Große oder kleine Steuerreform? Ein Jahrhunderte-Werk Die permanente Reform – Von „Schmiertopf-Schmalz“ zur Steuerreformkommission
Die Öffentlichkeit aber reagiert sauer: „Steuerreform – das Windei des Jahres“, „Unterm Strich bleibt weniger“, „Viele finden jetzt weniger in der Lohntüte“, so klagt man; der Bund der Steuerzahler bemängelt außerdem, daß die Steuer noch komplizierter geworden sei, und der Bund der Steuerbeamten befürchtet sogar, „daß es wegen der Steuerreform bei den Finanzämtern zu Handgreiflichkeiten kommt.“ Hier vollzieht sich ein Prozeß, der dem Bundesbürger nun schon seit eh und je vorexerziert wird: die große Steuerreform, Bestandteil noch jeder Regierungserklärung, verwandelt sich bei ihrer Realisierung in die Veränderung verschiedenster Einzelsteuern. Jeweils stehen für die „Steuerneugestaltung aus einem Guß“ die Einführung von Freibeträgen (1953), die Senkung der Steuersätze (1964), die Vermögensbildung (1965) oder auch die Umwandlung der Umsatz- in die Mehrwertsteuer (1968). Aus jeder großen wurde noch immer die kleine Steuerreform. So auch dieses Mal: „Die echte Steuerreform ist mit diesem Kompromiß jedoch nicht verwirklicht.“ (Alle Zitate aus Parteiprogrammen). Aber immerhin – so behaupten alle – sei ein wesentlicher Schritt in Richtung Gerechtigkeit der Besteuerung getan. Dahingestellt, was dies sein soll – in Zahlen ausgedrückt nimmt sich die Gerechtigkeit recht mickrig aus: Ein unverheirateter Arbeiter zum Beispiel mit einem steuerpflichtigen Jahreseinkommen von 10 000,- DM zahlt nach der Reform ganze 72,- DM (i. W. zweiundsiebzig) weniger Einkommensteuer pro Jahr. Das Getöse um die Reform berührt ihn also herzlich wenig. Die 72,-DM Minderbelastung gleichen nicht mal den Inflationsverlust des laufenden Jahres aus. Umgekehrt geht es bei der Mehrbelastung der Reichen ebenfalls nicht um nennenswerte Beträge im Verhältnis zu ihrem Einkommen. (Vgl. Bulletin der Bundesregierung Nr. 90, S. 929 ff.). Ausgeglichen wird diese Mehrbelastung noch durch das Kindergeld, das ab sofort einkommensunabhängig bezahlt wird mit der sinnigen Begründung: „Das neue System gewährleistet eine gleichmäßige Entlastung aller Eltern und entspricht damit dem Postulat der Chancengleichheit der Kinder.“ (Bulletin, S. 900) Bei der letzten Reform des Kindergeldes wurde mit dem gleichen Anspruch auf Gerechtigkeit genau umgekehrt argumentiert! Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen (vgl. Spiegel-Artikel zur Steuerreform in Nr. 47/74). Die Paradoxie, eine Reform des Steuersystems nach einheitlichen Grundsätzen anzugehen, nach deren Großankündigung wieder lediglich einige Richtsätze und Freibeträge umzuändern und schließlich nach Verabschiedung solchen Stückwerks resigniert festzustellen, daß es den einmal aufgestellten Grundsätzen nicht entspricht, wird also die Gemüter von Regierenden und Parteien noch länger erregen. Die Reform der Kfz.- und Körperschaftssteuer, ebenfalls schon in einer Liste von 1962 zu entdecken, steht für 1977 aus; ebenso wie das System von Sonderbegünstigungen bei der Lohnsteuer – Resultat von Gerechtigkeitsüberlegungen – wegen seiner Unübersichtlichkeit auf eine Reform wartet, da es nur einer Berufsgruppe Vorteile bringt: den Steuerberatern!
Der parlamentarischen Prozedur und dem Streit der Parteien ist das Bemühen vorausgegangen, objektive Kriterien für die große Steuerreform herstellen zu lassen. Zur „Vorbereitung einer umfassenden Steuerreform“ (Steuerreformgutachten 1971) war noch zu Zeiten der Großen Koalition eine wissenschaftliche Kommission eingesetzt worden mit dem Auftrag, den „Grundsatz der Gleichmäßigkeit und sozialen Gerechtigkeit der Besteuerung“ mit einem modernen, vereinfachten Steuerrecht zu verbinden und dabei das Volumen der Steuereinnahmen nicht zu verändern. Ihre Distanz zum lästigen Parteien- und Verbandsgezänke und damit wohl ihre grundsätzliche Befähigung zur Behebung der „ungerechten Lastverteilung“ und der „Schaffung einer wohlüberlegten, abgestimmten Ordnung“ bringt diese selbst stolz zum Ausdruck: „Kein Mitglied der Kommission war jedoch in diese als Vertreter einer bestimmten Interessentengruppe oder etwa als Vertreter einer bestimmten politischen Richtung berufen worden, sondern ausschließlich für seine Person.“ So kann sie sich souverän über die Klagen in der Öffentlichkeit hinwegsetzen und versichern, daß es beim Problem der gerechten Steuerreform keinesfalls auf die vom Steuerzahler subjektiv empfundene Ungerechtigkeit der Steuerverteilung ankommen dürfe, daß die „Diskussion um eine Verbesserung des Steuersystems. .. nicht abreißen (wird), da Steuern als Zwangsabgaben immer auf den Widerstand der Steuerpflichtigen stoßen. Es wird stets einzelne Personen oder Gruppen geben, die sich ungerecht behandelt fühlen.“ Sie rezipiert daher noch einmal ausführlich die „allgemeinen Besteuerungsgrundsätze“, denn diese können „Maßstäbe setzen, an denen die Mängel des bisherigen Systems und der Einzelsteuerarten ermittelt werden (können).“
Die erste Formel der Gerechtigkeit heißt Äquivalenzprinzip. Nach ihm soll der Bürger entsprechend der von ihm empfangenen Staatsleistungen bestimmte Steuern entrichten, ganz wie das Befahren einer Mautstraße nur nach Entrichtung einer Gebühr zur Erhaltung der Straße erlaubt ist. Die Überlegungen sind nicht neu. Schon vor 150 Jahren beschrieb „der alte Demagogenriecher und königlichpreußische Geheimrat“ (Marx, TüM 1/38) Schmalz dies Prinzip des do ut des: „So soll jeder durch die Steuer doch nur den Schutz und die Anstrengungen vergelten, die er vom Staat empfangen hat.“ (Schmalz, Enzyklopädie der Cameralwissenschaften, 1823) Und auch heute noch gibt es diese Vorstellungen von gerechter Steuerverteilung. Von Kraftfahrern wird zur Unterstützung ihrer Forderung nach mehr Straßenbau auf die Kraftfahrzeugsteuer verwiesen, während sich umgekehrt z. B. Zigarettenraucher meinen dagegen verwahren zu müssen, aus ihrem Steueraufkommen Rehabilitationsanstalten für Alkoholsüchtige zu finanzieren. Solchen beliebten Argumentationsmustern des Bürgers hat der Gesetzgeber bis auf geringe Ausnahmen, die eine Zweckbindung von bestimmten Steuern zulassen, einen Riegel vorgeschoben. Generell die Höhe der einzelnen Staatsausgaben von der Höhe jeweils spezifischer Steuern abhängig zu machen – und wieviele verschiedene Steuern müßte da nicht der Staat erheben – wäre ja ebenso unsinnig, wie der Versuch, die Belastung des Staates durch den einzelnen genau zu messen. Zwar will man den Grundsatz nicht einfach fallenlassen: Bei der Rechtfertigung der Gewerbesteuer habe man beispielsweise die Höhe des Steueraufkommens in Relation zu setzen zu den Kosten, die die Betriebe den Kommunen verursachen. Solchen Vergleich allerdings zum Prinzip zu erheben, hält die Kommission für ungerecht. Und auch der alte Schmalz wußte schon von der Unmöglichkeit solchen Vergleichens: „Nun hat aber der Reiche nicht mehr Schutz vom Staate, als der Arme; der Wächter bewacht mit nicht geringerer Mühe die Hütte, wie den Palast, und dem Richter ist gar oft ein Urteil über 20 Taler mühsamer, als ein anderes über 10 000.“ Spätestens hier wird klar, daß der Äquivalenzgrundsatz die unterschiedliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen völlig außer acht läßt. Man stelle sich nur vor, die Arbeitslosen sollten für die Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld entsprechend Steuern zahlen. Allgemeine Steuergerechtigkeit kann nach Aussage der Kommission so nicht erreicht werden; dies liegt nach ihrer Meinung schon daran, daß man „heute“ das Verhältnis Staat – Bürger anders begreift. „Die Besteuerung wird heute nicht mehr als ein Tauschvorgang zwischen Staat und Staatsbürger aufgefaßt, sondern als Zwangslast angesehen, die der einzelne Staatsbürger im Interesse der staatlichen Gemeinschaft, der er angehört, zu tragen hat.“ (30)
Die Kommission kann also getrost das Äquivalenzprinzip an den Nagel hängen, und sich dem zuwenden, was „heute“ als Grundlage der Entscheidung über gerechte Verteilung der Zwangsabgaben gilt: „Die Steuergerechtigkeit wird heute als Allgemeinheit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung in dem Sinne interpretiert, daß es keine Privilegien geben darf und daß jeder Steuerpflichtige entsprechend seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit … herangezogen werden soll.“ (30) Auffällig, daß man sich hier zur „Leistungsgerechtigkeit“ von vornherein nur als heute üblichem „Interpretationsmuster“ äußern will. Freilich scheint dieses Prinzip zunächst einiges für sich zu haben. Denn wenn schon die Steuer als Zwangslast empfunden wird, weil sie eine Einschränkung des individuellen Nutzens zum Nutzen aller ist, dann sollen natürlich auch alle unterschiedlichen Einkommen gleich belastet werden. Soll der Staat der unterschiedlichen Einkommenssituation des Einzelnen gerecht werden, alle gerecht, d. h. gleich besteuern, steht er auch schon vor einem neuen Problem. Denn was heißt gleiche Belastung aller Einkommen? Damit alle gleich hart belastet werden, muß er den Einzelnen je nach Einkommen unterschiedlich veranschlagen. Doch darin steckt eben der Haken. Jeder simple Vergleich zwischen einem Großverdiener und einem Normalverdiener beweist sofort, daß die Steuerhebung Auswirkungen auf die Einkommensverteilung hat, die den scheinbar einfachen Grundgedanken gleicher Steuerbelastung komplizieren. So kann der Staat die Steuer nicht nur prozentual berechnen, sondern muß die unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten, die mit den verschieden hohen Einkommen erzielt werden können, berücksichtigen: Betrachtet man nämlich die praktische Verwendung der Gelder, und stellt sich vor, der Großverdiener würde monatlich ein paar Tausender sparen oder anderweitig „produktiv verwenden“, was dem knapp kalkulierenden 900-DMärkler natürlich unmöglich ist, so merkt man schnell, daß prozentual gleiche Besteuerung zur Vergrößerung der Einkommensunterschiede führen muß. Umgekehrt würde aber eine totale Wegsteuerung der mit den Tausendern erzielten Gewinne den Reicheren ganz auf das Niveau des 900-DM-Besitzers zurückwerfen, da ihm seine zusätzlichen Tausender nichts einbringen. Reflektiert man die verschiedenen Einkommen auf den unterschiedlichen Nutzen, den sie bringen, ergibt sich aus dem Grundsatz leistungsgerechter Besteuerung das Prinzip der progressiven Steuer: „ ... daß eine Besteuerung der Einkommen nicht proportional, sondern progressiv sein muß, da der Bezieher eines hohen Einkommens ein relativ gleiches Opfer wie ein kleiner Einkommensempfänger erst dann erbringt, wenn er einen größeren Teil seines Einkommens abgeben muß.“ Doch welche Progression setzt man an? Nach unten und oben hin scheint die Grenze klar: der Staat darf weder die Existenzsicherung des Kleinverdieners gefährden, noch dem Großverdiener allen Nutzen aus seinen zusätzlichen Tausendern wegsteuern. Beides hätte, abgesehen von der Ungerechtigkeit gegenüber diesen Eigentümern, auch noch katastrophale wirtschaftliche Folgen, würde doch die Leistung bestraft und daher keiner mehr einen Finger krumm machen, was freilich auch schon bei geringeren Steuersätzen befürchtet wird. Von der Progression hängt nun alles ab: bestimmt sie doch die Auswirkung der Steuer auf die Einkommensverteilung und damit auf den Nutzen. Auch die Kommission gesteht die reale Umverteilungswirkung jedes Steuersystems zu, obwohl „hinsichtlich der Verteilungsgesichtspunkte … die Empfehlungen von der Leitlinie geprägt (waren), die Besteuerung nicht primär als Instrument nachträglicher Korrektur der Verteilung auszubilden.“ Eine hohe Progression benachteiligt die Großverdiener, „bestraft Gewinn“, was dann wiederum die Wirtschaft und damit auch – wie schon Schmalz wußte – den kleinen Mann trifft: „Unsere Steuern, den Reichen allein oder in größerem Maße auferlegt, drücken doch immer am Ende den Armen, weil der Arme dann weniger vom Reichen verdient.“ Die Steuer erweist sich zunehmend als vertrackte Angelegenheit. Mehr und mehr wird klar, daß eine gerechte Besteuerung am Prinzip der Steuer selber scheitert: Unterstellt sie doch einerseits die Berechtigung des individuellen Nutzens aus dem jeweiligen Eigentum, beschneidet aber andererseits diesen zum Zwecke des Allgemeinwohls und verändert damit die Voraussetzungen des einzelnen im Wirtschaftsgeschehen. In der Phrase von der „wettbewerbsneutralen Steuer“ kommt der Widerspruch zum Ausdruck, daß sich das Ideal der Gerechtigkeit in das unerreichbare Ziel einer Nichtveränderung der Konkurrenzbedingungen gewandelt hat. Die prinzipielle Ungleichheit der Einkommen ist der Debatte um die Gerechtigkeit der Besteuerung also vorausgesetzt, sie ist Anlaß und Resultat jeder Reform. So steht schon hier fest: Wie's der Staat macht, so ist's verkehrt. Oder, mit den Worten des „Schmalzschmiertopfes“ (Marx, TüM 1/173): „Alle Abgaben sind für den Untertan ein unleugbares Übel.“
Sie schlägt nun vor: „Die subjektiv empfundene Nutzeneinbuße sollte... bei allen Einkommensbeziehern gleich sein, so daß trotz der ungleichen relativen Nominalbelastung das Niveau der möglichen relativen Bedürfnisbefriedigung sich nicht verschoben hat.“ Hiermit allerdings ist ihr eine vollkommene Verdrehung des ursprünglichen Ansatzes gelungen! Wurde zunächst das „heutige“ Prinzip mit dem Zwangscharakter von Steuern begründet, so verlegt die Diskussion um die Leistungsfähigkeit die Höhe des Steueraufkommens in die Opferbereitschaft des Bürgers. Aus dem Vertragsverhältnis, das die Beziehung von Staat und steuerzahlenden Bürgern nicht charakterisieren konnte, wird gerade durch die Behauptung der Souveränität des Staates seine ökonomische Existenz in eine Stiftung von Millionen von Spendern umgewandelt. Denn: „Der Steuergesetzgeber kennt die Nutzenfunktion der einzelnen Haushalte nicht.“ Gerechtigkeit bezüglich der Leistungen an den Staat existiert also nur im subjektiven Urteil der Bürger, das die Kommission aber zu Beginn ihrer Überlegungen als objektiven Maßstab abgelehnt hatte. Damit ist der Bogen zurück zum Äquivalenzprinzip geschlagen.
Denn wenn die Gerechtigkeit in die gleiche Höhe der subjektiv empfundenen Nutzeneinbuße verlagert wird, ist man wieder da angelangt, daß man sich nach der Abwägung des Einzelnen richtet, wie er im Vergleich zu anderen seine Steuer mit den vom Staat ihm zugutekommenden Leistungen korreliert. Freilich, das Ergebnis des Vergleichs ist hier ziemlich klar! Denn nun ist man beim bekannten Phänomen des über die Staatsausgaben maulenden Bürgers, der seinen Unmut am ehesten gegen diejenigen richtet, die „er mit seinen Steuergeldern finanziert“, ohne daß sie sich gesellschaftlich nützlich machen: demonstrierende Studenten, Arbeitsscheue, Radikale usw. Wenn es sein Geld ist, das da der Staat ausgibt, so muß der Bürger ihn mit Argusaugen beobachten, ob er auch nicht sein Geld sinnlos verpulvert, bzw. argwöhnisch darauf sehen, wieweit denn die Staatsleistungen ihm selber, bzw. den Maßnahmen, die er für notwendig hält, nützen. Seine Überlegungen kulminieren daher einerseits in der permanenten Klage über staatliche Geldverschwendung, und zu hohe Steuern überhaupt, andererseits in dem Versuch, den eigenen Verlust durch Steuern so niedrig wie möglich zu halten. Die „Opferbereitschaft“ ist also nur die euphemistische Formulierung des staatlichen Steuerzwangs, dessen Reflex am Individuum in Wirklichkeit das gerade Gegenteil ist, Opferunbereitschaft. Der Bürger als Steuerzahler wird zum „Systemgegner“ – jeder empfindet die Steuer als zu hoch – motzt und versucht den Staat zu bescheißen. Steuerberater, jährliche Taschenbücher, die dem Steuerzahler Einsparungsratschläge geben, kennzeichnen die eine Seite des wahren Verhältnisses, auf der anderen steht die Steuerfahndung! Der auf seinen Vorteil bedachte Staatsbürger versucht in dieser Sphäre, seinen Vorteil gegenüber dem Staat herauszuschinden. Auch die Kommission weiß noch von dem wahren Gesicht ihres beschworenen Opfergeistes. Sie gibt selber dem Leistungsfähigkeitsgedanken als objektivem Maßstab, der zum subjektiven Urteil des Bürgers als gerechter Grundlage geführt hatte, den Todesstoß, und zugleich damit dem Gedenken eines einheitlichen Steuersystems überhaupt: Ein einheitliches, gerechtes Steuersystem gefährde praktisch den Zweck der Steuer, denn „eine Beschränkung auf zwei oder drei große Steuern erfordert sehr hohe Steuerquoten, die erhebliche Steuerwiderstände hervorrufen können,“ (33) was nichts anderes heißt, als daß umgekehrt auch der Staat die Bürger bescheißt, in dem er die wahre Steuerhöhe verschleiert. Solche List des Staates, durch hohe Diversifikation der Steuern sein ökonomisches Ziel trotz Bürgerunmuts zu realisieren, kennt wiederum schon der staatstreue Schmalz: „Kaum irgendwo ist man erfinderischer gewesen, als darin, neue Steuern, neue Namen von Steuern, neue Modifikationen von Steuern aufzubringen.“
Die allgemeinen Grundsätze einer Steuerreform haben sich also allesamt als untauglich erwiesen. Doch die Kommission, die beauftragt war, Ratschläge für eine gerechte Steuerreform zu geben, vergißt ihre Verpflichtung gegenüber dem Auftraggeber Staat nicht. Sie schlägt die einheitlichen Grundsätze in den Wind und hält nach reiflicher Überlegung als Grundlage der Steuerreform die Maxime fest: „Eine Steuerreform kann nicht so vollzogen werden, daß an Hand theoretischer Besteuerungsgrundsätze ein völlig neues Steuersystem konstruiert wird. Sie muß vielmehr von dem historisch gewordenen System ausgehen.“ Zwar schafft auch das nicht die Mühe aus der Welt, beim „Ausgehen“ vom historischen Gewordenen noch Kriterien für die Änderungen angeben zu müssen, doch ist zunächst einmal klar, daß die Vielfalt des geschichtlich „Gewachsenen“ nicht über den Leisten theoretischer Vereinheitlichungsprinzipien geschlagen werden kann, daß für jede Steuerart und -höhe sich Für- und Gegenargumente finden lassen. So werden dann etwa die Lohnsteuer mit der ungerechten Verteilung, die Investitionssteuer mit der Konjunktur, die Schanksteuer mit der Alkoholgefahr und die Gewerbesteuer mit dem hohen unverzichtbaren Steueraufkommen oder auch alle mit anderen Argumenten begründet. Die Einheitlichkeit zerrinnt unter der Hand, der Leistungsfähigkeitsgedanke hat keine Objektivität: „Der Staat kann stets nur von einer vermuteten Leistungsfähigkeit ausgehen, deren Bestimmung das Ergebnis von in Polemik umgesetzten Verteilungsideologien (!) ist.“ Die Gerechtigkeit wird zur wirklichkeitsenthobenen Norm, die sich nur in schillernden und jeweils beschränkten historischen Ausgestaltungen als bestimmte Vorstellung greifen läßt: „Gerechtigkeit ist eine allgemein angestrebte oberste. Norm, deren Inhalt sich in den einzelnen Bereichen menschlichen Handelns im Verlauf der Geschichte ändert.“ Und wodurch wird er bestimmt, der Inhalt. – Die Kommission steuert ihrer eigenen Überflüssigmachung zu, denn konsequent schließt sich nun der Kreis: „Vielmehr wird der Inhalt dieser Norm durch Konventionen festgelegt, die auf den politischen Vorstellungen der Mehrheit basieren und die sich mit diesen im historischen Ablauf verändern.“ Elegant ist damit das Problem einer gerechten Steuerreform an die Parteien zurückverwiesen, deren Diskussion die Kommission versachlichen sollte. Sollen doch diese den geschichtlichen Wandel einschätzen und „eine maßvolle Reform“, die die vorausgesetzten wirtschaftlichen Verhältnisse nicht durcheinanderwirft, verabschieden.
Je nach politischer Couleur nehmen diese das Material für sich in Anspruch. Die SPD-Regierungsmehrheit, die die Steuerreform zu einem Kernstück ihres Regierungsprogramms erklärt hatte und mit gerechtem Zorn für eine „gerechtere Verteilung“ der steuerlichen Lasten eingetreten war, weist stolz darauf hin, daß es mit der Reform gelungen sei, „die unteren und mittleren Einkommen zu entlasten. Wer dagegen ein hohes Einkommen bezieht, wird in Zukunft stärker als bisher zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beizutragen haben.“
Und noch mehr. Solche Gerechtigkeit solls geben ohne böse Folgen, indem „weder die Leistungsfähigkeil des Einzelnen noch die der Wirtschaft beeinträchtigt werden.“ (Bundesfinanzminister, Informationen) Die CDU/CSU sieht dagegen ihre Leistung darin, eine Steuerpolitik verhindert zu haben, die „als Hebel zur Veränderung der Gesellschaft hin zur Gleichmacherei dient, zur Bevormundung des einzelnen durch das Kollektiv – unter der Tarnkappe der Gerechtigkeit“ Damit meint die Opposition erreicht zu haben, „daß sich Leistung immer noch lohnt“. Auch die FDP nimmt die Steuerreform als ihr Werk in Anspruch. Sie sei es gewesen, die in der sozialliberalen Koalition sichergestellt habe, daß es „konfiskatorische Steuern nicht geben wird, Leistung nicht bestraft werden wird.“ (F.D.P.-Argumente zur Steuerpolitik) Im Streit darum, wer in welcher Höhe welche Steuern zu entrichten hat, halten die Parteien am Kompromißergebnis mit unterschiedlicher Akzentuierung Gesichtspunkte fest, für die es, wie wir gesehen haben, in der bürgerlichen Gesellschaft kein Maß gibt. Die Parteien versuchen mit wohlklingenden Komparativen zwischen dem Interesse der Bürger am Nutzen ihres Einkommens und der Notwendigkeit der Finanzierung der Staatsaufgaben zu vermitteln, ohne das Problem verbergen zu können, daß so oder so die Steuern umstritten bleiben. Entweder sind sie zu hoch oder sie belasten die einen zu sehr, bevorteilen die anderen usw. Alle Parteien bemühen sich, den objektiven Gegensatz in einem Schwall bürgerfreundlicher Argumente zu vernebeln, die dennoch alle zu erkennen geben, daß sie den Gegensatz voraussetzen. Alle bemühen sich gleicherweise, dem Bürger klarzumachen, daß die Steuern gerechter verteilt worden sind und trotzdem die berechtigte Nützung des eigenen Vermögens garantiert bleibt, der Motor des Wirtschaftslebens, das Leistungsstreben, nicht zum Erliegen kommt. Das Bemühen der Politiker, dem Steuerzahler die Reform schmackhaft zu machen, zeigt nur, daß hier der Nerv des Bürgers und Wählers empfindlich getroffen ist: Die Steuern, die für das Allgemeinwohl notwendig sind, beeinträchtigen nun einmal das individuelle Wohl. Der Bürger wird zwar deshalb nicht zum Revolutionär, da er ja die Staatsleistungen sehr wohl begrüßt; er erhofft sich jedoch ,daß er in Zukunft weniger belastet wird als bisher; er will von seinem individuellen Einkommen möglichst viel behalten und der Abzug soll ihm gut vergolten werden: möglichst viele Staatsleistungen bei möglichst geringen Ausgaben ist daher die Lieblingsforderung der Bürger, worüber die geplagten Politiker nur verärgert den Kopf schütteln können: „Solange wir darüber geredet haben, daß die Staatsaufgaben erweitert werden müssen, waren alle dafür. Seitdem es ans Portemonnaie geht, sind sie dagegen.“ (Spiegel Nr. 47/74)
Schlagender kann man die Sisyphos-Arbeit der Parteien, den Gegensatz von Staat und Bürgern in der großen Steuerreform zu überwinden, nicht ausdrücken. Steuerreform ist also nichts anderes als der permanente Versuch, Extreme zu korrigieren. „Gerechtigkeit“ soll walten, zielt aber nie auf Veränderung der Voraussetzungen. Keiner bestreitet den Kapitalisten ihre Profite, sie sollen nur nicht zu hoch sein. Keiner wünscht den Arbeitern einen Hungerlohn, sie dürfen aber auch nicht unverschämt werden. Und was den Unternehmern durch schärfere Progression der Einkommenssteuer am Akkumulationsfonds abgezogen wird, wird ihnen aus wirtschaftspolitischer Notwendigkeit durch Investitionssubventionen wieder zugesteckt. Dieser Kreis läßt sich endlos durchwandern; er zeigt, daß der Staat an den ihm vorausgesetzten Verhältnissen nichts ändern kann, gleichzeitig aber ständig korrigierend eingreifen muß (vgl. dazu MSZ Nr. 2; Marktwirtschaft ist, wenn der Staat ...) Die permanente Reform der Steuer gehört somit zur bürgerlichen Gesellschaft wie das Ei zur Henne. Die große Steuerreform, das „Jahrhundertwerk“, kann es in der bürgerlichen Gesellschaft nicht geben; sie muß zum Stückwerk zerfallen, das den ständigen Versuch der Staatsagenten, dem „geschichtlichen Wandel“ nachzueilen, charakterisiert.
aus: MSZ 3 – Februar 1975 |