SALT-Debatte in den USA: Kostenrechnung für den Atomkrieg „Nach einem Atomkrieg unter Einsatz aller vorhandenen Kernwaffen hatten die USA und die Sowjetunion als Supermächte ausgespielt; in beiden Ländern würden die Überlebenden in primitiver Form dahinvegetieren müssen ... Selbst bei einem begrenzten Atomangriff der SU nur auf nuklearstrategische Ziele in den USA, die überwiegend nicht in der Nähe von Städten liegen, könnte es noch 20 Millionen Tote geben. Doch könne sich diese Zahl in den folgenden Monaten und Jahren durch Verhungern, Mangel an Unterkunft und medizinischer Versorgung verdoppeln ... Weite Gebiete der Welt wären jedenfalls auf Jahre radioaktiv verseucht und unbewohnbar.“ („Süddeutsche Zeitung“ vom 19. Mai) So die Auskünfte einer vom US-Kongreß in Auftrag gegebenen Studie, deren Resultate nicht sonderlich überraschend sind. Denn, was mit dem jeweiligen Kriegswerkzeug angerichtet werden kann, weiß man bereits, wenn es in Auftrag gegeben wird, und eben wegen der horrenden Leistungsfähigkeit dieser Waffengattung auf dem Gebiet der Zerstörung von in Millionen zu berechnenden Menschen und der Weltgegend, in der sie sich befinden, sind die Aufträge zur Herstellung die letzten 3 Jahrzehnte hindurch erteilt worden. Es ist also auch nicht die „Schilderung der Schrecken eines Atomkriegs“, auf die es einer solchen Studie angeblich ankommt, um amerikanische Senatoren zu einem Ja zu SALT zu bewegen, wenngleich der Eindruck, den die Veröffentlichung hervorruft – einen solchen Krieg könne doch niemand ernstlich wollen und die SALT-Verträge seien der sicherste Weg zu seiner Verhinderung – sicherlich eine nicht unbeabsichtigte Nebenwirkung darstellt.
Der von der Studie aber beschworene „Schrecken“ besteht nicht in der Untersuchung der Leiden, unter denen das Krepieren einer in näherem und weiterem Umkreis der Atomstrahlung unterzogenen Bevölkerung vonstatten geht. Erfahrungsmaterial dazu hat man ja bereits bei dem 45er Experiment mit zwei vergleichsweise harmlosen Exemplaren sammeln können. Der „Schrecken“, für den sich die Studie interessiert, weshalb sie 1. die Quantität der Opfer berechnet, 2. den verbliebenen Stand der Produktivkräfte samt Bedienungspersonal abschätzt – „wirtschaftliche Bedingungen, die denen des Mittelalters gleichkämen“ –, ist die aus dieser Taxierung der möglichen Folgen gezogene Schlußfolgerung: Sowohl die USA als auch die SU „hätten als Supermächte ausgespielt“, weil nämlich die überlebenden Reste ihres Staatsvolks aufgrund ihres gesundheitlichen und moralischen Zustands sowie aufgrund mangelnder materieller Ausstattung keine brauchbare Manövriermasse mehr für ein Staatswesen darstellen. Entgegen dem – wie schon gesagt – beabsichtigten Eindruck, die Anfertigung und Veröffentlichung solcher Studien seien ein Beweis des Friedenswillens, der Anstrengung, den Atomkrieg zu verhindern, muß leider festgestellt werden, daß das Gegenteil der Fall ist. Das erkenntnisleitende Interesse nämlich, das nicht verschwiegen wird und das auch die ihre Informationspflicht in korrektester Weise erfüllende freie Presse hierzulande durchaus nicht verschleiert, führt hier eine saubere Begutachtung des Kriegs hinsichtlich seiner Zweckmäßigkeit für die solche Unternehmen planende Staatsgewalt vor. Die Taxierung der möglichen Folgen ist die Überlegung, was man – wieviel Tote, wieviel Überlebende mit der Bereitschaft sich weiterhin als Mitglied einer Supermacht zu betätigen – in Kauf nehmen und ob man soviel in Kauf nehmen will. Darüber läßt sich streiten und es wird auch gestritten, wie die Zeitungsnotiz ebenfalls vermeldet: „Inzwischen gibt es jedoch auch die Möglichkeit, daß sich die SALT-Gegner durch die Studie bestätigt fühlen, weil sie zeigt, daß ein Volk“ (deutlicher läßt sich die staatsmännische Betrachtungsweise kaum mehr vorführen: egal wie viele auf eine qualvolle Weise sterben müssen, Hauptsache „ein Volk“ bleibt übrig.) „einen Atomkrieg überstehen kann.“ Es braucht sich also wirklich niemand Hoffnungen auf ein günstiges Kräfteverhältnis von Falken und Tauben zu machen, denn dieser Streit demonstriert nur die Einigkeit beider Parteien in der gemeinsamen Fragestellung, wieviele Kosten unter welchen Bedingungen der nächste Krieg für den Staat verursacht. Das besagt aber nichts anderes, als daß die graumelierten, gut angezogenen, mit der spezifisch lockeren Nettigkeit auftretenden älteren Herren im amerikanischen Kongreß gemeinsam mit ihrem Präsidenten damit beschäftigt sind, den Krieg zu planen. Schon diese Zusatzveranstaltungen zur SALT-Ratifizierung lassen keinen anderen Schluß zu, als daß die Verständigung mit dem Kriegspartner darüber, welche und wie viele Waffen man sich hält, entgegen der weitverbreiteten, entgegengesetzten Auffassung einen zentralen Bestandteil heutiger Kriegsvorbereitung ausmacht.
Dafür daß die BRD im Rahmen der Bündnispartner nicht abseits stehen braucht, stehen die unüberhörbaren, inzwischen fast täglich zu Protokoll gegebenen Äußerungen und Absichten der hiesigen Politiker ein: 1. ist die Bundeswehr „kein Haufen von Trinkern und Raufbolden“, und 2. hat die Nukleare Planungsgruppe der NATO bei ihrem Frühjahrstreffen, um – friedensmäßig ausgedrückt – das „militärtechnische Gegengewicht glaubhaft zu machen“ („Süddeutsche Zeitung“ vom 18.5.) – endlich die Order für die Ausrüstung mit den auf den neuesten Stand gebrachten Requisiten des Atomkriegs gegeben.
aus: MSZ 29 – Mai 1979 |