»Warum ich Marxist bin« (Hsg. von Fritz J. Raddatz) Marxisten sind doch die besten Menschen!
Wenn der Herausgeber in einer „editorischen Vorbemerkung“ durch Relativierung seinen Sammelband interessant machen will („Das Buch ist damit in gewissem Sinne ein Unikat, nämlich eine wirkliche Diskussion mit all ihrer Disparatheit und Ergebnislosigkeit“), so lügt er natürlich und er weiß es auch. Nicht nur für ihn ist es ausgemachte Sache, daß „heute Marxist sein“ und damit auch noch beim Kindler-Verlag ein Geschäft machen, nur heißen kann: „sich mit dem Bestehenden nicht begnügen, fragen und diskutieren.“ Dieses Resultat wird man dann wohl auch dem angekündigten Folgeband der Reihe vorausstellen können, in dem Walter Jens Prominenten die Frage vorlegt „Warum ich Christ bin“. Nicht einmal auszuschließen ist, daß einige Autoren gleich auch noch für diesen Band einen Vertrag kriegen, so sicherlich ein gewisser Alfonso COMIN, der 30 Seiten mit dem pikanten Dialektinger „Kommunist in der Kirche – Christ in der Partei“ füllte: er braucht diesen Titel für die Aufnahme in den Jens-Band nur umzudrehen. Und Rudi DUTSCHKE, der noch 1956 für das „ungarische Volk betete“, macht klar, daß für ihn der Marxismus auch heute noch ein Verschonungsgebet vor dem „asiatischen Monopolbürokratismus“ ist. Ansonsten noch vertreten natürlich Robert HAVEMANN, der zur originellen Pointe gelangt, daß „Marx ein Revisionist par excellence“ war und „in diesem Sinne als Marxist zu gelten“ sich bereiterklärt; die Künstler GUTTUSO und HENZE, für die Marxismus Malerei bzw. Musik erst möglich macht; aus dem Rahmen fallen GARAUDY und MANDEL, die die ihnen eingeräumten Seiten ausnutzen, um für die IV. Internationale bzw. gegen die KPF Reklame zu machen; Franz Xaver KROETZ, der „mit einem großem Sprung aus dem bürgerlichen und für mich unerträglichem Lager hinaus sprang“ und voll in die DKP hinein, weshalb er überzeugend versichern kann, daß für ihn Marxismus „unheimlich viel mit ... Unterordnen, mit Einordnen, mit kollektivem Denken, Fühlen und Verhalten zu tun (hat)“; schließlich noch NEGT und BIERMANN in der „Coda“ (lat. Schwanz) des Sammelbandes, die die Frage dadurch beantworten, daß sie für mehr Demokratie eintreten (der eine hier, der andere jenseits der Mauer) und damit vorführen, „wie ein Marxist“ heutzutage „argumentiert“. Der originellste Beitrag des Bandes stammt von dem österreichischen Bildhauer HRDLICKA, hat mit dem Thema absolut nichts zu tun, außer dem Hinweis, daß in Wien „sinnigerweise der städtische Schlachthof in Sankt Marx untergebracht“ ist.
Ganz einfach: „Ich habe mich für den Marxismus entschieden ... Bestimmt hätte ich mich nicht so rasch für den Marxismus entschieden, wenn es wirkliche Alternativen gegeben hätte.“ (KROETZ) Keiner wird als Marxist geboren, eher schon als Christ, aber damit sind die Würfel schon gefallen. „Wenn ich das Christentum ernstnehme, muß ich Marxist werden.“ Dahinter steckt die „Liebe, die Welt in den richtigen Dimensionen zu erkennen.“ Die hat nicht jeder, „aber ich bin der positive Mensch Kroetz.“ „Viele meiner Ideale aus der Jugend habe ich ohne Mühe auch als meine Ideale erkannt, als ich Marxist geworden war.“ Es war ihm, dem „Knecht der Taufe“, wie eine zweite Taufe und seitdem „vermischen sich Christentum und Marxismus bei mir.“ Eins „steht“ auch für DUTSCHKE „fest, das Christentum im allgemeinen und Jesus Christus im Besonderen lagen da bei mir viel früher.“ Junger Lutheraner in der Ostzone liest vom Ungarn-Aufstand: „Was macht ein junger christlicher Sozialist in solch einer Zeit?“ er „läßt sich am elften August in West-Berlin nieder“ und schon bald „können sich nun Sozialismus und Marxismus ziemlich problemlos vereinigen, ohne daß ich das »Kapital« von Marx intensiv studiert hätte.“ Wieder andere, so der Italo-Revi LOMBARDO-RADICE, der „ein junger Mann von ungewöhnlicher, ja man könnte sagen, außerordentlicher Bildung war“, entdeckte 1935, daß die „Lösung“ seiner „Rätsel“ im „Manifest von 1848“ lag, aus dem er die Kenntnis bezog, daß „die Ideen nicht vom Himmel herunter fallen.“ Der jugoslawische Praxis-Marxist PETROVIC beschreibt gleich seinen Weg von Marx weg zu Bloch, wodurch er erst richtig „Marxist“ geworden sei und mit dem Katalanen Alfonso COMIN schließt sich der Kreis, wenn er „versuchen möchte, diese Kennzeichen der Identität eines Christ-Kommunisten ... zu skizzieren.“ Heutzutage wird einer Marxist nicht durch das Studium der Werke von Karl Marx, sondern durch die vergleichende Konfrontation der Ideale, die man als „positiver Mensch“ von Haus aus hat, mit einer Weltanschauung namens Marxismus, in der diese Ideale am reinsten und schönsten vorkommen. Die heute Marxisten sind, und in vorliegendem Buch erklären warum, nutzen die Gelegenheit zu einer Selbstdarstellung, in deren Verlauf sie sich als Personen ins Verhältnis zu einer Weltanschauung setzen, die dadurch gelobt wird, daß sie sich in ihr wiederfinden, wobei das Lob der Lehre implizit den Anhänger lobt, weil er ihr anhängt.
Eine klare Antwort hierauf von KROETZ: „Mein Marxist-Sein bedeutet eine tiefe humanistische Verbundenheit mit allen fortschrittlichen Kräften, mit allen Befreiungsbewegungen auf der Welt.“ Wozu? „Was ist nötig, um die Lage der Welt zu verbessern? Nötig ist die Verwirklichung einer Reihe elementarer Menschenrechte.“ Stellt sich nur noch die Frage, ob Jimmy Carter auch Marxist ist. Nein, „Herr Carter“ hat bis heute noch kein „Wort zu den Indianern gesprochen.“ Ernest MANDEL, Wissenschaftler, hat im Marxismus die „bisher einzige, rationale, in sich geschlossene und kohärente Integration sämtlicher Gesellschaftswissenschaften“ entdeckt. Zum gleichen Schluß gelangt HAVEMANN aus der entgegengesetzten Überlegung: „Selbstverständlich gehören auch alle Theorien und Ideen, die von Marx stammen, zu dem, woran ... immer wieder gezweifelt werden soll, wenn der Marxismus lebendig bleiben und zur allgemein anerkannten Grundlage der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft werden soll.“ Gerade also weil bei Marx alles zweifelhaft ist, kann der Marxismus Sicherheit in der Wissenschaft stiften. DUTSCHKE hat „das qualvolle Studium der Texte der bedeutendsten europäischen Theoretiker der Arbeiterklasse aus der KI“ zur „Grundfrage verdichtet: wodurch, warum und wann sind die Russen vom philosophischen Erbe abgetrieben wsorden?“ worauf ihm „Bloch zwar keine Antwort geben konnte“, Marx jedoch sehr wohl in ein paar Bemerkungen über die „Verwüstungen der Mongolen“, woraus sich „das Werden der moskowitischen Selbstherrschaft“ bis auf den heutigen Tag erklären läßt. GARAUDY freut sich, im „Marxismus (ein) Gegengift gegen die positivistische Entfremdung“ gefunden zu haben, deren Todsünde darin bestehen soll, „das Denken auf eine Welt gegebener Fakten (zu) beschränken“, wohingegen Marxismus „so unendlich ist, wie nur der anspruchsvollste prophetische Glaube.“ Für HENZE „weist der Marxismus die Künstler an, offenen Auges und mit offenen Ohren (!) brüderlich unter den Menschen zu leben“, mit Hilfe desselben er als „Marxist und Künstler“ zu tief schürfenden Einsichten der folgenden Art gelangt ist: „Das den Künstlern zur Verfügung stehende Material kann nicht mehr leisten, als es wert ist.“ Für LOMBARDO-RADICE „ist heute klar, daß vom »Marxismus« ohne weiteres nicht mehr die Rede sein kann“ und damit hat er natürlich auch irgendwie recht. Heutzutage ist der Marxismus also nicht mehr die Wahrheit über den Kapitalismus, sondern eine bestimmte Haltung, die man der Welt gegenüber einnimmt, weil man persönlich gewisse Erfahrungen gemacht hat, die einem eine solche und keine andere Einstellung nahegelegt haben. Der Marxismus ist für die Autoren vorliegenden Bandes eine bestimmte Moral von der Geschichte, mit der sie sich in der Gegenwart einrichten, wobei sie sich gegenüber jener und gegenüber dieser ins Recht setzen – als die moralischeren Menschen.
Es handelt sich also durchweg um moralische Riesen, die hier unter der wohlwollenden Ägide von F.J. RADDATZ (einem ebenfalls überzeugten Antimarxisten) demonstrieren dürfen, daß sie deswegen bessere Menschen sind, weil sie allesamt sich um „die Erarbeitung eines Marxismus, der sich zwangsläufig gegen die geschichtliche Wirklichkeit der UdSSR oder der diversen KPs wendet“, verdient gemacht haben, mit Ausnahme von KROETZ, der als einziger Parteikommunist in dieser exotischen Sammlung wie ein Exot wirkt, trotzdem aber reinpaßt, weil er seine DKP-Mitgliedschaft als moralisches Bekenntnis vorzeigt und damit, ohne ein einziges Argument für die DKP anzuführen, alle anderen madig macht: Sie sind „durchweg elitäre Selbstbestimmer, Besserwisser, auf die Erfahrung der Arbeiterklasse pfeifende, grund-kleinbürgerliche Existenzen.“ Das sitzt. Durch die Partei, in der er ist, verschafft sich KROETZ die Überlegenheit als „positiver Mensch“ gegenüber einer schlechten Welt, an der er sich selbstlos abrackert, „damit unsere Kinder, damit die Welt, damit alles, was lebt, eine gute Zukunft hat.“ Für „das sozialistische Lager“ hat die Zukunft schon begonnen, dank der „wunderbaren Gleichmacherei im Sozialismus“ DUTSCHKE vermag jedoch im Osten nur „die allgemeine Staatssklaverei“, in die der Leninismus („wie die Pest“, sagte er neulich im österreichischen Fernsehen) als „Nachfahr Dschingis Khans“ die „Russen“ geführt hat. So ist für ihn jeder organisierte Marxist „ein Sektierer“ und nur ein „Sozialist und Kommunist demokratischen Typs (kann) über den kapitalistischen und asiatischen Imperialismus schreiben, was er für notwendig hält.“ Er kann aber auch Bilder malen, Plastiken basteln, Opern komponieren, Lieder machen etc. etc. Nur eins darf er nicht: Revolution machen. Denn „die bloße Vergesellschaftung der Produktionsmittel bringt nicht das in Gang, was wahrhaft unter »gesellschaftlichem Reichtum« zu verstehen wäre.“ Im Gegenteil: sie führt zur „Ent-Individualisierung“, weil die „marxistische Forschung“ „die irrationale Komponente der menschlichen Psyche ... nahezu ausgeklammert“ hat, Dieses vorgestellte Stichwort von RADDATZ bringt PETROVIC bereits im Titel seines Beitrags auf den Imperativ: „Die Revolution denken.“ Und der BIERMANN, der das letzte Wort hat, benennt, wie man heutzutage immer Marxist bleiben kann, anständig und sauber: „Die Widersprüche sind die Hoffnungen.“ So löst sich auch das Rätsel auf, warum mitten in der Sumpfaustrocknungsdebatte ein Buch herauskommt, in dem Leute fröhlich bekennen, warum sie Marxisten sind und warum solches gern gelesen und nicht verboten wird: dieses Buch ist ein Beitrag im Kampf gegen den geistigen Nährboden, in dem prominente Marxisten vorführen, daß man Marxist ist, weil man die Ideale der bürgerlichen Welt für sich nur so vertreten kann, weshalb man einen Marxismus zur Schau stellt, der „heute“ nur eins heißt: „Sich mit dem Bestehenden nicht begnügen, fragen und diskutieren.“ (RADDATZ) Und das läßt die Bourgeoisie in der ihr eigenen intellektuellen Genußsucht allemal fragen und auch darüber diskutieren. Man muß nur durch die Praxis, die einen zum „international renommierten Autor“ (Klappentext) gemacht hat, bewiesen haben, daß man sich dergestalt ausschließlich im Rahmen des Bestehenden vergnügt.
___________________________________ (1) „Eins ist sicher: daß ich kein Marxist bin.“
aus: MSZ 24 – Juli 1978 |