Der Sieger (I): Helmut Schmidt

Der vorbildliche Lebensweg eines Sozialdemokraten


Helmut Schmidt, Mann des Jahres, Schulmeister der Nationen etc., hat es geschafft, auch sein letztes Manko auszuräumen und sich nach zwei Jahren Amtszeit endlich die unmittelbare Zustimmung der Bürger für seine Staatsführung einzuholen. Daß die Sache ein wenig knapp ausging, juckt ihn herzlich wenig, denn erstens ist in der Demokratie eine Mehrheit eben eine Mehrheit, zweitens kann die Tatsache, daß die Leute mit der Regierung unzufrieden sind, doch einen Staatsmann nicht erschüttern:

„In der zurückliegenden Weltrezession haben alle Industrieländer zumindest ein Stagnieren des Wachstums, der Zunahme des Wohlstands der Bevölkerung, hohe Arbeitslosenziffern etc. erfahren. Dieses Ergebnis schlägt naturgemäß den jeweils Regierenden nicht gerade auf die Butterseite.“ (Kanzlerworte in der Wahlnacht)

denn drittens ist am Abend nach der Wahl auf die Wähler eh geschissen, weshalb ein Staatsmann, der die Mehrheit behalten hat, also weiter regieren kann, das Interpretieren der Verästelungen und Bewegungen des Wählerwillens den anderen überläßt und noch in der Wahlnacht unmißverständlich klarstellt, daß es zur Sanierung von Wirtschaft und Finanzen durch Beschränkung der Bürger viel zu tun gibt, packen wir's an! Der Star der Fernsehdebatten hatte schon im Wahlkampf durch seine souveräne Verachtung des Buhlens um der Wähler Gunst Punkte gesammelt. Er hat sich seinen Wahlsieg geholt mit seinem Talent, seine Kanzlerschaft als logische Konsequenz des gesunden Staatsbürger-Menschenverstandes darzustellen („Der bessere Mann muß Kanzler bleiben!“) und seinen Gegenkandidaten, der sich händeschüttelnd-grinsend durchs deutsche Land schleimte, als inkompetenten Dorftrottel hinzustellen. Dies macht ihm so leicht keiner nach und läßt ihn zum bewunderten und beneideten Vorbild der Politiker all der Länder werden, in denen insbesondere die Arbeiter dem gesunden Menschenverstand nicht so zugänglich sind wie in der BRD. Kanzler Schmidt kann sich also die wieder einmal zum Ausdruck gekommene Mündigkeit der deutschen Bürger, ihre Bereitschaft zur Einsicht in die Sachzwänge des Staatsganzen, in die Notwendigkeit der Beschränkung auf das Machbare als seine Leistung zugute halten lassen.

„Er schneidert seinen Sozialismus auf das Gewand des aufgeklärten freien Unternehmertums und Wettbewerbssystems zu. Er trägt seine sozialistischen Farben und ist doch von Kapitalisten wegen seiner ein gesundes Wirtschaftsklima erzeugenden Politik geachtet.“ (New York Times)

Wenn sich dazu der Spiegel die Sorgen der SPD macht, die diese nicht hat:

„beugt sie sich dem Diktat einer bis in die Knochen konservativen Figur wie Schmidt …, dann opfert die SPD ihr Profil. Sie degeneriert zum Kanzlerverein konservativen Strickmusters.“

– die Konservativen sich giften, daß er eigentlich „der richtige Mann in der falschen Partei“ sei, ist es für den Macher Schmidt kein Problem, solches mit stolzer Bescheidenheit zurückzuweisen:

„Ich bin kein Einzelkämpfer. Ich bin mein Leben lang Sozialdemokrat gewesen und habe für die Partei gearbeitet, wo immer sie mich gebraucht hat.“ (Gaus-Interview 1966 im ZDF)

Und wo immer Schmidt arbeitete, war er für die Partei zu gebrauchen.

So läßt sich aus dem opfervollen Lebensweg Helmut Schmidts vieles über den der Nachkriegs-SPD lernen. Ein Zusammenhang, den sowohl der bornierteste Juso als auch hartnäckige Konservative bemerken, für die eines feststeht: daß nämlich die Sozialdemokraten ohne Schmidt kaum die Staatsmacht in der Hand behalten hätten.


I. Wie wird man Staatsmann

„Der Krieg hat Helmut Schmidt geprägt.“ (SPD-Kanzlerwerbung 76)

Helmut Schmidt rechnet sich zur „Frontgeneration“, meint damit jene Männer, deren erste gesellschaftlich nützliche Tätigkeit nach Oberschulabgang es war, sich – in der Regel wie er, Oberleutnant, im Offiziersrang – mit dem Kriegführen zu beschäftigen. Leute also, die – an sich zu Höherem berufen – erstmal ihr „Kriegserlebnis“ erlebten, um daraus dann den Schluß zu ziehen, daß man sich auch auf lukrativere Weise im Dienst an der Gemeinschaft bewähren kann. Und darauf kommt es an, Schmidt beschloß, Politiker zu werden:

„Als man dann aus der Gefangenschaft nach Hause kam und sah, was alles an entsetzlichen Dingen da war und was änderbar war, man konnte ja etwas dagegen tun, da fand ich mich wie viele meiner Altersgenossen herausgefordert, daran mitzuwirken.“ (Gaus-Interview)

Helmut Schmidt weiß die Frontgeneration noch heute zu schätzen. Nicht nur fühlt er sich denjenigen darunter verbunden, die wie er pragmatisch die Dinge, sei es den Staat, den eigenen Betrieb oder als Manager das darniederliegende Großunternehmen, in die Hände nahmen, zupackten, aufbauten. Auch der große Rest, die heute ca. 50-60jährigen hemdsärmligen Wiederaufbauer, läßt sich heute noch bei Bedarf einer undankbaren Jugend als Vorbild vorzeigen. Überdies sind es so wenige, daß es dem Kanzler erspart blieb, ihnen ausgerechnet im Wahlkampf eine Kürzung ihrer Rente in Aussicht stellen zu müssen – das Rentental von 1985 ist eine todsicher kalkulierbare Sache, die Frontgeneration eine rundherum brauchbare Spezies.


Er heiratet Loki …

„Der Profi, kompetent, schnell, entscheidungssicher“ (SPD-Kanzlerwerbung)

bewährte sich schon 1942 als schnell –

„Verlobung drei Minuten vor Fliegeralarm. Ein Vierteljahr nach der Verlobung war die Hochzeit ...“ –

kompetent und entscheidungssicher:

„Nach dem Krieg der große Rollentausch: Hannelore »Loki« Schmidt verdient als Lehrerin den Lebensunterhalt, damit Helmut studieren kann. Loki Schmidt ist politisch engagiert, aber gegen Gesellschaftsrummel. Sie hat eine glückliche Hand im Umgang mit Menschen und Blumen.“ (SPD-Kanzlerwerbung)

Loki leistet auch weiterhin ihren Beitrag zum Funktionieren des Staats, indem sie ihrem Mann die heimischen Voraussetzungen schafft, die ein Politiker braucht, um das Aufgehen in den Staatsgeschäften auszuhalten: die Schachpartie nachts um zwei, die (verständlicherweise) „unauffällige Präsenz“, wartend im Kanzler-Schlafwagen, wie Hofschranze Kempski in der SZ vom Schmidtschen Wahlkampf berichtet, vor allem aber den häuslichen Frieden in allem und jedem. „In unserer Ehe gab es noch nie Streit.“ Denn Loki weiß, daß es im ehelichen Leben auf dasselbe ankommt, wie im öffentlichen: sich bescheiden und gehorchen!


… und wird Sozialdemokrat

Der Krieg, der Helmut Schmidt wie gesagt geprägt hat, hat ihn auch zum Sozialdemokraten gemacht.

„Mir ist es so gegangen, daß ich während des Krieges immer deutlicher spürte und mir immer klarer wurde, daß das ein schlechtes Regiment war, unter dem wir lebten, eine schlechte Regierung, ein schlechter Staat. Ich wußte ganz genau, daß ich dagegen war. Ich wußte aber nicht, wofür ich hätte sein sollen,“ (Alle folgenden Zitate Gaus-Interview)

Oberleutnant Schmidt war zwar damals schon ganz entschieden für einen besseren Staat, aber

„Mir hatte niemand gesagt, wie ein Staat eigentlich beschaffen hätte sein sollen, ich hatte gar keine positive Vorstellung von der Demokratie ...“

Immerhin wurde ihm angesichts des Kriegsverlaufs allmählich

„... klar, daß die höhnische Herabsetzung der westlichen Demokratien durch das Dritte Reich nicht ganz stimmen konnte, daß das wohl falsch war ...“,

daß offensichtlich sie sich als die besseren Staaten erwiesen, weil sie an allen Fronten siegten. Da waren natürlich sechs Monate britische Kriegsgefangenschaft 1945 die passende Gelegenheit, jene quälende Ungewißheit über die Beschaffenheit des besseren Staates zu überwinden:

„Eigentlich habe ich meine positive Vorstellung wie ein Staat wohl sein sollte, in der Gefangenschaft gebildet.“

und Helmut Schmidt läßt keine Fragen offen darüber, warum seiner Ansicht nach der beste Staat sozialdemokratisch regiert sein soll:

„Ich bin in der Gefangenschaft Sozialdemokrat geworden, unter dem Einfluß älterer Offiziere. Und da spielte das Kriegserlebnis eine große Rolle. Manches von dem, was wir als junge Soldaten, vorher in der Hitlerjugend, später als junge Soldaten während des Krieges, an Idealen vorgesetzt bekommen hatten, haben viele meines Alters, so auch ich, sehr schnell als nicht ernstzunehmend, als vorgetäuscht, als Mache empfunden. Aber manches haben wir doch auch sehr ernst genommen. Fünfundzwanzig Jahre später, also heute, klingt es für manche Ohren gar nicht sehr angenehm, wenn ich sage, daß für mich das Erlebnis der Kameradschaft im Kriege einer der Werte ist, die ich glaube, mitgebracht zu haben. Und ich habe dann im Gefangenenlager eigentlich jene Parallelität entdeckt zwischen dem sozialistischen Prinzip der Solidarität und dem im Kriege erlebten Prinzip der Kameradschaft.“

So läßt Schmidt in der Interpretation seines Lebenslaufs keine Zweifel darüber aufkommen, was es mit sozialdemokratischer Solidarität auf sich hat:
Die ständige Bereitschaft zum gemeinsamen Absehen von den eigenen Interessen im unbedingten Einsatz für das allzeit bedrohte Ganze; für den „Frontsozialisten“ Schmidt keine Schwierigkeit, war für ihn doch die Solidarität von vorneherein die der Staatsbürger in den Schützengräben.
Und die Sorge um den besser funktionierenden Staat ist es, die jemanden wie dem von den diesbezüglichen agitatorischen Bemühungen der Faschisten (von ihrer inkompetenten Handhabung der Staatsgewalt ganz zu schweigen) schwer enttäuschten Schmidt erkennen läßt, daß die rechte Solidarität der Bürger nur für den Staat sich einstellt, der glaubhaft das Notwendige als Schritt zu mehr Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit durchsetzt. Wobei immer klar ist, daß es auf den Staat ankommt, nicht auf die Ideale. Was Helmut Schmidt als seinen Lernprozeß ausgibt:

„Die pragmatische Erkenntnis, daß die sozialistische Komponente die Sozialdemokratie weiter von der Macht fernhalten würde,“

die „Erfahrung“,

„daß das Funktionieren der Demokratie und des Rechtsstaates unendlich viel wichtiger ist nach meiner Vorstellung, als manches an sozialistischer Akribie“ –

das ist mehr der Lernprozeß der Nachkriegs-SPD auf dem Wege zur regierungsfähigen Reformpartei, bei dem Schmidt von Anfang mithalf, als sein eigener. Was zählt, war für den Mann, den der Krieg geprägt hat, der die „schlechte Regierung, den schlechten Staat“ der Faschisten selbst erfahren hat, und der sich 1945 herausgefordert fand, „mitzuwirken“, beizeiten klar:

„Ich bin der Meinung, daß zum Beispiel Sozialpolitik, daß soziale Gerechtigkeit schlechthin ein Prinzip ist. ohne das eine moderne Demokratie nicht existenzfähig wird: ich halte es für grundlegend. Gleichwohl meine ich, noch wichtiger ist, daß Demokratie und Rechtsstaat funktionieren.“

Einmal im Bundestag (1953), ist also für einen Mann wie ihn, der sich dessen, wie der Staat optimal zu funktionieren hat, gewiß ist, zweierlei zu tun: Zum einen dafür zu sorgen, daß die eigene Partei endlich ihre Ideale als Mittel zum besseren Funktionieren des Staates begreift und sich damit als ordentliche Alternative für die Führung der Staatsgeschäfte anbietet statt als eine Partei, die womöglich um ihrer Ideale willen einen anderen Staat will, einen ohne Armee, gar mit verstaatlichter Schwerindustrie, oder ähnliche Mißgeburten. Zum anderen die Gegenseite nach Strich und Faden fertig zu machen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf geeignete Weise klarzumachen, daß ihre Vertreter als Staatsrepräsentanten hoffnungslos inkompetent sind: Schmidt-Schnauze.


Der Krisenmanager

Seine eigene Kompetenz kann der Mann schließlich bei einer Gelegenheit unter Beweis stellen, die zwar mehreren hundert Leuten das Leben kostet, gerade deshalb aber – es hätten ja noch sehr viel mehr sein können – seinen Ruhm als einer, bei dem die Staatsgewalt wirklich in guten Händen ist, endgültig begründet. Die Hamburger Flutkatastrophe 1962 – eine

„ ... Katastrophe von einem Ausmaß, wie wir es nur im Zweiten Weltkrieg erlebt haben“

– erlaubt es ihm, das erste Mal klarzustellen, wo die Betonung liegt, wenn er sagt, das Wichtigste sei „das Funktionieren der Demokratie und des Rechtsstaates“:

„Wir haben gegen mehrere Gesetze verstoßen, aber es war nicht anders möglich,“

damit der Staat funktionieren konnte.

Ein bürgerlicher Berufspolitiker vom Schlage Schmidts kann sich also vor allem dann als besonders entschlossener und energisch handelnder Staatsmann profilieren, wenn durch sein Eingreifen statt Tausender nur einige hundert Leute ertrinken, gibt ihm dies doch Gelegenheit zu zeigen, daß der Staat die segensreichste Einrichtung der Menschen – trifft sie doch regelmäßig wie die Gezeiten die Flut der Arbeitslosen und die Ebbe in der Haushaltskasse – ist und mit ihm an der Spitze seine Segnungen erst so richtig zur Entfaltung kommen. Deswegen ist für ihn und seine Hofjournaille die Flutkatastrophe einer der „Glücksfälle“ in seiner Politikerkarriere:

„Großen Tätern (die Wohltäter der Menschheit!) und Machern bieten für die Allgemeinheit gefahrvolle Ausnahmesituationen und Notstände die besten Gelegenheiten zu zeigen, was in ihnen steckt.“ (H.W.Kahn: Helmut Schmidt)

Und weil solche Typen mit ihrer Politik dafür sorgen, daß es dem Volk möglichst dreckig geht, damit sie die in ihnen steckenden Fähigkeiten aktivieren können, kommen so einem Staatsdiener, der dem Staat dient, indem er mit ihm herrscht, Karriere macht, Katastrophen sehr gelegen. So kamen Schmidt die Krisen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre – Wirtschaftsrezession 1966/67, Regierungskrise 1966 –  gerade recht, um sich dem Wahlvolk als unentbehrlich und als Krisenmanager der SPD darzustellen. Selbst in der Ära, in der Friedenswillies mehr gefragt waren als Macher, schaffte er es, seinen Nimbus zu bewahren: Während seiner Zeit als Bundesverteidungsminister gab es zwar keine „Krise der Bundeswehr“, trotzdem bereinigte sie Schmidt mit Bravour, indem er den Wehretat um horrende Summen erhöhte. Und weil die Wähler von einem Sozialdemokraten nicht höhere Steuern, sondern Reformen erwarten, führte er eine größere Wehrgerechtigkeit ein, indem er dafür sorgte, „daß alle, die halbwegs gehen und stehen können, zur Bundeswehr eingezogen werden“, was den gesunden Wehrpflichtigen nichts bringt außer der Gewißheit, daß in unserem Staat fast keiner was zu lachen hat.


„Ein Profi setzt sich durch“

Obwohl Schmidt-Schnauze bis dahin auf allen Gebieten des Öffentlichen Lebens – als Innensenator, als Fraktionsvorsitzender im Bundestag, als Verteidigungsminister und ab 1972 als Superminister für Wirtschaft und Finanzen – bewiesen hatte, „daß er so zuschlagen kann, daß kein Gras mehr wächst“, wobei er dies – ein weiterer Vorteil – auch noch lachenden Gesichts, mit „jungenhafter Ausstrahlung und unverbrauchter Frische“ tut, mußte erst noch eine Situation kommen, wo „nur noch schnörkelloses Zweckdenken als Zukunftsrezept funktionieren“ (PR-Schrift der Bundesregierung über Schmidt 1970) kann, kurz, wo Schmidts unangenehme Eigenschaften gefragt waren,

Vorerst war für die Zeit des Aufschwungs nach 1969 Willy Brandt der richtige Mann, um den Arbeitern mit seinem Reform- und Friedensgelaber die Vorteile zu versprechen, auf die sie in der Rezession zugunsten ihrer Kapitalisten verzichtet hatten. Als aber 1973 auch die borniertesten Willy-Fans merkten, daß ihre hart erkämpften Lohnerhöhungen durch die Inflation hinweggerafft wurden, und daß man sich für Reformideale nichts kaufen kann, sondern sie bezahlen muß, und deshalb ihre – ohnehin reduzierten – Ansprüche aufrechterhielten, zeigte sich, daß mit Brandt kein Staat mehr zu machen war. Statt „schnörkellos zweckdenkend“ zuzuschlagen mit dem Hinweis auf die heraufziehende Krise und auf diese Weise den sozialen Frieden zu sichern, brachte er es z.B. nicht über sein gutes Herz, seinen Untergebenen vom öffentlichen Dienst die unverschämte Bitte nach 10,5 % mehr Geld abzuschlagen, zumal sie ja ein Jahr vorher für seine Ostverträge gestreikt hatten. Dies war zwar nicht gerade staatsgefährdend. Aber ein Politiker, der nicht weiß, daß die demokratischen Ideale dazu da sind, die unangenehmen Seiten der Demokratie für den Bürger zu legitimieren, sondern stattdessen mit ihnen falsche Hoffnungen weckt, ist ungeeignet für einen Staat, dessen Aufgabe es unter anderem ist, dafür zu sorgen, daß solche Hoffnungen auch Hoffnungen bleiben. Die „Führernatur“ Schmidt – in Anwendung seines Lehrsatzes: „Man darf den Arbeitern die Hoffnung nicht nehmen, man muß ihnen Hoffnung geben.“ (24.9., München, Marienplatz) – wußte dies, weshalb er den Genossen Brandt als „Scheißdemokraten“ beschimpfte, „der immer erst andere fragen müsse, bevor er sich entscheide“, und ihn nach der Guillaume-Affäre zum Denkmal degradierte, das die für die SPD nach wie vor unentbehrlichen Ideale repräsentiert, und selbst das Krisen-Kanzleramt übernahm.


Skrupellosigkeit ...

Endlich als Lotse auf der Brücke des Staatsschiffs, konnte Schmidt seine „Vorstellung, wie ein Staat wohl sein sollte“ praktizieren:

„Es muß doch endlich einmal beginnen mit der Autorität in diesem Scheißstaat.“ (Schmidt nach „Spiegel“)

Nicht etwa, daß andere Politiker wie Kohl, Strauß oder Genscher nicht solche „Vorstellungen“ im Kopf hätten, macht den Kanzler zum Politiker Nr. 1, sondern daß er es am besten von allen versteht, einerseits mit „entwaffnender Offenheit“ zuzugeben, daß bei der skrupellosen Durchsetzung dieser Vorstellungen für die Bürger nichts zu holen ist, andererseits die daraus entstehende Unzufriedenheit durch eiskalte Drohungen und lauwarme Reformideale einzudämmen. Kurz: Helmut Schmidt ist der unbestrittene Meister der Staatsagitation.

Das Muster ist dabei immer dasselbe. In seinen zahlreichen Reden vor Verbänden, Gewerkschaften, Synoden und im Wahlkampf gewinnt er erst einmal mit der Binsenweisheit, daß es nicht lustig ist, wenn ein Staatsmann die Wahrheit sagt, –

„Aber wenn Sie sich schon einen Politiker“ aïs Redner verschreiben, dürfen Sie nicht erwarten, daß er Ihnen nur und ausschließlich Angenehmes zu sagen hat.“ (Zum DSB, 6.12.75) –

Vertrauen beim Wählervolk und stellt sich als Ehrenmann dar, um dann doch die unvorteilhafte Wahrheit seiner Krisenbewältigung in eine vorteilhafte Unwahrheit umzudichten:

„Unser Netz der sozialen Sicherheit, das in den vergangenen Jahren immer enger geknüpft worden ist, hat selbstverständlich auch zu steigenden finanziellen Lasten geführt, aber es hat den einzelnen zugleich auch von der Angst befreit, Opfer der wirtschaftlichen Rezession zu werden.“ (Welt der Arbeit, 1. Mai 76)

Und da es trotz dieser Lüge, neben den Arbeitern, die „Angst“ haben, „Opfer der wirtschaftlichen Rezession“ zu werden, eine ganze Menge gibt, die keine Angst mehr zu haben brauchen, weil sie schon längst Opfer sind, sagt ihnen unser Kanzler, daß es ihn einen Dreck schert, daß sie zu wenig Geld haben, und meint stattdessen, daß die „Selbstverwirklichung“ das Problem der Arbeitslosen ist:

„Arbeit ist zu einem wesentlichen Teil Selbstverwirklichung des Menschen, und deswegen (!) steht für meine Partei, für meine Regierung und für mich die Sicherung der vorhandenen Arbeitsplätze, die Schaffung neuer zukunftssicherer Arbeitsplätze im Mittelpunkt unserer Bemühungen.“ (Zur IG Bau, 14.3. 76)

Obwohl sich die deutschen Gewerkschaften, wie in der MSZ schon mehrfach bemerkt,, solche unverschämten Zynismen gefallen lassen und Helmut Schmidt gerade deswegen unterstützen, spricht dieser, wieder ganz der pragmatische Macher, die unverhüllte Drohung aus, die Gewerkschaft solle nur ja so wie bisher weiterfahren, denn:

„Auch die Gefahr ist nicht gering zu schätzen, daß einige meinen, wir seien auf dem besten Wege ins Schlaraffenland, und brauchten immer nur zu fordern und zu fordern und zu fordern.“ (IG Bau)


... und Nächstenliebe

Spitzenleistungen vollbringt der Realpolitiker („Realpolitik läßt sich als eine Forderung der Bescheidung verstehen.“) und Sozialdemokrat Schmidt jedoch dann, wenn es gilt, die durch den Staat erzwungene „Bescheidung“ umstandlos als das Nonplusultra sozialdemokratischer Programmatik darzustellen, z.B. wenn er an einer Universität doziert:

„Wenn Sie mit größerer Rationalität, mit größerer Kostenrationalität Ihre Ausbildungskapazitäten erhöhen könnten, ohne mehr Geld zu verlangen, dann würden Sie damit zugleich ein Stückchen Solidarität leisten zugunsten der Jahrgänge, die draußen noch vor Ihrer Tür stehen.“ (TU Hannover, 9.10.75)

Solche Verzichtpropaganda bringt dem Kanzler zwar Kritik von seinen Jusos ein, die sich dagegen wehren, daß ihre hehren Ideale vom Staat gegen die Bürger gekehrt werden. Aber damit sind sie bei ihm an der falschen Adresse. Er, der aus eigener Erfahrung weiß, wozu Ideale gut sind, beschimpft seine Parteigenossen nicht nur als blöd und untauglich für das Führen der Staatsgeschäfte und wünscht sich deswegen,

„daß noch ein sehr durchgreifender intellektueller Reifeprozeß erfolgen möge, bis die Urheber solch liebloser Besserwisserei Bundesminister für Arbeit oder für Wirtschaft oder für Entwicklungshilfe oder für Finanzen werden,“

sondern belehrt das „lieblose“ Jungvolk auch darüber, daß es zu den höchsten Pflichten eines Staatsmannes gehöre, sich um das moralische Wohlergehen des von ihm drangsalierten Volkes zu kümmern, wenn es schon sonst nichts von ihm zu erwarten hat. Da Politik laut Schmidt, der es ja am besten wissen muß,

„notwendigerweise jene hartvordergründige Weltlichkeit ist, in der im Zwielicht des Profanen unvermeidlicherweise gestritten, geirrt, angegriffen, verletzt, entschieden und geschlagen wird“, (dies und alle folgenden Zitate in: Helmut Schmidt, Als Christ in der politischen Entscheidung, 1976)

braucht der Repräsentant dieser „Weltlichkeit“ ein gerüttelt Maß an „christlichem Vertrauen und Zuversicht“, an die er selbst fest glauben muß, um seinen geliebten Mitmenschen zu demonstrieren, daß die gemeinsame christliche
Verantwortlichkeit dem einen das schmutzige Geschäft des Regierens und den anderen die schmerzliche Last des Regiertwerdens auferlegt. In der Gewißheit, daß es im christlichen Glauben

„eben auch um die Bereitschaft geht, sich selbst Beschränkungen und Opfer um des Gemeinwohls willen aufzuerlegen“,

und daß diese „Bereitschaft“ für seinen Laden auch bitter nötig ist, sorgt der aktive evangelische Synodale Schmidt dafür, daß die Kirche

„dem Volke etwas gebe, nicht aber das Gefühl, daß das Volk bevormundet werde.“

Denn:

„Das Volk wird ohnehin genug bevormundet, mehr als genug an vielen Stellen.“

Weshalb er sich gegen die progressive Theologie wendet und fordert, dem Volk wenigstens in der Kirche seine Ruhe zu lassen und

„zu Weihnachten auch die dem Volke gewohnten und liebgewordenen und geläufigen Lieder zu singen.“

Und wenn auch die christlichen Werte nichts anderes sind als die religiöse Einkleidung der demokratischen – der im „christlichen Glauben verwurzelte“ Schmidt übersetzt: „Solidarität (Der Leser erinnert sich: das ist wieder die Geschichte aus dem Krieg!) heißt Nächstenliebe“ – so ist es doch ganz etwas anderes, seinem politischen Gegner auf die Frage, ob denn in Zukunft die Renten gezahlt werden konnten, entgegenzuschleudern, ein solcher Zweifel sei „zutiefst unchristlich, weil er den Menschen Angst macht“ (Schmidt in der Fernsehdiskussion vom 30.9.), als den Menschen mit einer drohenden Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge Angst zu machen. Dem Christdemokraten Kohl fiel darauf jedenfalls nichts mehr ein. Und wenn Schmidt die gängigen Verleumdungen und Lügen des Wahlkampfes mit dem vernichtenden Urteil kontert, hier werde gegen das achte Gebot verstoßen (für Atheisten: „Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten“), so weiß zwar jeder, daß der Kanzler weder lieb noch Gott ist und die Gegenseite deshalb nicht morgen der Blitz trifft. Der moralischen Zustimmung seiner Wähler kann er sich trotzdem gewiß sein, was das Wahlergebnis zeigte.


II. Der Staatsmann als Weltmann

Kanzler Schmidt zeigt schon nach den ersten Hochrechnungen der Wahlnacht die Glückwünsche von US-Präsident Ford her, und kann sie sich getrost als Anerkennung dafür zuschreiben, daß erst er die Bundesrepublik als stärkste westeuropäische Wirtschafts- und Militärmacht von der Marionette zum Statthalter des US-Imperialismus in Europa gemacht hat, der seine Stärke zwar nicht gegen die Weltmacht selbst, jedoch in ihrem Sinne durchaus eigenständig gegen das unzuverlässige flaue Gesindel ringsum zu gebrauchen weiß, zu einer Zeit, wo dies verdammt notwendig ist fürs Kapital. So verbreitet der Kanzler die Erkenntnis

„die künftigen Aufgaben verlangen international immer mehr »common sense«“ (engl, für: gesunder Menschenverstand)

nicht nur in wohlformulierten Reden auf den Banketten von Staatsbesuchen, sondern weiß auch, daß man die Staaten, deren Funktionieren für das Gedeihen des eigenen nationalen Kapitals von Bedeutung ist, ebenso zum gesunden Menschenverstand zwingen muß wie die eigenen Bürger. Und die Bundesrepublik – dank dem äußerst erfolgreichen Vollzug dieses letzteren Geschäfts, d.h. nach Schmidt, „dank des dauerhaften sozialen Friedens in meinem Land“ als wirtschaftliche Führungsmacht der Kreditgeber Europas – hat die Mittel zur Verfügung, zu denen es in der Tat endlich des Mannes bedurfte, der mit ihnen umzugehen weiß, ohne sich gleich verunsichern zu lassen, wenn die Öffentlichkeit der Konkurrenzstaaten in Sorge um den eigenen Staatsnutzen auf den „häßlichen Deutschen“ schimpft.

So wird dem englischen Premier Wilson, der partout gegen die EG auf den nationalen Interessen in der Energiepolitik beharren will, verdeutlicht, daß in der Wirtschaftskrise, welche der Zerfall der EG aufgrund Wilsons störrischer Haltung hervorrufen würde, die BRD sehr wohl zurecht käme, Großbritannien aber, das schon jetzt weitgehend von deutschen Krediten lebt, wohl kaum. Den Italienern kann Helmut Schmidt sogar einen freundlichen Rat geben, wo sie am besten zum Nutzen des westdeutschen Außenhandels das Sparen anfangen:

„In Puerto Rico bestand Einigkeit, daß internationale Kredithilfe wirtschaftspolitisch konditioniert sein muß, um zur Gesundung der betreffenden Volkswirtschaft beizutragen. Mit geborgter internationaler Liquidität sollte nicht Kalbfleisch importiert, sondern die eigene Exportstruktur, die eigene Exportfähigkeit verbessert werden.“ (Dies und die folgenden Zitate aus Erklärungen beim Staatsbesuch in den USA, Juli 76)

Und da der kompetente professionelle Repräsentant des westdeutschen Imperialismus sich nicht in die italienische Innenpolitik einmischen will, erklärt er auf einer Pressekonferenz in
Washington:

„Kommunisten in der Regierung gefallen mir nirgendwo auf der Welt, weder in Italien noch anderswo. Ich finde es nicht gut, wenn Kommunisten in einem NATO-Land an der Regierung beteiligt sind. Mit diesen Äußerungen aus deutschem Munde auf amerikanischem Boden will ich es aber genug sein lassen und mich nicht in die italienische Innenpolitik einmischen.“

– weshalb er auch unter dem Siegel der Verschwiegenheit hinzufügt, daß in Puerto Rico dafür gesorgt wurde, daß im Falle der KPI-Regierungsbeteiligung die italienischen Arbeiter nicht nur kein Fleisch mehr auf dem Teller, sondern überhaupt nichts mehr zu lachen und nur noch sehr wenig zu beißen haben werden. Und für den Fall, daß sie sich dadurch immer noch nicht veranlaßt sehen, durch „dauerhaften sozialen Frieden“ zur „wirtschaftlichen Stabilität“ und Gesundung ihrer Volkswirtschaft beizutragen, ist ein Hinweis auf die solide Grundlage aller freundschaftlichen Ratschläge Schmidts von Staatsmann zu Staatsmann an die Adresse der Itaker und anderer unzuverlässiger Kantonisten nicht fehl am Platze:

„Stärke wird nicht allein an Panzern und Flugzeugen gemessen, Stärke, innere Stärke, ist auch eine Funktion wirtschaftlicher Stabilität, eine Funktion sozialer Gerechtigkeit.“, wobei sich „das Nordatlantische Bündnis als einer der wirksamsten Stabilitätsfaktoren dieses Jahrhunderts bewährt hat.“

Helmut Schmidt ist also Staatsmann durch und durch, nach innen und nach außen, und das 24 Stunden täglich:

„Helmut Schmidt ist nicht der Typ für Weinfeste (Kohl!) und Biersäle (Strauß!). Schade vielleicht. Doch von Männern in dieser Position wird Können und ein klarer Kopf im Dauereinsatz verlangt. Lotsen sollen nicht gemütlich sein, sondern Kurs halten können.“ (SPD–Kanzlerwerbung)

„Sympathiewerbung“ durch das Zur-Schau-Stellen menschlicher Schwächen ist da entschieden unnötiger Luxus, makellose staatsmännische Homogenität das Gebot. Da leistet man sich keine schlechten Zähne, keine fliegenden Haarsträhnen, sondern allenfalls Sorgenfalten. Und wenn der Kanzler täglich 80 Mentholzigaretten, mehrere Pfeifen und Zigarillos und 20 Tassen Tee konsumiert, dann ist das nicht etwa unmäßige Genußsucht, sondern

„das benötigt einer, der sich im Dienst für den Bürger verzehrt.“ (Helmut Schmidt über sich selbst)

Da gibt es kein sprachliches Volkstümeln, da wird vielmehr in glasklarem Hochdeutsch kein überflüssiges Wort gesprochen. Da fährt man nicht in der Freizeit mit Familie und Fahrrad durch den Wald, sondern blickt unter dem Schirm des Cuxhavener Lotsenkäppis einsamscharfäugig-versonnen über den Brahmsee in die Ferne. Und es wird nicht abends in der gemischten Politiker-Journalisten-Runde Skat gespielt, sondern nachts um zwei nach dem gewohnten 16-Stunden-Tag mit Frau Loki eine Partie Schach. Unter den Kunst-Utensilien ist die Orgel gerade gut genug, um dem Volk die Angst zu nehmen, dem Star gehe womöglich Gefühl, Empfindsamkeit ab. Indem der Kanzler darauf verzichtet, sich als „Mensch unter Menschen“ vorzuführen, sich vielmehr ganz und gar als geborener Staatsmann gibt, der keinen Wert darauf legt, den Gegensatz zwischen ihm und dem Bürger durch das „Bad in der Masse“, den „vielfachen Körperkontakt“ und ähnliche perverse Lusterlebnisse von Politikern in Wahlkampfzeiten wegzuschwindeln, bringt er fertig, was in der Tat die Charaktermaske „Staatsmann“ in Vollendung ausmacht: als fleischgewordene Abstraktion des bürgerlichen Individuums dessen Staat, die moderne Großmacht BRD leibhaftig zu verkörpern, um damit zu demonstrieren, daß in der Demokratie die größte Charaktersau gerade gut genug ist, die Sauereien des Staats als Politiker durchzusetzen.

aus: MSZ 13 – Oktober 1976

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