Kritischer Psychologenkongreß in Marburg/Lahn: Seelenarbeit für die Arbeitsseele
Da sich die Versammlung über das Ziel der Veranstaltung einig war, die Abschaffung des Kapitalismus unter dem Motto des Promotors der kritischen Psychologen Holzkamp: „Das Kapital ist sein eigener Totengräber, wenn man die Bedingungen seiner Aufhebung schafft.“, ging es um viel Fachliches. Die Vorträge kreisten im Wesentlichen um den zentralen Gedanken, daß der „Mensch ein gesellschaftliches Wesen“ sei, näher, auf Psychologisch, daß der Mensch eine „gesellschaftliche Natur“ habe, was ganz wörtlich zu nehmen ist. Die kritische Psychologie sah sich in die Lage versetzt, den hohen Stand ihrer wissenschaftlichen Forschung unter Beweis stellen zu können; auch wenn man das Gemeinschafts-Gen noch nicht vorweisen konnte, da die DFG-Gelder noch nicht fließen, konnte mit einem praktischen Ergebnis aufgewartet werden: „Wenn der Mensch als Subjekthaftigkeit einen besonderen Organismus darstellt, dann kann es sich bei ihm nur um eine besondere Subjekthaftigkeit handeln.“ Tautologie hin oder her, was den Menschen zu etwas Besonderem macht, ist die Arbeit, der Mensch daher auch der Arbeiter. Die Höhe der Diskussion ist auch hier daraus zu ersehen, daß man nur noch in Detailfragen kontrovers ging. „Verrichtet ein Mensch, der nach Feierabend sein Eigenheim baut, Arbeit, oder sind hierfür eher die Begriffe Tätigkeit bzw. Handlung die tragfähigeren?“ oder „Trifft es, wie Wygodsky behauptet, wirklich zu, daß das Kleinkind erst mit 6 Monaten zu arbeiten anfängt oder hat Professor Jantzen (der mit der besonderen Subjekthaftigkeit) recht, der sich auf 2 Monate festgelegt hat?“
In dem solchermaßen theoretisch abgesteckten Rahmen ergab sich die therapeutische Anwendung wie von selbst. Wie aus dem Thema der Veranstaltung schon zu ersehen ist, ist der Geschädigte der Gesellschaft der Arbeitslose, weil ihm einfach seine Menschlichkeit entzogen ist. Da auf diesem Gebiet schon Ergebnisse der unkritischen Psychologie, der staatlichen Sozialhilfe und ganz allgemein des Volksvorurteils vorlagen, konnte man auf sie zurückgreifen und die Arbeit als Mittel gegen „neofaschistische Aktivitäten“, „Alkoholmißbrauch“, „Kriminalität“, das Desinteresse jugendlicher Arbeitsloser an den „Angeboten der Stadtbibliotheken“ und andere asoziale Verhaltensweisen propagieren. Einzelne Erfolge dieser Sozialtherapie konnten bereits vermeldet werden. So gelang es, die verstockte Klientin A., die nur mit ihrer Mutter reden wollte, an „den ihr angemessenen Arbeitsplatz“ zu vermitteln – als „Näherin“ für einen Stundenlohn von DM 4,83. Dem Klienten B., der beständig unter Todesangst vor einer lebensbedrohenden Krankheit litt, konnte klar gemacht werden, daß er sich nur der „Illusion“ hingebe, er könne „viel Geld verdienen, ohne etwas dafür zu tun.“
An Kritik am kapitalistischen Arbeitsprozeß wurde nicht gespart, auch wenn es zu bedenken gab, daß er immerhin schon ein Arbeitsprozeß ist. Aber nachdem man aus der Vielfalt der Lebensdaten extrahiert hat, daß Arbeit „die kooperative Planung und Herstellung konkreter Produkte – und damit die Kontrolle über das eigene Leben“ ist, konnte man dem Kapital den Vorwurf nicht ersparen, es sei wider die Arbeiter, wo doch ihr Sinn der Arbeit darin liegt, die Natur kollektiv zu meistern. Als gelungen darf hier auch der Vergleich mit dem biblischen Sündenfall im offiziellen Kongreßplakat gelten. Im Verhältnis zum Kapital lag eines der ernstesten Probleme des Kongresses. Denn einerseits war man sich klar, daß die Arbeiter, die die Verrücktheit besitzen, gegeneinander zu konkurrieren, also nicht gemeinschaftlich zu handeln, dringend einer Therapie bedürfen, andererseits, wie sollte man sie auf die Couch kriegen? Dummerweise halten die ganz unkritischen Betriebspsychologen alle Stellen mit Unterstützung der Herrschenden besetzt; und die Gewerkschaft, die als praktisches Mittel der Beförderung der kritischen Psychologie auserkoren wurde, zog nicht so recht. Ein paar untere Gewerkschaftsfunktionäre zogen sich trotz aller Angebote, „Tendenzen der Individualisierung“ im Arbeitsleben, Interessenkämpfe etc. zu analysieren und in gewerkschaftlichen Schulungen und Ähnlichem offenzulegen und damit Solidarität zu fördern, mit windelweichen Hinweisen auf die gewerkschaftliche Hierarchie aus der Affaire. Möglich, daß hier zwei verschiedene Begriffe von Solidarität zugrunde lagen. Die Hoffnungslosigkeit, die teilweise nur schlecht als Realismus getarnt werden konnte – „Wir dürfen unsere Bedeutung als Psychologen für die Gewerkschaft nicht überschätzen.“ – war wohl auch der tiefere Grund, daß der Kongreß gegen Ende sehr abbröckelte.
Ob die internationale Zusammensetzung der kritischen Psychologengemeinde („I think we need each other.“) und die Aufforderung von Holzkamp, dem Kongreß und seine Atmosphäre auch für private Kontakte zu nutzen, Früchte getragen hat, ist uns zur Stunde noch nicht bekannt.
aus: MSZ 29 – Mai 1979 |