Der Begriff einer verkannten Wissenschaft

Die Naturwissenschaft vom Kopf auf die Quanten gestellt


Schon vor 100 Jahren konnte Engels befriedigt feststellen:

„Heute liegt die ganze Natur als ein wenigstens in den großen Grundzügen erklärtes und begriffenes System von Zusammenhängen und Vorgängen vor uns ausgebreitet.“ (MEW 20/469)

und erklären,

„daß unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ (MEW 20/453)

ein Lob der Naturwissenschaft, das gleichermaßen über ihr Selbstverständnis auszusprechen, er sich hütete. Im Gegenteil. Nicht nur die Mathematiker bedachte er mit ironischem Kopfschütteln angesichts ihrer „Selbsterkenntnis“:

„Die Torheiten und Absurditäten, mit denen die Mathematiker diese ihre Verfahrensweise, die sonderbarerweise immer zu richtigen Resultaten führt, mehr entschuldigt als erklärt haben, übertreffen die ärgsten scheinbaren und wirklichen Phantastereien z. B. der Hegelschen Naturphilosophie, vor denen Mathematiker und Naturforscher nicht Horror genug aussprechen können.“ (MEW 20/533)

Er fühlte sich auch bemüßigt, darauf hinzuweisen, daß in der Naturwissenschaft gedacht und nicht bloß sinnliche Anschauung getrieben werde:

„Es ist die alte Geschichte. Erst macht man Abstraktionen von den sinnlichen Dingen, und dann will man sie sinnlich erkennen, die Zeit sehen und den Raum riechen. Der Empiriker vertieft sich so sehr in die Gewohnheit des empirischen Erfahrens, daß er sich noch auf dem Gebiet des sinnlichen Erfahrens glaubt, wenn er mit Abstraktionen hantiert.“ (MEW 20/502)

Ja, er muß die Naturwissenschaft sogar noch gegen die Zweifel der in die Philosophie – sprich Erkenntnistheorie – hinausgehenden Naturwissenschaftler verteidigen, ob denn die „Natur an sich“ überhaupt erkennbar sei.

An der Unkenntnis darüber, was die Naturwissenschaft eigentlich ist, hat sich auch in den vergangenen hundert Jahren nichts geändert. Im Gegenteil. Die empirische Auffassung von der Naturwissenschaft grassiert stärker denn je. Ihren Täuschungen verdankt sich die Hochschätzung der „experimentellen Methode“ als Verifikationsverfahren und damit der Glaube an die Vorbildlichkeit der Naturwissenschaften für die Geisteswissenschaft. Sie führt Wissenschaftstheoretiker vom Schlage Poppers aufgrund der „Logik der Forschung“ zu den platten Tautologien, daß Naturgesetze in allen Welten gelten, die denselben Gesetzen unterworfen sind. Auch der skeptizistische Zweifel, ob denn diese Gesetze nicht bloße Begriffsdefinitionen seien, die an der Realität keinen Halt finden könnten, führt weiterhin als modische methodenkritische Reflexion auf die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis in den Vorworten so mancher Werke voller richtiger Naturerkennntnis sich selbst ad absurdum.

Nun sollten doch wenigstens aufrechte Marxisten am Lob der Naturwissenschaft durch Marx und Engels festhalten und ihr nicht alles mögliche ans Zeug zu flicken suchen. Aber auch sie könnens nicht lassen. Teils werfen sie den naturwissenschaftlichen Gesetzen die Unterdrückung der Qualitäten der Natur vor und machen gegen die „Bürokratie des Gesetzes“ die Landschaftsmalerei geltend,

„worin Farben, Gewitterschwüle, Sonnenaufgang und andere naturwissenschaftlich heimatlose Gegenstände behandelt werden.“ (Bloch, Subjekt-Objekt, 207f)

Teils rackern sie sich daran ab, den naturwissenschaftlichen Erkenntnischarakter in die historisch-materialistischen Bedingungen ihrer Begriffsbildung aufzulösen; um den Marxismus zu retten:

„Wenn es dem Marxismus nicht gelingt, der zeitlosen Wahrheitstheorie der herrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen, dann ist die Abdankung des Marxismus als Denkstandpunkt eine bloße Frage der Zeit.“ (Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 14).

Teils suchen sie, das Maß ihrer Wahrheit zu finden, denn:

„All diese Theorien (z. B. Naturwissenschaft) müssen mit Notwendigkeit ein bestimmtes Maß von Wahrheit enthalten, eben weil sie Abbilder der Gesellschaft sind, denn die Gesellschaft ist ein Teil der Natur ... „ (Thomson, Die ersten Phylosophen, S. 237).

Andere argumentieren „streng materialistisch“ und bezweifeln den Wissenschaftscharakter dieser Disziplin:

„Die Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Natur findet im Arbeitsprozeß statt und ist Sache des Arbeiters an der Maschine. Die Bourgeoisie nimmt daran nicht teil; sie überwacht lediglich seine Tätigkeit und betreibt Geschäfte der Warenzirkulation. Daher ist die bürgerliche Naturerkenntnis wesentlich kontemplativ und nicht gespeist aus dem lebendigen Anreiz des Arbeitsprozesses. So kann die bürgerliche Naturbetrachtung Subjekt und Objekt vollständig trennen und über die als objektiv existierend erscheinende Natur in ihrer Theorie nach Belieben verfügen. Dies läßt sich an ihrer Methode aufweisen, die Einheit von Naturprozessen in einzelne Gesetze oder Postulate aufzulösen, die als voneinander unabhängig angesehen werden, und so in diesem analytischen Prozeß gewissermaßen (!) falsche Abstraktionen zu erzeugen.“ (Vahrenkamp, Technologie und Kapital, S. 212)

Von hier ist es natürlich nicht mehr weit zu den linken Organisationen, die an der Naturwissenschaft ganz vorbeigehen und meinen – streng agententheoretisch – alles wesentliche gesagt zu haben, wenn sie die monopoltheoretische Dienerschaft der Naturwissenschaftler und den heimtückischen Griff der Großkonzerne in die Schubladen des Patentamtes angeprangert haben. Kurz, es erscheint heute noch mehr wie zu Marx’ oder Engels’ Zeiten nötig, die Naturwissenschaft gegen die allgemeine Auffassung von ihr zu verteidigen. Wir stellen daher einige gängige Mißverständnisse über die Naturwissenschaft dem gegenüber, was sich an dieser selbst feststellen läßt. Solche Konfrontation, die uns die Mühe erspart, allen höheren Blödsinn, der über dieses Thema verzapft wird, im einzelnen auseinanderzufieseln, bestätigt im Ergebnis nur noch einmal, daß die bürgerliche Gesellschaft und ihre pseudomarxistischen Kritiker „das Denken mit souveräner Verachtung“ behandeln. (20/337)

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Und hier muß gedacht werden...

Naturwissenschaft pflegt als empirische und exakte Wissenschaft gekennzeichnet zu werden, eine Charakterisierung, die man auch als Lob auffaßt und den Geisteswissenschaften gerne maßstabsetzend vorhält. In diesen beiden Attributen soll denn wohl der Grund für den ebenso kontinuierlichen wie immensen Fortschritt der Naturwissenschaft zu finden sein. Die geläufige Charakterisierung kann jedoch nichts weniger herstellen als Klarheit über die Naturwissenschaft. „Exakte Wissenschaft“ ist eine Tautologie – keiner ihrer Freunde kennt eine verschwommene Wissenschaft, würde eine in ihren Entwicklungen und Resultaten weniger bestimmt gefaßte geistige Produktion noch Wissenschaft nennen wollen. Das Gegenteil ist der Fall bei den „empirischen Wissenschaften“. Ihre „Abgrenzung“ ist problematisch, denn zentrale Gegenstände der Physik, wie Materie, Feld, Atom, sind als solche nicht der Wahrnehmung gegeben (noch Mach lehnte die Atomistik aus diesem Grunde ab), zum Leidwesen aller, die nun endlich exakt definiert sehen möchten, was ein „empirischer Begriff“ ist. Die Attribute sollen aber auch noch beide auf die Wissenschaft passen. Da finden wir also die exakte Berechnung von Sonnenfinsternissen künftiger Jahrtausende und die molekularbiologische Rekonstruktion des Lebens aus der Ursuppe – keiner hats erfahren und doch solls empirisch heißen.

Derselbe Alltagsverstand, der die Naturwissenschaft für empirisch hält, fühlt sich dann an der Nase herumgeführt, wenn die Popularisierung wissenschaftlicher Ergebnisse seiner eigenen Auffassung der Welt widerspricht.

Der Laie staunt, wenn die Nw Einspruch erhebt dagegen, wie sich nach seiner Alltagserfahrung die Welt darstellt. Dies gilt nicht erst für die moderne Physik, deren gemeinverständliche Darstellungen den Leser mit Paradoxen zu erschrecken pflegen; schon die Kinderfrage, ob die Australier mit dem Kopf nach unten hängen, weil doch die Erde rund ist, folgt diesem Muster.

Auch die Tatsache, daß sich das Kopernikanische Weltbild gegen die Kirche so schwer getan hat, ist darauf zurückzuführen, daß sich die Kirche mehr auf den Augenschein (Glauben) denn auf das Denken verläßt. Wie jede Wissenschaft unterstellt die Naturerkenntnis, daß es überhaupt etwas herauszufinden gibt an den Gegenständen, wie sie handgreiflich existieren. Wäre mit dem Hingucken schon die Erkenntnis vollbracht, so wäre jedes Tier sein eigener Wissenschaftler. Auch das Klassifizieren, Beschreiben – schon hier geht es um allgemeine Bestimmungen, Gattungen etc. – ist bloß der kleinste Teil der ungeheuren Denktätigkeit,die die Wissenschaft entfaltet, und in der sie ausdrückt, daß sie sich nicht mit dem empirischen Material bescheidet. Beschäftigt sich die Wissenschaft mit einem Phänomen, so will sie gerade „dahinterkommen“, es nicht in eine Sammlung von Fakten aufnehmen, sondern erklären.

Indem sie nach dem Grund oder den Ursachen der Phänomene fragt, entdeckt sie ihre notwendigen Zusammenhang, und faßt diesen in Gesetzen. Dabei verfährt sie systematisch und bringt ihre Themenkreise in eine sinnvolle Ordnung. Beispielsweise erklärt die theoretische Physik ganze Gegenstandsbereiche aus wenigen ersten Gleichungen (Prinzipien der Mechanik, Maxwellsche Gleichungen der Elektrodynamik).


Der „grüne Logarithmus“ oder „die Zeit sehen und den Raum riechen ...“

Die Wissenschaft hat es also mit allgemeinen Bestimmungen zu tun. Der Physiker kann die Masse als solche nicht zeigen, und die Keplerschen Gesetze sind nicht an den Himmel geschrieben. So konnte Hegel über den Empiristen Newton spotten,

„daß es ihm wie einem anderen seiner Landsleute gegangen ist, der sich höchlich verwunderte, als er erfuhr, daß er in seinem ganzen Leben Prosa gesprochen hatte, indem er sich nicht bewußt, daß er so geschickt sei; – dies erfuhr Newton nie, wußte, nicht, daß er Begriffe hatte und mit Begriffen zu tun hatte, während er mit physischen Dingen zu tun zu haben meinte...“ (20, S. 231).

„Empirische Wissenschaft“ ist also ein Widerspruch in sich, denn die Wissenschaft begreift die Empirie, anstatt sie bloß wiederzukäuen. Es gibt nun allerdings Linke, die in ihren Büchern – Beispielen schlechter Wissenschaft – jene Leistung für revisionsbedürftig erachten. Einer von vielen ist Vahrenkamp: „Daß diese Methode dem Alltagsverstand unüberwindliche Schranken entgegensetzt, am »wissenschaftlichen Erkennen« teilzunehmen, liegt in der Logik von Wissenschaft als bürgerlicher Ideologie.“ (ebd., S. 217). Demnach müßte es am wissenschaftlichen Sozialismus liegen, wenn Leute wie Vahrenkamp ihn nicht begreifen.

Die Richtigkeit der naturwissenschaftlichen Ergebnisse kann nun nicht bestritten werden. Das Studium, das heißt der inhaltliche Nachvollzug der Theorien zeigt ihre Haltbarkeit, und selbst unser staunender Laie staunt nur deshalb, weil ihm die Wissenschaft in einem Einzelfall vorhält, was es mit der Sache nun wirklich auf sich hat. Es bezeichnet nur das Elend einer Diskussion über die Nw., wenn Leute diese Geltung in Frage stellen wollen, die von ihr absolut überzeugt sind, bevor sie nur einen Lichtschalter betätigen.

Die Richtigkeit der Naturwissenschaft erklärt zunächst einmal auch den Unterschied zum Erscheinungsbild der Geisteswissenschaften. Die Naturwissenschaft kennt nicht deren Pluralismus, anders als dort werden sich widersprechende Theorien nicht geduldet als nur mögliche Wahrheit, vielmehr wird der Widerspruch überwunden durch Widerlegung der falschen Theorie oder in einer wirklichen Einheit beider.

Bekannte Beispiele dafür gibt es in der modernen Physik; so wurde die klassische Mechanik als Grenzfall in die Relativitäts- und Quantentheorie aufgenommen oder eine einheitliche Theorie des Lichts an die Stelle des Wellen- und Korpuskel-„Bildes“ gestellt.

Einen Freund der „empirischen Wissenschaft“ ficht das nicht an; er beruft sich auf die experimentelle Vorgehensweise der Naturwissenschaft. Ist ihm doch diese Beleg dafür, daß die Gültigkeit der Wissenschaft auf der empirischen Kontrolle der Gedanken beruht, sich diese an der Wirklichkeit erst bewähren müssen.


Das Experiment – per aspera ad astra?

Das Experiment ist wohl die populärste Eigenheit der Naturforschung, ist es doch augenfällig mit der Geschichte wirklicher Naturwissenschaft verbunden. Man kann es „sehen“, was die Wahrheit ist – Galilei ließ (wohl als erster?) wirklich einmal ein paar Kugeln fallen, und schon war es aus mit der mittelalterlichen Finsternis, sagt eine Legende, der allenfalls die Reflexion auf die meßtechnischen Möglichkeiten seiner Zeit entgegengestellt wird. Dem Experiment gilt auch die Liebe zeitgenössischer Methodologie;: ihm sei der Erfolg der Naturforschung zu verdanken, den die Geisteswissenschaft erst durch Nachahmung erreichen könne. Und damit meinen sie, ganz im Einklang mit dem Selbstverständnis der meisten Naturforscher, daß es im Experiment auf die konsequente Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse ankomme. Nach dieser Auffassung sind theoretische Aussagen über einen Gegenstand subjektiv, Einfälle, Phantasterei – bis sie mit dem empirischen Gegenstand verglichen, nun erst objektiv werden. Doch ist die geforderte Überprüfung schlechterdings nicht zu leisten.

Die Sicherheit, die darin liegt, daß man seine Erfahrungen mit dem einzelnen Gegenstand bereits gemacht und über ihn nachgedacht hat, soll nun erst noch gesucht werden und ausgerechnet im Ausgangspunkt jener notwendigen Bemühungen zu finden sein. Dieser Vergleich stellt also die theoretische Aussage, die den Gegenstand in allgemeine Bestimmungen faßt, dem einzelnen beobachtbaren Fall gegenüber – der ihr so gänzlich inkommensurabel ist.

Was da den Geisteswissenschaften als Schlüssel zum Erfolg empfohlen wird, kann also gar nicht das Verfahren sein, das die Naturforschung so erfolgreich praktiziert; experimentelle Hypothesenüberprüfung ist hier wie dort eine Unmöglichkeit. In der Naturwissenschaft ist von induktiven „Beweisen“ auch nichts zu entdecken. Weil sie weiß, daß der Stein fällt, fordert sie nicht, daß mit allen Steinen der Versuch gemacht werde – sie wäre sonst nicht weit gekommen! Damit stellt sich allerdings die Frage, was das Experiment ist, und was es heißt, daß die Naturforschung ohne ihre Versuche nicht vorzustellen ist.

Zur Analyse des Experiments ist nun an eine simple Unterscheidung zu erinnern, die den Verfechtern der Verifikation gleichgültig sein kann und ist. Das Experiment ist nicht einfach der Beobachtung oder gar Wahrnehmung gleichzusetzen, vielmehr will es bestimmte Beobachtungen künstlich herbeiführen, die nicht an und für sich interessieren, sondern in der Weise, wie sie zustande kommen. Die einzelne Wahrnehmung ist im Experiment banal – ein jeder hat schon rotes Lackmuspapier gesehen – und interessiert nur als Ergebnis eines verständig inszenierten Naturvorgangs – der Chemiker fragt, ob der Indikator sich färbt, wenn bestimmte Stoffe zusammen gekocht oder unter Druck gesetzt werden. Die Natur wird praktisch verändert. Elemente eines vorliegenden Zusammenhangs werden technisch isoliert, um als Bedingungen zusammenzuwirken und ein neues Phänomen zu produzieren. Die Bedingungen werden bewußt variiert, systematisches Experimentieren vollzieht ganze Versuchsreihen unter solcher Variation (was nota bene nichts gemein hat mit der albernen Vorstellung, die Vertausendfachung ein und desselben Versuchs vergrößere seine Beweiskraft).


Die praktische Tätigkeit des Forschers im Experiment wird angeleitet von einer Fragestellung, die aus früheren Erkenntnissen resultiert, und kann nicht ohne bereits vorhandenes Wissen vonstatten gehen, dessen Anwendung erst dazu befähigt, die angestrebte Beziehung bestimmter Gegenstände, reine Substanzen etc., und das planmäßige Handeln des Forschers zeigen, daß das Experiment einen Fortschritt der Erkenntnis vermitteln soll. Wissen ist vorausgesetzt, neues soll vorbereitet werden, wofür einschlägige Erfahrungen bereitzustellen sind. Das Experiment hat also gar nicht die Aufgabe, den Naturgesetzen ihre objektive Gültigkeit erst noch zu verschaffen – es wäre dann nicht durchführbar. Es ist eine Tätigkeit außerhalb der Erkenntnis, nichts Konstitutives für ihre Wahrheit, die gleichwohl nur deshalb vollzogen wird, damit die Natur erkannt wird. Das Experiment ist ein Mittel der Naturerkenntnis.

Nun muß jede Wissenschaft, die die äußere Realität erkennen will, von der unmittelbaren Wahrnehmung ausgehen. Aber statt nun die Natur zu nehmen, wie sie ist, statt durch Zusehen zu lernen, greift der Experimentator störend in ihren Ablauf ein, macht etwas ganz anderes aus ihr, als sie ist. Zwar kann er in seiner praktischen Tätigkeit nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h., ihr nur solche Phänomene abzwingen, die ihr eigentümlich sind; doch scheint die ganze Mühe nur vom Wesentlichen abzulenken. (Goethe hatte darin den Fehler der Spektralzerlegung des Lichts gesehen: man muß das Zimmer dunkel machen, nur ganz wenig Licht hereinlassen etc.). Wie kann es dann aber möglich sein, daß das Experiment der Erkenntnis irgendetwas nutzt?

Der Grund dafür, daß es als Mittel der Naturerkenntnis tatsächlich taugt und nötig ist, muß im Gegenstand der Forschung liegen: zu ihm muß ja das Instrument passen, als das das Experiment verwendet wird.

Ist das Experiment notwendig, die bloße Aufmerksamkeit auf das Phänomen also unzureichend als Grundlage seiner Erforschung, so ist bereits ein Urteil über den Gegenstand der Erkenntnis ausgesprochen. Seine ihm adäquate Existenz muß erst produziert werden, er ist das, was er ist, nicht schon von selbst, aus eigener Vollkommenheit, sondern nur unter bestimmten Bedingungen. Er ist etwas Relatives; seine Beschaffenheit ist nur realisiert im Verein mit anderen Gegenständen, von denen er abhängt; seine Bestimmtheit liegt im Verhältnis zu anderen Dingen.

Dieser Charakter des Gegenstandes liegt auch der Vervielfältigung der Experimente zugrunde. Diese hat die Bedeutung, den Gegenstand aus seinen zufälligen Verwicklungen zu befreien. Gesucht ist das notwendige Verhältnis, das „reine“ Phänomen; was am empirischen Nebeneinander unwesentlich ist, soll in der Abwechslung der Umstände verloren gehen. Die Herrschaft des Zufalls in der Natur, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, heißt aber nichts anderes als die Abhängigkeit der Gegenstände von äußeren Bedingungen.

Es ist also ein Charakteristikum der Natur selbst, auf das der Forscher in seinen Versuchen Bezug nehmen muß: er experimentiert, weil er Naturwissenschaft betreibt.

Ohne Hoffnung oder Ick bün allhier!

Man muß die Naturwissenschaft danach beurteilen, was sie tut, nicht danach, was sie sich selber dünkt. Sie hat ein Problem tatsächlich nicht, das ihr die Methodologen anhängen und die Geisteswissenschaftler abgucken wollen: sie verzichtet auf Verifikation ihrer Ergebnisse. Das kann die Forscher selbst jedoch nicht hindern, das Gegenteil zu behaupten; ihre Reflexionen zur eigenen Wissenschaft beinhalten meist die Überzeugung, daß sie ihre Ergebnisse mit der Erfahrung bewiesen hätten. Bisweilen werden unter Voraussetzung desselben Empirismus aber auch Zweifel angemeldet, sodaß sich der Student, der irrtümlich sein Physikbuch schon auf Seite 1 aufschlägt, mit Popperscher Wissenschaftstheorie konfrontiert sehen kann. – In der Einleitung des Werks „Mechanik, Relativität, Gravitation“ von Falk & Ruppel finden sich zum Thema „Falsch und richtig in der Physik“ die erstaunlichen Ausführungen:

„Jede generelle Aussage über die Welt kann zwar definitiv als falsch nachgewiesen werden, niemals aber als definitiv richtig... Dieser Mangel ist in der Tat hoffnungslos, denn es handelt sich bei der Physik keinesfalls um eine temporäre Lage, die lediglich auf einem Mangel an Information beruhte, der sich bei genügendem Warten (?) beheben ließe, sondern um eine Naturnotwendigkeit... Wenn wir uns trotzdem ein Bild der Welt machen wollen, müssen wir uns notwendig auf die Information stützen, die wir haben, und mit dieser ein Bild entwerfen (Wissenschaft!) und damit zu weiteren Informationen vorstoßen. Das ist ein Naturgesetz ...“ (20, 21)

Es handelt sich hier um das erst in der Neuzeit verbreitete Paradox, daß der Professor sagt: alle Professoren lügen. Die Aussage über jede generelle Aussage ist eine generelle Aussage, und wohl auch eine über die Welt; denn der Ausweg, der übrigens ein Holzweg ist, die Aussagen aus der Welt zu schaffen, in ein logisches Himmelreich der Metatheorien zu flüchten, wird nicht beschritten, ist doch von der hoffnungslosen Lage als einer Naturnotwendigkeit die Rede. Falk & Ruppel bringen also zum Ausdruck, daß sie noch nicht einmal definitiv wissen, daß sie nichts wissen. Manch einer würde jetzt die Wissenschaft an den Nagel hängen und sich selbst dazu. Oder sich den Fehler klarmachen, der, weit entfernt von jeder Naturgesetzlichkeit, darin besteht, die Möglichkeit von Erkenntnis bestimmen, also vor dem Erkennen erkennen wollen, ein Zirkel, in dem die Erkenntnis wie der Swinigel zum Hasen sprechen muß: ick bun allhier! Falk & Ruppel dagegen schreiben ein dickes Buch über physikalische Gegenstände, das nurmehr wie folgt verstanden werden soll:

„richtig und falsch sind in der Physik tatsächlich ein sehr unzweckmäßiges Begriffspaar. Man sollte statt von falsch und richtig besser von brauchbar und nicht brauchbar sprechen.“ (21)

Die Autoren hätten sich ihren Scharfsinn sparen und gleich mitteilen können: weil wir falsch-richtig schon für unzweckmäßig erachten, d. h. wohl unbrauchbar, soll auch fürderhin nur noch von Brauchbarkeit die Rede sein. – Ihr Buch ist trotzdem brauchbar: es enthält richtige Erkenntnis.

 
Die „Bürokratie des Gesetzes“?

Wenn die Notwendigkeit des Experiments zeigte, daß die Naturwissenschaft gemäß dem objektiven Charakter ihres Gegenstandes verfährt, so muß der Einwand linker Kritiker verwundern, in der „quantifizierenden“ Naturerkenntnis ginge das Qualitative der Natur verloren. Die Naturwissenschaft mißt und rechnet, ihr Resultat besteht in Gesetzen, die quantitative Verhältnisse sind und was ein Gegenstand oder ein thematischer Bereich ist, wird in einer Reihe von Formeln geklärt, deren Zusammenhang sich durch mathematische Ableitungen ergibt. Dies nun dient philosophisch interessierten Linken zum Anlaß, in der Naturwissenschaft die kapitalistische „Verdinglichung“ am Werk zu sehen (Wenn es ihnen auch noch auf Veränderung ankommt, ziehen sie sich nicht selten in die „Landkommune“ zurück), Lukacs z. B. hatte von einer „Mißachtung des Konkreten an der Materie des Gesetzes“ gesprochen (Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 112), zwar im einzelnen eher auf eine falsche Auffassung der Gesellschaft denn der Natur abgezielt, aber damit einen Popanz spezifisch kapitalistischer Rationalität in die Welt gesetzt, der sich durch Kalkulation auszeichnen und deshalb kritikabel sein soll. Das Thema wird nun variiert, bis es in allen Spektralfarben der edition suhrkamp schillert: was den Autoren jeweils auffällt ist die Form der Naturgesetze; was ihnen dazu einfällt, ist ein Analogon in der kapitalistischen Ökonomie. Solche Vergleiche kann es viele geben, wenn man es nicht so genau nimmt bei dem, was man in Beziehung setzen will, der eine erklärt die Gestalt der Naturerkenntnis aus dem Charakter des Produktionsprozesses, der andere aus dem Warentausch (s. o.) und Habermas gebührt das Verdienst, solch eine „Erklärung“ zu einem „transzendentalen Gesichtspunkt möglicher technischer Verfügung“ emporgehoben zu haben. (Technik und Wissenschaft als Ideologie, S. 72). – Ein Beispiel für das Verfahren:

„Aber die abstrakte Ware Zucker ist ein anderes als die Sache Zucker, und die abstrakten Gesetze der mechanischen Naturwissenschaft sind ein anderes als das inhaltliche Substrat, zu dem diese Gesetze keinen Bezug unterhalten“,

schreibt Bloch im „Prinzip Hoffnung“, S. 778 (der übrigens wissen müßte, daß Marx die Ware Zucker zunächst als die Sache Zucker bestimmt). Ein weiteres Beispiel – Vahrenkamp – haben wir schon oben zitiert. Damit wären nun allerlei gute Gründe für einen Mangel an der Naturwissenschaft gefunden.

Worin aber soll der eigentlich bestehen? Aus der bloßen Abstraktion ist nicht gut ein Vorwurf zu machen, auch wenn Vahrenkampf sich dazu versteigt. Aber hier soll es sich doch um Wissenschaft handeln und nicht um jenen schon Marx bekannten Kultus der Natur, der sich beschränkt

„auf die sonntäglichen Spaziergänge des Kleinstädters, der seine kindliche Verwunderung darüber zu erkennen gibt, daß der Kuckuck seine Eier in fremde Nester legt etc.“ (MEW 7, 201).

Die Abstraktion der Gesetze soll denn auch darin bestehen, daß sie etwas weglassen von der Natur. Vahrenkamp reicht es, daß diese Abstraktionen die „Einheit des Naturprozesses in einzelne Gesetze oder Postulate“ auflösen, „die als voneinander unabhängig angesehen werden“ (S. 212), Bloch dagegen wird da deutlicher:

„Vor allem ist die seit dreihundert Jahren aufgebaute Physik eine, welche nicht nur von Wertungen, sondern auch von Farben, Tönen, kurz von allen Qualitäten abstrahiert. Farbe ist Schwingung, 1 Kalorie Wärme ist gleich 427 Meterkilogramm Arbeit und sonst nichts.“ (Subjekt-Objekt, S. 208)

Wenn freilich die Wissenschaft beweist, daß es sich so verhält, dann bleibt den Kritikern nichts übrig, als die Geringschätzung der Mathematik, der Zahl überhaupt. Wenn die verschiedenen Farben auf Frequenzen, d. h. Schwingungszahlen zurückgeführt werden können, ist die Berechnung notwendig zur Bestimmung der Qualität und alles andere ist Abstraktion von ihr. Jeder kennt Beispiele, wo Quantitätsverhältnisse nicht das Wesen einer Sache treffen, es ist jedoch absurd, damit der Kategorie „Quantität“ ihr Recht in der Wissenschaft absprechen zu wollen. Die eilfertige Polemik „Was ist eine halbe Vernunft »ein Drittel Wahrheit«?“, muß sich den Spott von Marx gefallen lassen: „Was ist ein grün angelaufener Logarithmus?“ (MEW 3, 501).


Wieviele Seiten hat das Dreieck, wieviele Beine hat der Hund?

Es gibt aber auch gutbürgerliche Physiker, die ein ähnliches Unbehagen spüren, wie unsere „Marxisten“. Es muß etwas faul sein an den Naturgesetzen, denken sie, wenn man nicht auf anständige qualitative Weise sagen kann, was es mit einem Ding eigentlich auf sich hat, bevor man Berechnungen darüber anstellt. Diese gestandenen Bürger müssen natürlich der Erkenntnis überhaupt als Mangel zuschreiben, was die Marxisten leichthin dem Kapital unterjubeln können. Es kann sich bei den Gesetzen also nur um Axiome, Definitionen handeln; denen nichts reales entspricht; indem man so ein Gesetz aufstellt, etwa K = m x b, einigt man sich erst darauf, wie die darin vorkommenden Kategorien Kraft und Masse zu gebrauchen sind.

So ein Mann der gelehrten Vereinbarungen wird dann von der eigenen Definition erschlagen, wenn ihm ein Ziegel mit K auf den Kopf fällt.

„Was denken von dem Zoologen, der sagte:»Ein Hund scheint 4 Beine zu haben, wir wissen aber nicht, ob er in Wirklichkeit 4 Millionen Beine hat oder gar keine?« Vom Mathematiker, der erst ein Dreieck als 3 Seiten habend definiert und dann erklärt, er wisse nicht, ob es nicht 25 habe? 2x2 scheine 4 zu sein?“

Friedrich ENGELS


An der Objektivität der Naturgesetze ist offensichtlich nicht zu rütteln. Die Kritiker ihrer Form nehmen sie nicht als wissenschaftlichen Ausdruck einer bestimmten Sache, sondern wollen unabhängig von dieser klarstellen, als was sie zu erkennen sei. Sie folgen damit nur einer verbreiteten Auffassung der Naturwissenschaft. Denn wer über sie als „exakte Wissenschaft“ urteilt, verknüpft mit dieser Tautologie entsprechende Vorstellungen: Darin, daß die Naturwissenschaft mißt und rechnet, glaubt er den Grund für ihre Exaktheit gefunden zu haben; weil sie so verfährt, gelange sie zu richtigen Urteilen. Wer so schließt, ohne den Gegenstand der Wissenschaft überhaupt mit in Betracht zu ziehen, kann auch weiterschließen: würde die Geisteswissenschaft genauso verfahren, so wäre dort aus und vorbei mit den unklaren Begriffen und pluralistischen Standpunkten. Die Naturwissenschaft wird so zur vorbildlichen Wissenschaft, ihre „Methode“ zur einzig wissenschaftlichen. Was dieser Auffassung vorschwebt, ist die notwendige Kontrolle von Ergebnissen der Kalkül schaffe Eindeutigkeit, eine mathematische Ableitung könne - man nachrechnen. Freunde und Kritiker der „quantifizierenden Methode“ sind sich also einig im Vorurteil, daß es die Form der Naturgesetze zu diskutieren gälte, ohne jede Rücksicht darauf, daß diese Gesetze einen Inhalt haben, Gesetze der Natur sind. Blochs Formulierung, daß „diese Gesetze keinen Bezug unterhalten“ zu ihrem inhaltlichen Substrat, Vahrenkampf Säuernis über die kapitalistische Willkür der Abstraktionen entspricht genau dem landläufigen Jubel über das formale Verfahren der Naturwissenschaft als wissenschaftlicher Methode par excellence: beide Positionen halten Wissenschaft und Sache auseinander. Doch sind Gesetze notwendige Verbindungen von Kategorien, die verschiedene Gegenstände ausdrücken. Sie sind quantitative Verhältnisse, Korrelationen sogenannter Größen.

Kraft ist Masse mal Beschleunigung, lautet ein solches Gesetz. Behauptet wird mathematische Gleichheit, es wird multipliziert, man kann die Gestalt der Gleichung durch einschlägige Rechenoperationen verwandeln: das Gesetz zeigt seine Momente als Quantitäten. Aber nicht das bestimmte Quantum eines Naturgegenstandes, das zufällig, weil seinem Charakter gleichgültig, wäre, wird in einem Verhältnis entscheiden, d. h. nicht etwa gesagt, wie groß diese Masse und jede Kraft wäre; sondern das Gesetz drückt etwas inhaltliches aus: der Beschleunigung ist die Kraft direkt, die Masse umgekehrt proportional, die beiden haben entgegengesetzte Wirkung auf die Bewegung, heißt eine Folgerung aus unserem Beispiel. Das Gesetz zeigt also, daß die qualitativen Unterschiede seiner Momente ihre Bestimmtheit in der Quantität finden.

Nun handelt es sich bei dem Naturgesetz nicht um einen bloß mathematischen Ausdruck, sondern die Erkenntnis von Naturgegenständen. In unserem Beispiel ist eine Aussage über Kraft, Masse, Beschleunigung gemacht, und nicht allein eine Multiplikationsaufgabe gestellt. Die Größen, die man in die Gleichung einsetzen kann, drücken ganz verschiedene Dinge aus. Sie sind durchaus inkommensurabel, haben verschiedene Maßeinheiten. Im Gesetz ist das Unterschiedene aber vereinigt, die Gegenstände sind im Verhältnis erkannt. – In unserem Beispiel etwa sind Kraft und Masse unvergleichbare Größen, x kg Masse ist weder größer noch kleiner noch dasselbe als y m/sec2 Beschleunigung. Sie gelten aber nur nach ihrer Beziehung aufeinander, so daß sich ihre Größen wechselseitig vertreten können: aus 1 kg und 5 m/sec2. oder 5 kg und 1 m/sec2 berechnet sich nach unserer Formel dieselbe Kraft. – Wir erhalten hier zum zweiten Male Einsicht in den Charakter des Naturgegenstandes. Im Gesetz ist der Inhalt der Momente in ihrem Verhältnis zueinander gegeben. Die einzelnen Momente, die als selbständige auftreten, sind für sich nichts, wenn ihre Bestimmtheit erst in der Beziehung liegt: Dies ist die Äußerlichkeit der Natur.


Eine „weltfremde“ Wissenschaft ...

Während die falschen Bewunderer der Naturwissenschaft zumeist keine Probleme haben, die enorme Leistung naturwissenschaftlicher Erkenntnis für die Entwicklung der „Menschheit“ zu preisen, haben sich die linken Zweifler am wissenschaftlichen Charakter dieser Disziplin den peinlichen Zwang auferlegt, ihre unbestreitbare gesellschaftliche Nützlichkeit noch erklären zu müssen. Vahrenkampf bietet hier eine vorbildliche Leistung. „Lebensfremd“, „wesentlich kontemplativ“ und weitab von den Problemen der Produktion und damit der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Natur war die bürgerliche Naturwissenschaft.

Ihre „Abkapselung von der Handarbeit“ war „besiegelt“, überhaupt stellte sie einen unbegreiflichen gesellschaftlichen Luxus dar, denn:

„Der Maschinenbau hat sich aus dem Handwerk entwickelt, aber nicht aus der Newtonschen Mechanik.“ (218)

Doch das blieb nicht so, denn diese Weltfremdheit war offensichtlich grad das richtige fürs Kapital:

„Die Art und Weise der bürgerlichen Wissenschaft, Naturprozesse in ihren scheinbar esoterischen Aspekten theoretisch zu betrachten, macht die Wissenschaft einer Unterordnung unter die Zielsetzungen des industriellen Kapitals zugänglich.“ (220)

Und diese sind, wie jeder weiß, sehr materiell. Die ideologisch-abstrakten Axiome konnten also durchaus handfest werden und mit ihnen neue Maschinen, Produktionsprozesse kurz technologischer Fortschritt im Dienste des Kapitals zustandegebracht werden.


... verändert die Welt

Obwohl eine „von der Handarbeit geschiedene Theorie ein völlig unzureichendes Verständnis des Produktionsprozesses bietet“ (227), ja dieses dogmatische System der bürgerlichen Naturwissenschaft etwa in Form der Differentialrechnung ein „Beispiel für den Herrschaftscharakter der bürgerlichen Wissenschaft gegenüber der Handarbeit“ (225) liefert, konnte es also durchaus praktisch erfolgreich angewandt werden, und auch die besagte Differentialrechnung durch die kulturrevolutionären Chinesen auch im Produktionsprozess selbst „anschaulich“ gemacht werden, „wenn, ein Maschinenschlosser ein Metallstück zu einem runden Gegenstand feilt.“ (225) Doch läßt der hartnäckige Kritiker von der selbstgeschaffenen Chimäre bürgerlicher Naturideologie nicht so einfach ab, hält ihr vielmehr ihre Anwendbarkeit als Moment ihrer Aufhebung vor:

„Ihre Unterordnung unters Kapital hat die Wissenschaft weiterentwickelt, von einer versponnenen Form bürgerlicher Ideologie zur angewandten Forschung, die in eine dem Produktionsprozeß stets näherkommende Kette von Forschung, Entwicklung, Konstruktion und Erprobung zerfällt. Die angewandte Forschung hat sich also teilweise mit dem Produktionsprozeß direkt auseinanderzusetzen; daher entwickelt sich in ihr ein Moment der Aufhebung von bürgerlicher Wissenschaft. Denn in der praktischen Auseinandersetzung mit der Natur wird die Sucht der bürgerlichen Wissenschaft, Naturgesetze auf abstrakte Axiome zu reduzieren, offensichtlich unsinnig.“ (223)

Solch waghalsigen Seiltänze muß unser kruder Theoriefeind offensichtlich machen, um sich hartnäckig vor der implizit überall ausgesprochenen Erkenntnis zu drücken, daß eben diese theoretische Naturwissenschaft mit ihren widernatürlich, widersinnlichen abstrakten Axiomen Grundlage der technologischen Entwicklung und der darin ausgesprochenen umfassenden Naturbeherrschung durch die kapitalistische Gesellschaft ist. Selbst ein so verkommener Wissenschaftler muß also zugestehen, daß die Naturwissenschaft richtige und als solche nützliche Ergebnisse erbringt. Dies wundert freilich nicht, konnten wir doch aus der Analyse des Experiments und des Naturgesetzes den allgemeinen Charakter des Naturgegenstandes erschließen. Seine Beschaffenheit besteht in Verhältnissen; die Realisierung besonderer Gestaltungen liegt nicht in ihnen selbst, sondern ist etwas von außen Bestimmbares. Die Natur ist damit als ein Material gekennzeichnet, dem sich durch äußere Einwirkung besondere Formen abverlangen lassen, mithin solche Formen, in denen sie den Zwecken der ihr gegenüberstehenden Subjekte entspricht (In seiner praktischen Tätigkeit läßt sich dann das Subjekt von der Naturerkenntnis leiten, die ihm sagt, welche Eingriffe – hier tritt der Mensch letztlich selbst als Naturmacht auf – es vornehmen muß, damit ein Gegenstand die gewünschten Eigenschaften erhält). Die Naturwissenschaft charakterisiert also selbst schon ihren Gegenstand als „Sache der Nützlichkeit“, die ihren Zweck nicht in sich selbst trägt, sondern äußerer Bestimmung unterworfen ist. Als durchgeführte Erkenntnis der Natur entspricht also die Naturwissenschaft dem Verlangen der Gesellschaft nach nützlichem Wissen.

Alle Denunziationen der Naturwissenschaft als „imperialistischer Kriegs-, Destruktions- etc. Wissenschaft, mit der sich zumeist die linken Organisationen begnügen, trifft also gar nicht sie selbst, sondern die gesellschaftlichen Zwecke, denen sie durch die Gesellschaft unterworfen wird, ohne daß dies ihrem Charakter als Wissenschaft Abbruch täte. Marx hat denn auch an der Naturwissenschaft das emanzipatorische Moment festgehalten – die einschlägigen Passagen werden auch von den angesprochenen Revisionisten häufig zitiert – und sich die Kritik für die gesellschaftlichen Zwecke aufgespart, gemäß denen die Naturerkenntnisse praktisch gemacht werden. Wie die agententheoretischen Lamentos über den schlechten Charakter der Naturwissenschaftler, die sich von den Bossen kaufen lassen, beruhen aber auch die pure Affirmation naturwissenschaftlichen Fortschritts als schon geleistetem Dienst an der Menschheit, oder auch die skeptische Studienratsfrage nach Segen und Fluch der Technik, bzw. ihre wissenschaftlich aufpolierte habermassche Variante von den immanenten Zwängen der technischen Entwicklung auf derselben Verwechslung von Naturerkenntnis und gesellschaftlichen Zwecken, denen die Natur mit ihrer Hilfe dienstbar gemacht wird.

Nicht erst die allenthalben festzustellende Diskrepanz zwischen den „Möglichkeiten“, die richtige Naturerkenntnis bietet und der Wirklichkeit einer mit jedem Fortschritt zugleich sich gefährdenden Gesellschaft braucht man sich ins Gedächtnis zu rufen, um sich von der Naturwissenschaft schleunigst der Untersuchung der Gesellschaft zuzuwenden. Auch brauchen wir uns nicht mit dem Ergebnis zu begnügen, daß offensichtlich unsere Gesellschaft mit der Natur fertig geworden ist. Der auffällige Widerspruch zwischen gelungener Naturerkenntnis und Beherrschung und völligem Mißverständnis dieser Leistung bei allen, die in dieser Gesellschaft sich darüber Gedanken machen, läßt durchaus den Schluß zu, daß diese Gesellschaft offensichtlich bisher nicht über ein der Naturbeherrschung entsprechendes Wissen über ihr eigenes theoretisches und praktisches Tun verfügt.

Daß sich daran seit 100 Jahren nichts geändert hat, kann kein Zufall sein.

Aus dem Rahmen gefallen

Erst ist der II. Hauptsatz der Thermodynamik aufgestellt worden. Der sagt ungefähr, daß die Umwandlung von mechanischer Energie in Wärme ein irreversibler Prozeß ist, daß aus Wärme nicht einfach wieder Arbeit entsteht. Daraus hat man den „Wärmetod der Welt“ gefolgert: nichts rührt sich mehr dereinst. Dazu hat sich Engels notiert, daß die einmal abgelaufene Weltuhr wieder aufgezogen werden kann, denn sie ist aufgezogen gewesen. Und dann ist der KSV gekommen.

„Die Theorie vom Wärmetod wird zum Zweck vermeintlich wissenschaftlicher Begründung religiöser Phantasie über ein Ende der Welt oder ein jüngstes Gericht erfunden“.

Und höre nur, wie bös er war!

„Von hintenherum (?) wird hiermit dem großen Schöpfer, der in einem genialen Akt den ganzen Weltlauf in Gang gebracht hat, Eintritt in die exakte Naturwissenschaft verschafft.“

Die Pfaffen bestimmen immer noch, was gedacht wird – und das in der Bürgerlichen Gesellschaft. Wie aber kommt es dazu?

„Glauben sich die Naturwissenschaftler loszusagen von allem, was außerhalb ihrer Formeln vor sich geht, glauben sie eine starre Trennungslinie zwischen der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Praxis ziehen zu können, so greifen sie dann, wenn die platte Empire zur Erklärung der Wirklichkeit versagt, unbewußt (also doch nicht zum Zweck.. ) auf die Ideen, Gedanken und Vorstellungen zurück, gegenüber denen sie vorher selbst vorgeben, sie aus der objektiven Wissenschaft fernzuhalten. Kategorien reaktionärer und geschichtlich überwundener Philosophen finden Eingang in die Formulierung und Interpretation naturwissenschaftlicher Gesetze. Und was läßt sich dagegen tun? Ausgehend von Ideen, die die fortschrittliche Klasse repräsentieren, wollen, wir in einem Arbeitskreis diejenigen Theorien und Vorstellungen in der Naturwissenschaft kritisieren, die die gesellschaftliche Praxis nur einseitig sehen und daher notwendig zu falschen Ergebnissen kommen.“ –

Nochmal von vorne, bitte. Trennung der Wissenschaft von der gesellschaftlichen Praxis, d. h. wohl Beschränkung der Wissenschaft auf ihr Thema, läßt unbewußt geschichtlich überwundene Philosophie in die Wissenschaft eindringen. Es muß da einen leeren Raum geben in der Erkenntnis der Naturwissenschaft, eine Art geistiger Tiefdruckzone, die unablässig philosophische Gedanken an sich zieht. Also kommt es darauf an, das Reservoir anderer, nämlich der fortschrittlichen Ideen, an dies Vakuum anzuschleißen. Diese Wissenschaft scheint zur Unsachlichkeit verdammt, es gibt nur eine fortschrittliche und eine reaktionäre Unsachlichkeit, deren Differenz allein darin liegt, wie man die gesellschaftliche Praxis sieht. Doch halt! Den oben erwähnten

„Ansatz (Trugschluß oder nicht?) von Engels gilt es weiter zu entwickeln, und zu prüfen, wie er mit weiteren Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft in Übereinstimmung steht.“

Die Naturwissenschaft hat also doch Erkenntnisse, an denen sich sogar Engels' Gedanken überprüfen lassen. Was bleibt denn da noch zu tun übrig? Man kann auch über etwas ganz anderes reden, nämlich die „Methode des dialektischen Materialismus“:

„Das Studium der dialektischen Logik stellt also den Rahmen (!) und übergeordneten Gesichtspunkt (!) dar, den es zur Lösung beispielsweise solcher Theorien vom Wärmetod bedarf (!!).“

(Zitate aus: „Dem Volk dienen“ Nr. 14/ 1974)


aus: MSZ 1 – November 1974

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