit historischen Konturen

Wie jeder haben auch die Deutschen ihre Geschichte, die sorgfältig gepflegt wird. Wir waren ja schon immer ein Volk der Macher und Lenker; da macht es nichts, wenn das vorläufig letzte Glied in dieser Tradition die Forderung nach mehr populärwissenschaftlichen „Konturen“ im Geschichtsbild mit ein paar falschen Fakten untermauert (er verwechselte irgendwelche französischen Ludwigs). Die Botschaft hört man wohl und auch am Glauben fehlt es nicht, daß die Verklärung des Heute durch’s verklärte Gestern als ideologische Waffe im Klassenkampf unbeschränkt tauglich ist:

„Geschichte geht nicht nur Historiker etwas an. Sie betrifft jeden Bürger, der seine Pflichten in der Gesellschaft ernst nimmt. Zwangsläufig sind Historiker deshalb zugleich Erzieher.“

Auch der historisch Unerzogene weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, daß unser Helmut historische Größe besitzt. Er ist so beliebt wie Adenauer: wer sonst hätte es sich leisten können, die Boccia-Bahn des Alten in Rasenfläche umwandeln zu lassen und dem Kohl vorzuhalten, er stehe nicht in der Tradition des großen Alten. Er ist so dynamisch wie Napoleon oder noch dynamischer, wie ein Vergleich der Mützen vermuten läßt; außerdem steckt er nie die Hände in die Taschen, und sei’s auch nur die Brusttaschen. Er ist so genial wie Bismarck, ganz sicher noch genialer. Denn wer sonst schafft es schon, außenpolitisch in seine Fußstapfen zu treten und ihn innenpolitisch zu schlagen, weil er statt Sozialistengesetz Radikalenerlasse erläßt, und noch mit seiner Partei unter der Parole „100 Jahre Sozialistengesetz“ die antibismarcksche Tradition demokratischen Opfermuts in Anspruch zu nehmen. Wie gesagt:

„Wer Bismarcks außenpolitische Kunst darstellt, der muß deswegen nicht Bewunderer seiner törichten (!) inneren Politik und seiner Sozialistengesetzgebung sein.“

Doch nicht nur der große Lotse hat Traditionen (und zwar alle). Tradition hat ein jeder in Amt und Würden oder er verschafft sie sich bei passend gemachter Gelegenheit, wie z.B. ein bekannter bayerischer Wissenschafts-, Staats- und Kirchenmann, der zum runden 500. eines nicht mehr so bekannten englischen Humanisten im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ folgende Laudatio hielt (Ähnlichkeiten mit einer lebenden Person rein zufällig!):

„Was bewegt heute Gläubige wie Ungläubige, wenn sie an ihn denken?
Zunächst ist dieser Mann die seltene Vereinigung von großer Verantwortung im öffentlichen Leben, wissenschaftlicher Begabung und persönlicher Demut und Frömmigkeit – eine Komplexion von Gegensätzen, die sonst nicht leicht beieinander wohnen, geschweige denn sich in einem Menschen vereinigen ... Er ist nicht zufällig in die Politik verschlagen worden, das Politische gehört zu ihm von Anfang an. Und man weiß nicht, was man an diesem katholischen Laien mehr bewundern soll, die außerordentliche Biegsamkeit seines Geistes und seiner politischen Klugheit, die List und Taktik nicht ausschließt, oder die Unbeugsamkeit dort, wo es um Gewissen und Freiheit geht.“ (Hans Maier: Der Humanist und der Ernstfall. Untertitel: Thomas Morus – nach 500 Jahren!)

Mensch Maier!


Immer schon treu demokratisch

Was aber wäre die Tradition ohne den munteren Streit innerhalb der traditionellen Parteienlandschaft, wem nun eigentlich die Tradition gebührt – ein Streit, mit dem die Parteien den leidigen Bürger samt seinen Erwartungen an seine Vertreter kurzerhand vollständig von der Bildfläche verschwinden lassen.

Im zähen Ringen um die Ehre, am Zustandekommen der Demokratie seit über 100 Jahren maßgeblich beteiligt zu sein und damit für ihre heutige Bewahrung prädestiniert zu sein, überbieten sich die Volksvertreter. Seit 100 Jahren die SPD im Dienste der Demokratie und immer schon zu Unrecht als links verschrieen. Die FPD schon seit 130 Jahren von der Idee der Freiheit besessen und damit garantiert die älteste und liberalste Liberale. Und auch die CDU/ CSU samt Kirche ewig dabei. Andererseits die SPD traditionell die getarnte Spitze eines kommunistischen Eisbergs, die FDP seit spätestens 110 Jahren die notorische Umfallerin und die CDU nicht erst und nicht nur seit Weimar mit einem Fuß in der Harzburger Front und dem Gesicht in die falsche Richtung.

Jeder hat seine eigene Tradition, jeder möchte aber auch unbedingt sich in die eine hinein- und dafür den anderen hinausboxen; dafür möchte er aus einer anderen heraus, in die ihn der andere ständig hinein rempelt. Mitunter wollen sie auch gleichzeitig hinaus oder hinein. Eines bleibt dabei unbestritten: der Kanon demokratischer Geschichtsvorurteile und bürgerlicher Teleologie, der für alle den Maßstab abgibt, sich ins rechte Licht der Vergangenheit zu rücken. Da die Entwicklung zur heutigen Demokratie beileibe kein Deckchensticken war (von den brutalen Seiten gegenwärtigen Zusammenlebens überhaupt nur zu reden, erspart ja der Traditionsstreit!), läßt sich mit ziemlich geringer Abstraktionsleistung – man muß nur aus den ungemütlichen Begleiterscheinungen der Ausbeutung eine wechselvolle Geschichte von Staatsproblemen drechseln – genügend Staatsgefährdendes finden, was man dem Gegner in die Traditionsweste schieben kann. Besonders beliebt ist es nach der Übergangszeit der allgegenwärtigen Grundwertedebatten heutzutage auch, bei Haushalts- und sonstigen Debatten dem politischen Kontrahenten, der sich heimtückischerweise den immerblühenden geschichtlichen Lorbeer um’s eigene Haupt winden will, zumindest eines „fragwürdigen Geschichtsverständnisses“ zu bezichtigen oder – die Spitze der Pikanterie – ihn des Bruchs der eigenen, immer im Munde geführten Tradition zu überführen, soweit er sich nicht aus der gemeinsamen Tradition der Demokraten öffentlich und selbst ausgeschlossen hat. Der Streit über Einnahmen und Ausgaben, Ansprüche und Pflichten, kurz der politische Alltag, der wie jeder Alltag mit Arbeit und Lohn, Leistung und Gegenleistung zu tun hat, wird also schleunigst verlassen, um unbehelligt im Reich der nationalen Ideale über das zu streiten, worum es an und für sich geht: Deutschlands Demokratie und ihre Hüter.

Da dürfen diejenigen, die nichts lieber als eine anerkannte Partei sein wollen, nicht fehlen. Wie ließe sich der undemokratische Charakter der Berufsverbote leichter beweisen als dadurch, daß man statt SPD sich in die Tradition der Arbeiterbewegung stellt, und einen 100jährigen Traditionsbogen von den allseits als undemokratisch bewerteten Sozialistengesetzen zu den Berufsverboten zieht:

„Berufsverbote gibt es nicht erst heute (aha!). Vor hundert Jahren beschloß der Reichstag das Sozialistengesetz, um die Arbeiterbewegung zu vernichten … Politiker der CSU, FDP und SPD bezeichnen heute die Berufsverbote als rechtmäßig u.a. auch, weil es Gerichte gibt, die diese Verfassungsbrüche bestätigen, sich also gegen das Recht mißbrauchen lassen. Gab es das damals auch schon ? Aber ja ... War die Gesinnungsschnüffelei damals bei den Herrschenden auch schon so Mode wie heute? Nur ein Beispiel... Letzte Parallele. Die Sozialistengesetze wurden zu Fall gebracht. Das kann man wohl sagen. Unter dem Druck der immer stärker werdenden Arbeiterbewegung, der Aktionen und Proteste lehnte es der Reichstag 1890 ab, das Gesetz zu verlängern.“

Wer es noch nicht bemerkt haben sollte:

„Die Stärkung der DKP – das ist eine der entscheidenden Lehren und (!) Schlußfolgerungen auch (!) des Kampfes gegen das Sozialistengesetz.“


Die rote Heimstatt deutscher Tradition

Wird die Gemeinsamkeit der Demokraten in nationaler Traditionspflege mit diesem Konkurrenten noch leicht fertig, so tut sie sich gegenüber demselben Konkurrenten, wo er als gleichfalls deutscher Staat auftritt, etwas schwerer. Der Fluch der Geschichte will es ja, daß der Alleinvertretungsanspruch auch in Sachen Tradition umstritten ist. Die DDR besitzt leider eine Unzahl historischer Stätten und läßt sich deren Tradition nicht so einfach nehmen. Goethe (Weimar kontra Frankfurt), Schiller (Weimar kontra Marbach) werden kräftig hin und hergezerrt. Luther, der sich im Zeitablauf so günstig placierte, daß man in 15 Jahren gleich zweimal dasselbe feiern kann (450 Jahre Thesenanschlag, 500 Jahre Geburtstag), entschied durch seinen Aufenthalt auf der Wartburg schon vor 457 Jahren, daß drüben die „Heimstatt aller fortschrittlichen, revolutionären und humanistischen Traditionen“ des deutschen Volkes ist, hüben aber „auf dem Umweg über Luthers historische Lehren ... angebliche gesamtdeutsche Gemeinsamkeiten vorzutäuschen“ versucht wird, während hüben zu selbigem Anlaß entdeckt hat, daß drüben mit dem markigen Luther-Spruch „Fürchte Gott, ehre die Obrigkeit und sei nicht mit den Aufrührern“ die Genossen von der SED nur ihr politisches Credo untermauern wollen.


Vergangenheitsbewältigung und vaterländische Pflichten

Doch sind diese schon immer gepflegten Scharmützel zwischen den beiden deutschen Kulturnationen, die munter zwecks eigener geistiger Repräsentation die gemeinsame Geschichte zur jeweiligen Tradition vergewaltigen, harmlos gegen das ideologische Kreuzfeuer, das die politischen Repräsentanten hierzulande mit der „wiederentdeckten“ Tradition auf die letzten Reste von Reformideologie und demokratischem Anspruchs denken eröffnet haben. Geschichte hat den Vorteil, immer lebendig zu sein, so daß auch die „Deutsche Geschichte (meine, deine? unsere!) lebendig erhalten“ werden muß (Scheel beim Besuch des Bundesarchivs in Koblenz). Und das wird sie auch wieder nach Kräften. Die jüngere Geschichte der Deutschen war zweifellos häßlich, und was ließe sich besser für die faschistische Aufbereitung demokratischer Hirne gebrauchen als der geschichtliche Nachweis, daß Staat und Nation bei vom Faschismus gebrannten Demokraten in besten Händen sind, die die vaterländischen Ideale nicht verraten, sondern den von ihnen Vertretenen zum eigenen Anliegen zu machen verstehen. Deswegen gibt es hierzulande die heilsame Tradition der Vergangenheitsbewältigung, die gegenwärtig von den dazu Berufenen mit wieder wachsender Vorliebe an den immer reichlich vorhandenen historischen Daten (in denen sich bekanntlich das Leben einer Nation spiegelt und die möglichst mit mindestens einer 0 oder einer 5 enden müssen) gepflegt wird.

Weil das Grundgesetz erst im nächsten Jahr 30 wird, gerade gegenwärtig aber die Geschichte mit der Geschichte so wichtig ist, stellte der oberste Repräsentant des Grundgesetzes selbiges schon zum 29. in die „gebrochene“ (aua!) demokratische Tradition:

„Die Väter des Grundgesetzes fragten sich, wie es zu Hitler kommen konnte, wo die Schwächen der Weimarer Verfassung lagen, wie es möglich war, daß ein grosses Kulturvolk in die Hände eines Diktators fallen konnte. Dieses unser Grundgesetz ist geboren aus den Leiden und Verirrungen der deutschen Geschichte.“

Mit ein paar Fragezeichen und 31jährigen Geburtswehen wurde ohne Mutter Vaterlandes bislang letzter und stabilster Staat geboren, der die rhetorischen Fragen der Väter im Geiste des Grundgesetzes immer aufs neue zu beantworten erlaubt: Weimar hatte es versäumt, den Feinden der Demokratie in wehrhafter Verfassung entgegenzutreten – was alles andere als eine Verfassungsfrage ist; denn die Gegensätze, die ein großes Kulturvolk zum gefallenen machten, waren zugegebenermaßen solche der Interessen. Deswegen sind sie auch heute nicht verschwunden, aber staatlicherseits mit allgemeiner Billigung so gut verwaltet, daß man unbehelligt so tun kann, als seien sie nur eine Verfassungsfrage, die natürlich – wie alles – letztlich eine Einstellungsfrage ist. Deswegen folgt auch der Hinweis auf dem Fusse, daß einer, der seine Interessen an ein starkes Vaterland gebunden wähnt, wenn er sich fürs rechtstaatliche Vaterland auf Kosten seiner Interessen stark macht, von diesem viel besser bedient wird als vom Faschismus.

Hand aufs demokratisch schlagende Herz. Am Volkstrauertag, an dem das Volk, ob es will oder nicht, seiner Toten gedenken muß, die je unbekannter begraben umso lebendiger sind, muß doch einer der besagten Väter seines ausschütten dürfen und beweisen, daß Sozialdemokraten alles andere als vaterlandslose Gesellen sind:

„Ihr (die Jugend) könnt Euch aus der Haftung für die Folgen der Schuld, die Eure Väter auf sich luden, nicht durch die Einrede befreien, ihr seiet damals nicht dabeigewesen, als das Volk in Schuld fiel. Es geht hier nicht nur um Schuld, es geht hier auch um Hoffnung. Wer sich zu seiner Nation bekennt, kann sich nicht darauf beschränken, nur die Aktivposten in der Bilanz des nationalen Erbes für sich einzuheimsen. Er hat auch, so schwer das sein mag, für die Passivposten in der Bilanz geradezustehen. Wer den guten Tropfen genießen will, muß auch den bitteren zu trinken bereit sein, sagt ein alter deutscher Rechtsspruch, wenn er ehrlich bleiben will. Das Bekenntnis zur Nation setzt keinen feierlichen Akt voraus. Es ist schon damit abgelegt, daß wir ihren Schutz und ihre Dienstleistungen in Anspruch nehmen und von dem uns angebotenen Recht Gebrauch machen, ihre Lebensordnungen zu gestalten. Vor allem aber damit, daß wir von dem geistigen Erbe der Menschheit leben wollen, das uns die Nation in der Geschlechterfolge ihrer Geschichte vermittelt hat. Denn ohne diese Überlieferung durch sie hätten wir keinen Eingang dazu. Beide, diejenigen die dabei waren .... wie auch ihre ... unschuldigen Erben, sollte dieser Tag in gleichem Maße an die vaterländische Pflicht erinnern, wachsam zu sein.“ (Carlo Schmidt – auf der Bundestagsfeierstunde des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge zum Volkstrauertag)          

Daß der Pflicht, mit Blick in die faschistische Vergangenheit sich ganz und gar dem demokratischen Staat zu verschreiben, niemand sich entziehen darf, weiß auch ein traditionsbewußter Paradejournalist unter der bezeichnenden Überschrift „Opfer-Heuchler-Demokraten“ nicht nur zu meinen, sondern zu fordern:

„Völker sind historisch gewachsene Solidargemeinschaften, nicht bloß juridisch verfaßte »Gesellschaften«, von denen man sich beliebig fortstehlen könnte. Lossagen von seiner Geschichte kann man sich nur ganz oder gar nicht.“ (Hans Heigert)

Da mit der wieder in Mode kommenden Verpflichtung auf die Volksgemeinschaft die Aufgabe jeder Kritik – und beileibe nicht nur die kritischer Staatsalternativler – gemeint ist, erhält auch die Vergangenheitsbewältigung ihre neuen, alten Züge. Wenn man sich nicht von der Geschichte lossagen will, dann muß man endlich auch die alten Geschichten vergessen = vergeben:

„… wer an das innere Gefüge des Landes denkt, an die nicht aufzukündigende Solidarität zwischen den Generationen, der muß auch darauf achten, daß nicht vor lauter »heilen» Präsidenten des Bundes und der Länder die Vergangenheit weggeschoben wird. Es hat eben ein Unheiles Leben im totalitären System gegeben, es gibt dies nebenan noch immer. Nur die Wahrheit macht frei, nicht die Verdrängung.“ (derselbe)

Solche Solidarität öffnet dann endlich auch wieder den Blick dafür, wieweit die außenpolitischen Angriffe der vorläufig noch gelassen hinzunehmende Preis nationaler Stärke sind:

„Mitunter drängt sich der Eindruck auf, daß die Unfähigkeit, die eigene Geschichte zu »bewältigen«, immerzu den Zeigefinger auf die Deutschen lenkt, die, statt sich vor Bußfertigkeit im Staub zu wälzen, schon wieder so empörend stark geworden sind. In der Tat kann es kein erhebendes Gefühl sein, die Schuldigen von Gestern, unsympathisch ohnehin, um Milliardenkredite anpumpen zu müssen ...“ (derselbe)


Wider die Verjährung der Reichskristallnacht!

Die zur Einhaltung des geistigen Generationenvertrags aufgerufenen Linken läßt der Vorwurf, sich aus der Volksgemeinschaft zu schleichen, nicht ruhen. Angesichts der ideologischen Aufrüstung der wehrhaften Demokratie fällt ihnen wie immer die Demokratie ein, die es vor den sie unterwühlenden Faschisten zu retten gelte. Auch das hat Tradition. Die Geschichte der Arbeiterbewegung, aus deren Erbschaft sie sich ansonsten unermüdlich wechselseitig und die SPD alle gemeinsam ausschließen (was die Geschichte weder erklärt noch juckt), war bekanntlich schon immer eine des Antifaschismus. Ein Datum mit 0 am Ende und einer 4 davor, an dem die nationalen Größen pflichtgemäß ihren Antifaschismus und Willen zur funktionierenden Demokratie durch ein einig Volk von Staatsdienern mit Kränzen, schwarz-rotgoldenen Schärpen und -Sprüchen zur Schau stellen, lassen sich auch als Kommunisten verteufelte fortschrittliche und sonstige Burschen nicht entgehen. Mit leichten Korrekturen an der gefeierten Tradition aufrechter antifaschistischer Kämpfer – Korrekturen, die zum Feiern bekanntlich dazugehören – reiht man sich halbwegs geschlossen als Staatssaubermänner in den Demokratiefeierzirkus ein und bewältigt die Vergangenheit noch gründlicher als die etablierten Vergangenheitsbewältiger. In einer Zeit, in der „mehr und mehr auch engagierte Demokraten, die seit Jahren beamtet sind, aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden“, entlarvt man die Herrschenden nämlich damit, daß man ihnen die Duldung neonazistischer Umtriebe vorwirft, die „Aufklärung“ über den „faschistischen Ungeist“ und „entfesselte (!) SA- und SS- Einheiten“ (als ob es um die ginge!) ernst nimmt und den Demokraten, die den Faschismus überflüssig machen, weil sie ihn demokratisch praktizieren, vorführt, wie ein antifaschistischer Feiertag wirklich national-demokratisch gefeiert gehört:

„Die Lehren aus der Naziherrschaft beherzigen“ (MSB) heißt: „Schweigemarsch zum Fritz-Schröder-Ufer“, „Landesweiter Schweigemarsch“ (MSB u.a.); heißt: „Am 40. Jahrestag der »Reichskristallnacht«“ („die richtiger »Reichpogromnacht« genannt werden sollte“) „müssen die Demokraten in diesem Lande deutlich machen, daß sie entschlossen sind, gemeinsam die neonazistischen Tendenzen zu stoppen. Unser Volk ist besonders an diesem Tage aufgerufen, seiner Absage an jedes Wiederaufleben des Nazismus Ausdruck zu verleihen. Wir müssen eine Kampagne führen, um den Menschen in unserem Land, besonders den Jugendlichen, die Wahrheit über die faschistische Vergangenheit und die faschistischen Gefahren in der Gegenwart zu vermitteln. Wir fordern von den Behörden für den 9. November die Halbmastbeflaggung aller öffentlichen Gebäude. Wir rufen zu Kranzniederlegungen an den Synagogen und Gedenkstätten für die Opfer des Faschismus auf. Wir fordern anläßlich dieses Jahrestages von Regierung und Behörden die Auflösung aller nazistischen Organisationen entsprechend Artikel 139 des Grundgesetzes ... Wir wenden uns gegen Verschleppung von Prozessen und die vorgesehene Verjährung von Naziverbrechen ...“ (Aufruf zu einer antifaschistischen Woche, getragen von u.a. VVN, SHB, MSB, Jusos, SB, Rheinische Zeitung etc.)

Die solchermaßen zu den richtigen Berufsverboten Aufgerufenen werden auch noch in Schutz genommen, indem man versichert, daß sie nicht gemeint sind, wie überhaupt die Situation in der BRD (die man auch unter Linken wieder ausschreibt!) „mit der von 1933 in keiner Weise vergleichbar“ ist.

„Keine Faschisierung, aber: Aufmerksamkeit ist geboten!“


Rückversicherung für eine nationale Zukunft

Wenn man sich allerdings weniger mit der bangen Frage beschäftigt, ob unsere Demokratie (schon wieder) bedroht ist, und sich statt dessen fragt, was uns von Seiten unserer Demokratie droht, vergeht einem der Spaß an den Blüten aufrechter Antifaschisten. Der Witz an der Geschichte vom Volk mit dem »wiedererwachten« Geschichtsbewußtsein (das bekanntlich weniger das Volk als seine politischen und geistigen Repräsentanten haben = repräsentieren) ist ja gerade das staatlicherseits wieder unmißverständlich und ohne Umschweife geäußerte Verlangen, an den Bestand der Demokratie statt an den eigenen Bestand in ihr zu denken. Mit ihrer wachsenden Reiselust in die Vergangenheit und ihrer Manie, die Reiseerlebnisse unbedingt öffentlich an den Mann zu bringen, bemühen sich die Politiker nach Kräften, den Begriff Interesse – soweit er nicht das Adjektiv national trägt – aus der politischen Diskussion zu verbannen. Die geschichtsträchtige Einschwörung auf „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ist der Schlager, und zwar mit Betonung auf der ersten Note, die durch die zweite und dritte verstärkt wird. Daß in Zeiten redlichen Arbeitens, stürmischen Geschäfts und zügigen Voranschreitens auf den internationalen Märkten auch die dazugehörige Strophe „Deutschland, Deutschland über alles“ wieder unüberhörbar mitklingt, dafür sorgen diejenigen, die mit dem Blick in die Vergangenheit für die Zukunft sorgen wollen. Denn mit den viel beschworenen Grenzen des grenzenlosen Wachstums könnte sich nur allzubald die Frage stellen, wo denn nun Deutschlands Grenzen eigentlich liegen. Darauf muß das Volk beizeiten eingestellt werden, denn auch politische Versäumnisse haben ihre Tradition. Wenn die unablässig verbreiteten nationalen Feiertagsgedanken des einfachen, also geschichtlich ungebildeten Mannes Herzensanliegen auch nicht sind; zugänglich ist er ihnen durchaus, wenn sie nur in seine Sprache übersetzt werden. Daß auch dafür gesorgt ist, zeigt jeder noch so flüchtige Blick in die Gewerkschafts- und Boulevardpresse.

 

aus: MSZ 26 – Dezember 1978

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