Steuerreform:

Klassengeschenke


Nach der Sommerpause hat der Bundestag das von der sozialliberalen Koalition vorgelegte Steuerpaket verabschiedet. Die Opposition hat diesem Gesetzeswerk ihre Zustimmung versagt, obwohl sie mit seiner Intention durchaus übereinstimmte: es ging ihr nicht weit genug. So ist diese Steuerreform, wie noch jede vor ihr, der Auftakt einer Diskussion über die nächste Reform der Steuereintreibung, in die wohl demnächst eine eigene Steuerpartei eingreifen wird.


Gerechtigkeit durch Ungerechtigkeit

Was auch immer man unter Fluch und Segen der Steuer sich vorstellen mag – zur Zeit ist von demjenigen, der sie zu seinem und der Volkswirtschaft Segen, begleitet von vielfältigen Flüchen, einzieht, eindeutig festgelegt, daß sie dem Wirtschaftswachstum zu dienen hat:

„Wer der Steuerpolitik das Wort redet, der muß sie ausdrücklich als Wachstumspolitik deklarieren.“ („Süddeutsche Zeitung“)

Zwar läßt schon die Notwendigkeit der Deklaration erahnen, daß so selbstverständlich der Gedankengang – Abzug vom Reichtum der Wirtschaftssubjekte fördert jenen – nicht ist, aber ein nationalökonomisch geschulter Menschenverstand, den noch jeder Journalist stellvertretend für seine Leser und in deren Auftrag hat, kriegt ihn angesichts historischer Sachzwänge leicht hin.

Zieht der Staat seinen Bürgern das Geld aus der Tasche, so ist das – wie die vielen Klagen zeigen – immer ungerecht, nimmt er ihnen doch einen Teil des sauer Verdienten ab, ohne die geringste Gewähr, ihnen entsprechende Gegenleistung zukommen zu lassen. So wird dann andauernd mit ihm über das Verhältnis von Zahlung und Leistung gerechtet – gerade weil der Bürger aber die ganze Zeit nur dieses Verhältnis im Kopf hat, kommt er nie darauf, nun einfach mal den Grund für sein Jammern über die Ungerechtigkeit zu beseitigen. Womit auch klar ist, daß im Prinzip die Steuer die gerechteste Sache der Welt ist, da sie Ungerechtigkeit an jedem Bürger verübt, jeder Bürger auf die gleiche Weise staatstragend unzufrieden ist. Also ist jeder Bürger zwar steuerverdrossen, hinterzieht, nutzt alle Ecken und Winkel des Steuerrechts – eine, wie der Beruf des Steuerberaters zeigt, allseits anerkannte Listigkeit –,

„Diese Diskrepanz wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß die Steuerpflichtigen ein breites Spektrum von Möglichkeiten besitzen, um sich auf legale oder illegale Weise dem Anwachsen des Steuerdrucks zu entziehen“ („Wirtschaftsdienst“ 77/10, 515),

aber nicht im Traum denkt er daran, die steuereinziehende Instanz selbst beseitigen zu wollen. Im Gegenteil: er macht sich ganz entschieden die Sorge, ob sein Staat – abgesehen davon, daß er ihm zuviel abknöpft – nicht zu viel herschenke und nicht zu wenig habe.


Schröpfen fürs Wachstum

Es ist ja nun auch nicht zu befürchten, daß die Staatsmänner bei der ganzen Steuereinzieherei an ihren Luxus denken (da unterscheiden sie sich doch von den absoluten Herrschern); im Gegenteil, es geht ihnen nicht nur darum, das viele Geld ganz fürs Wachstum zu verwenden, sie zerbrechen sich sogar – weil die bisherige Verwendung während vergangener Krisenjahre nicht recht fruchten wollte – nun den Kopf, wie sie schon beim Kassieren den sehnlichst erwünschten Effekt in Gang setzen können. Dabei ist der Staat bereit, auch mal ein vorübergehendes Defizitchen in Kauf zu nehmen, hat er doch den berechtigten Hintergedanken, daß dieses die segensreiche Wirkung habe, sich in künftige Einnahmevermehrung zu verwandeln. Beim Kassieren nun fällt ihm schon an der simplen Erscheinung, daß er Geld aus sehr verschiedenen und sehr unterschiedlich großen Geldbeuteln herausholt, auf, daß er es mit zwei Sorten von Bürgern zu tun hat. Mit einem Teil von ihnen kann er wenig wachstumförderndes anfangen: egal ob er ihnen die Steuer läßt oder ihnen mehr abknöpft – Wachstum will dabei nicht herauskommen. Haben sie nämlich mehr Geld, so verprassen sie es einfach oder sparen im wirtschaftlich ungünstigen Zeitpunkt, haben sie weniger, so kommen sie eben mit weniger aus.

Gottseidank gibt es eine unternehmenslustige Sorte von Staatsbürgern, bei denen ein Steuergeschenk tatsächlich eine wachstumsfördernde Wirkung haben kann. Gefällt es nämlich den Kapitalisten, mit den ihnen überlassenen Geldern Investitionen zu veranstalten, so können dabei zwar etliche Arbeitsplätze draufgehen, wer kann jedoch leugnen, daß eben diese Investitionen das Wachstum wie auch den Staatshaushalt voranbringen?

Allerdings sind es eigenwillige Gesellen, die Kapitalisten. Während der Staat ans Wohl der Volkswirtschaft denkt und sie dafür als Zugpferde einspannen will, wissen sie sehr wohl, nicht nur daß sie die Zugpferde (ungewöhnliche, da ausgeruht und gut im Futter stehend) sind, sondern auch, daß ihnen keiner was kann, wenn sie nicht wollen. Und sie wollen nur, wenn es sich für sie lohnt. Das dumme Gerede vom Zurückstehen vor den Notwendigkeiten des Ganzen sich anzuhören, haben sie nicht nötig, sind sie doch der Teil, der dem Ganzen diktiert, was zu tun ist – und sei es nur, indem sie mal etwas einfach unterlassen, die Investitionen nämlich. In jedem Krisenjahr also dasselbe Schauspiel: wie kriegt man die Kapitalisten dazu, die reichlich fließenden Steuerzuwendungen nicht einfach nur als Aufbesserung ihres Einkommens einzustecken oder für längst fällige Reparaturen u.ä. zu verwenden? So stopft der Staat ihnen nun schon seit Jahren und bei größter angeblicher Mittelknappheit die Milliarden in den Hintern – und sie wollen keine Investitionen auskotzen.

So ein Staatsmann mag dabei zu nächtlicher Stunde obendrein noch das Problem kriegen, daß nicht nur er weiß, daß die Milliarden nicht von denen kommen, die sie kriegen – so einen Blödsinn kennt unsere rationale Wirtschaftsordnung nicht! –, daß hier also eine systematische Umverteilung stattfindet und daß dies auch mal in die Köpfe der Milliardenaufbringer vordringen könnte, obwohl und gerade weil sie nichts Sinnvolles produzieren, zum anderen stellt sich ihm laufend das Problem weiterer Staatsverschuldung, also Anheizung der Inflation durch Staatsanleihen. Letzteres freilich eine geringere Beunruhigung, da diese Möglichkeit nicht überstrapaziert zu werden braucht, solange der Opferwillen der unproduktiven Mitbürger derart strapazierfähig ist.


Steuerreform: Eine umständliche Art der Steuererhöhung ...

Dies alles erwägend, waren sich Öffentlichkeit, Parteien und Regierung mal wieder einig, daß jetzt nur noch eine Steuerreform helfen konnte. Die schlägt genug Fliegen mit einer Klappe:

1. bekommt der Kapitalist noch mehr hineingestopft als zuvor, was die einzig rationale Möglichkeit ist, ihn bei investitionsfreundlicher Laune zu halten, und die ganzen umständlichen Verfahren wie Abschreibungserleichterungen, Investitionsprämien etc. belasten nur sein einfaches Gemüt, das ihm klipp und klar sagt: ich brauch jetzt viel Geld, erst dann denk ich darüber nach, ob ich vielleicht was riskiere! Und nicht nur die ganzen Umständlichkeiten und Unwägbarkeiten werden ihm erspart, sondern auch seinem Bedürfnis nach langfristiger Sicherheit und Planbarkeit – welches bei diesem rationalen Wirtschaftstyp so viel höher entwickelt ist – mit eben dieser Reform Rechnung getragen, ist sie doch die offizielle Erklärung, daß die nun beschlossenen Maßnahmen etliche Zeit anhalten und auch nur schwer rückgängig zu machen sein werden, falls das mal wirklich ein Unvernünftling fordern sollte. Seine bisherige Kalkulation, daß sich das Geldanlegen auf der Bank mehr lohnen könnte als die Investition im Betrieb, kann nur durch die ganz einfache Rücknahme der Besteuerung des Gewinns korrigiert werden.

„Wenn er also jetzt feststellt, daß immer weniger Investitionen eine so hohe Rendite abwerfen, daß sie überhaupt mit anderen Anlageformen konkurrieren können (die Qual der Wahl hat er, der Arme), dann muß(!) die Investitionsbereitschaft zurückgehen.“ („Wirtschaftsdienst“ 3/78,129)

2. hat so eine Reform immer einen besänftigenden Einfluß auf die Massen, die sich fragen könnten, wo denn das viele Geld herkommt, das ihnen immer fehlt.

3. und deswegen ist die Reform gut fürs Image der Parteien, was man ihnen allerdings als Schwäche vorwerfen muß, dieses Schielen nach dem Volksirrtum, es ginge einem besser, wenn man mehr hat:

„Für eine Politik, die noch einmal die Ärmel für die nächste Phase des Wachstums aufkrempeln will, ist die Reform wahrscheinlich vergleichsweise entbehrlich. Sie wird aber in einem Paket mit Sicherheit zu finden sein, weil soziale Ausgewogenheit zum unausrottbaren (!) Markenzeichen (!) der Steuerpolitik aller Parteien geworden ist.“ („SZ“ vor der großen Reform)

Der besorgte Journalist hätte nur auf seine eigenen Worte besser achten müssen („soziale Ausgewogenheit“ ist für die Parteien eine Frage des „Markenzeichens“), dann hätte er schon damals gewußt, was mittlerweile als allgemeine Zufriedenheit herrscht: die Reform ist gelungen, die drei obigen Punkte sind vollständigst erfüllt, ohne daß angesprochenem unausrottbaren Volksirrtum auch nur um ein Märkchen hätte nachgegeben werden müssen.

Dies konnte natürlich nur geschehen unter striktester Einhaltung staatlicher Ausgewogenheit, dem Urgeheimnis aller Steuerreform: die Steuer wird gesenkt, die Steuer wird erhöht, welch umständliches Verfahren Reform heißt, weil sonst die Steuer einfach nur so erhöht wird.


„Als Begründung für eine solche Umschichtung der Steuerbelastung von den direkten zu den indirekten Abgaben wird die notwendige Verbesserung der Steuerstruktur angegeben (ein aus der Wissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenleben bekannter Gedankengang: eine bessere Verteilung der Belastungen führt zu einer besseren Struktur). Wenn auf diese Weise die wirtschaftlichen Aktivitäten angereizt werden sollen, dann könnte man nur an eine bemerkenswerte Entlastung der Unternehmer denken,“ („Wirtschaftsdienst“)

Konkret: ein paar Steuern, die der Normalmensch schon seiner dünnen Lohntüte ansieht, werden gesenkt, differenziert freilich, Progression hin und her, Kinderfreibetrag (hier hat die Opposition ihre wesentliche und publikumswirksame Kritik, wobei es ihr allerdings nicht auf die Armut der Familien ankommt, sondern auf deren Kinderarmut) und aus Gründen der Gerechtigkeit (versteht sich) auch ein paar, die einen Kapitalisten bedrücken (die sogenannten ertragsabhängigen) – und zugleich die Mehrwertsteuer um einen lächerlichen Punkt erhöht.


... zur Weckung von Erwartungsmaßnahmen

Die Unverschämtheit bei dieser Umschichtung der Belastungen beruht darauf, daß der Roßtäuschertrick denen, die ihn von Berufs wegen durchschauen, nicht schadet, sondern – weil er alle anderen aufs Kreuz legt – nur nutzt. Dankbar notiert der deutsche Arbeiter, daß seine Parteien sich kräftig Mühe um ihn gegeben haben und sich dabei sogar stritten und gibt seiner Dankbarkeit tatsächlich noch dadurch Ausdruck, daß er sich das Problem aufschwatzen läßt und eifrig mitdiskutiert, ob denn nun die Verteilung der Steuer nach der Reform zwischen Bund und Ländern (Lohnsummensteuerwegfall etc.) noch angemessen sei, geändert werden müsse, der Infrastruktur schade, etc. etc. Verlockt durch die Propaganda, es müsse ihm doch am Wohl seiner „Kommune“ liegen, sei doch davon auch sein Wohl wesentlich abhängig, zerbricht er sich den Kopf über ein innerstaatliches Problem statt einmal in den Wirtschaftsteil einer Zeitung zu schauen, wo er folgendes lesen könnte:

„John Helmut Keynes (alias Maynard Schmidt) setzte daher auf die Finanzpolitik, die aber in seinem System auch nur bei bestimmten Erwartungsmaßnahmen funktioniert: die Arbeitnehmer müssen von der Geldillusion leben und die Investoren müssen davon ausgehen, daß die (letztlich über einen sinkenden Reallohn bewirkte) Verbesserung der Rentabilität von Dauer ist.“ („SZ“)

So einfach ist das:
Der Arbeiter muß zum einen, solange es ihm um die Gerechtigkeit geht, denken, die Mehrwertsteuer ziehe jedem Bürger gleichermaßen in Mitleidenschaft, was nicht schwierig ist angesichts so vertrackter Begriffe wie Überwälzung, durchlaufender Posten etc., zum anderen muß er die Erwartungsmaßnahme vollziehen, daß er tatsächlich mehr Geld im Beutel hat, also von der Illusion leben, mehr ausgeben zu können, also nicht merken, daß die Waren teurer geworden sind, also mehr kaufen.

„Auch muß bezweifelt werden, daß der Leistungsanreiz für die privaten Einkommensbezieher tatsächlich erhöht wird, wenn das verfügbare Einkommen durch die Steuersenkung nominal ansteigt, aufgrund der Anhebung der Mehrwertsteuer oder einiger anderer Verbrauchssteuern real aber partiell wieder sinkt. Und die angebliche Unmerklichkeit der indirekten Besteuerung dürfte als Begründung in einer aufgeklärten Gesellschaft ja wohl nicht mehr ernsthaft vertreten werden.“ („Wirtschaftsdienst“ 7/78, 323)

Nicht nur, daß hier die Hinterfotzigkeit der Reform so nebenbei ausgesprochen wird, ist das witzige, sondern daß die unverschämte Spekulation mit der „Unaufgeklärtheit“ einer gewissen Bevölkerungsschicht sich hier die herablassende Form des So-dumm-seid-ihr-doch-gar-nicht-mehr gibt. Eine Spekulation, die darum so offen erörtert werden darf, weil die Leute der Illusion ja nachgeben müssen: ist der Lohn lange genug gesenkt worden, so daß man allmählich Schwierigkeiten kriegt, sich das Notwendigste zu kaufen, so genügt die Anschauung des angeblich dickeren Geldbeutels allemal, um der Versuchung nachzugeben, ist doch der gestiegene Warenpreis im Verhältnis zur größeren Zahl auf der Lohntüte tatsächlich zunächst mal „unmerklich“ – insbesondere, wenn man ihn nicht merken darf, könnte man sonst über sein Leben verzweifeln.


Ein schöner Nebeneffekt

Diese psychologisch erzwungene Nachfragesteigerung – sei sie auch gering – hat dann den schönen Nebeneffekt, daß die Kapitalisten zur Zeit nicht nur auf den Aufwandskonten eine „bemerkenswerte Entlastung“ spüren, sondern – infolge des ertricksten Nachfragezuwachses – auch auf der Einnahmenseite eine Besserung spüren, was sie dann vielleicht zu dem Glauben verleitet, die „Verbesserung der Rentabilität“ sei „von Dauer“. Ein kleiner Trick, den sie ihrem Staat sicher verzeihen werden, wissen sie doch sehr wohl, daß diese Sorte von Psychologie nur diejenigen leimt, die es auch ohne Psychiater schaffen, sich fertigzumachen und machen zu lassen. Erstere hingegen bleiben ihrem einfachen wirtschaftspsychologischen Grundsatz treu, auch wenn Helmut sich die Zähne daran ausbeißt.

 

aus: MSZ 25 – Oktober 1978

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