Numerus Clausus: Viele Berufene – wenige Auserwählte
Zu viele Studierende sind also nicht erwünscht und es geht nur noch darum, auf welche Weise man den Zulauf zu den Hochschulen begrenzt. Denn solche Appelle an die individuelle Vernunft nützen wenig, wenn das Abitur immer noch weitaus mehr Schülern die Berechtigung zum Hochschulstudium erteilt als Studienplätze vorhanden sind. Feststeht, daß die Zahl gesenkt werden muß, indem man einem Teil der Abiturienten das Studium verweigert, die Frage ist allein, wie die Verlierer ausfindig gemacht werden sollen. Bei dem seit längerem in der Öffentlichkeit und vor den Gerichten verhandelten Problem der Gerechtigkeit der verschiedenen Auswahlverfahren handelt es sich nur mehr um die Suche nach solchen Kriterien, die gegenüber den Betroffenen deren Ausschluß von der Universitätsbildung legitimieren können. Gerecht ist das Verfahren, das einer bestimmten Menge von Hochschulanwärtern plausibel machen kann, warum ausgerechnet sie die Hoffnung auf ein Studium fahren lassen müssen, und damit steht auch schon fest, daß jede Regelung ungerecht ist. Der Zweck der Veranstaltung, die Zahl der Studienanwärter auf die Zahl der Studienplätze herunterzuschrauben, hat mit deren Befähigung oder Neigung zu irgendeinem Studium nicht das geringste zu schaffen, so daß diejenigen, die zum Verzicht gezwungen werden, Einwände genug gegen jede Regelung finden können, allerdings ohne damit Recht zu haben. Denn in ihrer Argumentation – sie führen ihre Eignung und Qualifikation ins Feld oder beharren darauf, daß es um ihre Lebensperspektive geht – verkennen sie den Charakter dieses Verfahrens.
Das zur Zeit gültige Zulassungsverfahren beharrt auf der Schulleistung als Entscheidungskriterium. Da zuviele das Abitur bestehen, werden die Studierfähigen anhand der Durchschnittsnote aussortiert. Wer unter einem bestimmten Schnitt liegt, kommt auf die Warteliste und hat sich zu überlegen, womit er die Wartezeit zubringt und ob er sich nicht eine andere Ausbildung suchen soll. Das steigende Interesse am Stoff, das in den Schulen als Reaktion darauf registriert wird, ist jedoch nicht einmal für die Lehrer in den üblicherweise weniger beliebten Fächern ein Anlaß zur Freude. Als oberflächlicher Ausdruck eines erbitterten Wettbewerbs um den Notenschnitt endet dieser Eifer nach jeder Klassenarbeit im Feilschen um die Noten. Die von Pädagogen einstmals geschätzte „Klassengemeinschaft“ übt sich im realitätsgerechten Konkurrenzkampf, erkennt die Prinzipien des Berufslebens frühzeitig an und erleichtert die Lehrer um einen Teil ihrer Aufgabe, indem jeder darauf achtet, daß „gute Noten“ auch „verdient“ sein müssen und sich niemand ungerechtfertigte Vorteile verschafft. Daß der Versuch abzuschreiben schon zu Schlägereien geführt hat, ist nur konsequent, denn schließlich sind es die anderen Schüler, die den eigenen Studienplatz gefährden – wie es den Betroffenen zumindest erscheint und jeder muß sein Interesse wahren. Auch Versuche gutwilliger Lehrer, das Geschacher durch eine insgesamt gute Notengebung zu beenden, treffen auf Skepsis, da auf diese Weise der Notendurchschnitt letztlich nur höher getrieben und die Konkurrenz weiter verschärft wird.
Da alles von den Noten abhängt, geraten unweigerlich diejenigen unter Beschuß, die sie verteilen: die Notengebung der Lehrer ist nicht objektiv. Geisteswissenschaftliche Rechtfertigungsversuche, daß der je individuelle pädagogische Bezug zwischen Lehrendem und Lernendem mit dem Bildungsprozeß untrennbar verknüpft und Leistung daher schlechterdings nicht objektivierbar, sondern nur in der innerlichen Ganzheit der Person aufzufinden sei, müssen fehlschlagen. In ihrer ungewollten Denunziation der Schule geben sie zwar zu erkennen, daß der Vorwurf mangelnder Objektivität auf den Inhalt des Schulunterrichts zurückfällt. Willkür in der Notengebung ist Reaktion auf die Willkür eines Lehrstoffs, der – Aufguß des Pluralismus bürgerlicher Wissenschaft – ein Sammelsurium unterschiedlicher Standpunkte präsentiert, aber schließlich interessiert sich niemand für den Inhalt der Schulleistung, es geht ja nur um die Noten. Wenn eine Viertel- oder Achtelnote über die Lebensperspektive entscheidet, ist Schluß mit der gemütlichen Bildungsvorstellung: die Objektivität des Kriteriums für den Zugang zur Hochschule muß hergestellt werden – koste es, was es wolle. Das Problem gewinnt zusätzliche Dimensionen durch die Notenstatistik der Bundesländer, ganze Schulsysteme benoten verschieden: die Durchschnittsnoten in Bayern liegen bei 2,6, in Westberlin aber nur bei 3,1. Ob bayerische Lehrer bessere Noten geben, bayerische Schüler klüger sind als andere oder das bayerische Schulsystem besser ist, kann die Statistik leider nicht entscheiden (Die Bonus-Malus-Regelung beseitigte eine Ungerechtigkeit, die Bevorzugung der bayerischen Schüler durch eine andere, die Benachteiligung bayerischer Schüler, und hat damit die Zulassungsregelung zu einem verfassungsrechtlichen Problem anwachsen lassen? die Objektivität der bayerischen Abiturnoten wurde schließlich durch die bayerische Verfassung höchstpersönlich bestätigt.). Es wird also vereinheitlicht. Die neu eingeführten Normenbücher, die bundesweit die Kriterien der Notengebunq in den einzelnen Fächern verbindlich machen, bieten jedoch die gleichen Angriffspunkte: nach wie vor sind es die einzelnen Lehrer, die unterrichten und die Kriterien zur Anwendung bringen. Die Gerechtigkeitsfanatiker werden daher auch nicht länger zögern, die Forderung nach einer durchcomputerisierten Schule oder zumindest der Umstellung des Unterrichts auf multiple-choice-tests einzubringen. Damit bliebe freilich nur noch solcher Wissensstoff übrig, der sich in Frage- und Antwort-Spiele einteilen läßt. An die Stelle der Relativierung jedes Gedankens träte seine Abschaffung. Die Schulbildung wäre endgültig auf den Hund gekommen, aber die Messung absolut objektiv.
Solange jedoch solche Wunschträume noch nicht verwirklicht sind, bleiben die Schulnoten ein fragwürdiges Kriterium unter der Anforderung, auf gerechte Weise die Verlierer zu ermitteln. Prozesse gegen einzelne Noten und die Malus-Regelung häufen sich, so daß die Kulturpolitiker Verfahren in Betracht ziehen, die anhand zusätzlicher, von der Schulleistung unabhängiger Kriterien die Auswahl regeln – und auf diese Weise der Schulbildung attestieren, daß es auf sie nicht ankommt. Vom Standpunkt der Berufsausbildung wird der Notenschnitt als Maßstab angegriffen, da jedes Fach von Bedeutung ist, obwohl der Einzelne sich an der Hochschule auf ein einzelnes Fach spezialisiert. „Mancher wird auf den Arztberuf verzichten müssen. womöglich nur, weil er in der Reifeprüfung einen Konjunktiv nicht kannte oder einen Kosinus falsch berechnete“ (Spiegel 22), und manche Olympiasiegerin wird mangels Allgemeinbildung nicht an der Sporthochschule ihrer Wahl zugelassen. Gefordert wird eine Gewichtung der Abiturnoten je nach ihrer Bedeutung für das Studienfach. Den Propagandisten dieser Lösung kommt es widersinnig vor, daß in der Ausbildung der gesamte Bildungsballast von Bedeutung sein soll, obwohl die Absolventen dieses Ausbildungswesens in einem begrenzten Fachgebiet ihre berufliche Erfüllung finden sollen und werden. Also weg mit dem überflüssigen Beiwerk; die Allgemeinbildung, die der Mensch sein Leben lang nicht mehr braucht, soll auch nicht über seine berufliche Zukunft entscheiden.
Demgegenüber scheint ein Verfahren, das sich bei den Bildungsreformern auch aus anderen Gründen wachsender Beliebtheit erfreut, vorteilhafter zu sein: Praktika sollen bereits vor dem Studium die Eignung des potentiellen Studenten herausfinden. Benachteiligt sind diejenigen, die das geforderte Können nicht schon in den Fingerspitzen haben, sondern gerade erst in der Ausbildung erwerben wollen, und die potentiellen „genialen Chirurgen, die überaus ungeschickte Operateure waren und dennoch die Chirurgie vorangebracht haben, weil sie eine Idee für eine neue Methode hatten“ (Bochnik: Numerus Clausus in der Medizin). Schlechterdings niemand kann in einem Praktikum das zur Anwendung bringen, was er erst lernen soll, so daß dort etwas ganz anderes beurteilt wird: Fähigkeiten, die mit dem Studieninhalt und den Berufsanforderungen nichts zu schaffen haben. Das stellt sich an der Problematik der Zuordnung heraus: „Wer könnte sagen, ob die Ausbildung zum Krankenpfleger oder zum Metzger die bessere Voraussetzung für den Chirurgen ist?“ (Spiegel 22) Solche Einwände mißverstehen allerdings den Zweck des Verfahrens. Es handelt sich bei diesem Spiel nicht um die Suche nach den besten Medizinern, sondern umgekehrt, da es zuviele gibt, um die Suche nach einem Unterscheidungsmerkmal, anhand dessen sich die Überzähligen herauswerfen lassen. Mit einem anderen beachtenswerten Einwand kommt der Spiegel schon viel näher ans eigentliche Problem heran: „Darüber wer einen Studienplatz erhält, würden Oberschwestern und Schlossermeister entscheiden.“ Die Kompetenz von Oberschwestern und Schlossermeistern bezüglich der praktischen Fähigkeiten, die als Selektionskriterium benutzt werden sollen, ist wohl kaum anzuzweifeln (Spiegel-Journalisten werden sich auch von Oberschwestern Spritzen geben lassen) – das Anstößige besteht allein darin, daß Vertreter der unteren Ränge der beruflichen Hierarchie bei der Verteilung der Spitzenplätze mitreden sollen. Man denke: seine eigenen Untergebenen würden über einen zukünftigen Oberarzt das Urteil sprechen!
Da die Annahme, daß Studieren mehr mit geistigen als mit praktischen Fähigkeiten zusammenhängt, nicht fernliegt, die Schulleistung aber andererseits als Auswahlkriterium bezweifelt wird, bleibt auch ein anderer origineller Vorschlag nicht aus. Intelligenztests als zusätzliches Selektionsverfahren nach dem Abitur, bundeseinheitlich, absolut objektiv, weil sie mathematisch ausgewertet werden können! Ein neuer Leistungsbeweis soll die fragwürdigen Schulnoten ergänzen oder sogar ersetzen. Zunächst zeichnet sich dieses Verfahren dadurch als besonders objektiv aus, daß ihm das Resultat von 13 Jahren Schulbildung, festgehalten in den Abiturnoten, gleichgültig ist. Dies bestätigen die Fragen, die der „Spiegel“ anführt, obwohl sie sich durchaus im Umkreis dessen bewegen, was in der Schule gelernt wird: „Aufgaben der Art, wieviele Gläser in einer Kiste sind, wenn in einer anderen neun Gläser und in beiden zusammen 43 sind“. Nachdem sich die Prüflinge in der Schule bereits von den vier Grundrechnungsarten bis hin zu den Anfängen der Differentialrechnung, Funktionenlehre etc. hochgearbeitet haben, wird ihnen nun abverlangt, vorzuführen, daß sie in möglichst kurzer Zeit eine einfache Gleichung lösen können. Es ist also kein Wissen in Mathematik gefordert, sondern der Beweis, daß sie mit Hilfe der Grundrechnungsarten ein einfaches praktisches Problem lösen können( Sicher keine überflüssige Fähigkeit, aber wozu dann die höhere Mathematik in der Schule, wenn jetzt etwas anderes zählen soll?). Eine andere Aufgabe fragt nach der Gemeinsamkeit von Zucker und Diamant, Veilchen und Elefant, ein Wissen, das in der Schule als selbstverständlich unterstellt war, daß die jeweiligen Gegenstände entweder in Chemie oder Biologie behandelt wurden. Alles was dort weiterhin betrieben wurde, die Untersuchung der Fortpflanzung, Arterhaltung und Lebensweise der pflanzlichen oder tierischen Organismen, erklären solche Testfragen für belanglos. Ihnen geht es nur darum, zu ermitteln, daß beides Organismen sind, daß dies der einzelne weiß und daß es ihm auch schnell genug einfällt. In der Abstraktion von dem in der Schule angeeigneten Wissen besteht die positive Leistung, die den Opfern dieses Verfahrens abverlangt wird (Die Überzeugung, daß ein gebildeter Mensch sich durch diese Art geistiger Regsamkeit auszeichnet, der es auf ihren Gegenstand nicht ankommt, hat sich auch bei den solcherart Gebildeten durchgesetzt, Ein verhinderter Medizinstudent, der sich erst einmal auf Keilschrift verlegt hat, begründet seine Studienwahl mit folgendem Argument: „Man muß sich fit halten, sonst schnallt man geistig ab“ (Spiegel 22). Im Bemühen um größtmögliche Objektivität der Leistungsmessung bleibt nichts mehr an Leistung übrig. Diese unverhüllte Negation der Schulleistung wird das ansonsten vorzügliche Verfahren wahrscheinlich auch zu Fall bringen: stehen die Testergebnisse auch nur in Einzelfällen in Widerspruch zu den Abiturnoten, dann können die Verantwortlichen mit einer neuen Prozeßwelle rechnen. Und gerade der bestechende Vorteil dieses Verfahrens, durch eine einmalige Prozedur ein abschließendes Urteil zu fällen, das das ganze Hinundher der jetzigen Zulassungsregelung beseitigen würde, hat den Unmut der Verfassungsrichter in Karlsruhe erregt: Das BVG werde Intelligenztests als Selektionsverfahren wahrscheinlich ablehnen, denn die „Wartezeit lasse jedem eine Chance auf einen Studienplatz, der Test mache sie für viele zunichte und sei deshalb auch als Ergänzung zur Abiturnote nicht mit Artikel 12 des GG vereinbar“ (Spiegel 22). „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen ...“ Leichte Behinderungen der freien Wahl durch Wartezeiten von 8 bis 15 Jahren muß man allerdings in Kauf nehmen ...
Es gibt also an jedem Zulassungsverfahren etwas auszusetzen, da eine Beschränkung der Anzahl von Studienanwärtern, die sich durch das Abitur als studierfähig ausgewiesen haben, sich nicht durch der Ausbildung immanente Gründe legitimieren kann. Da also jede Regelung vom Standpunkt derjenigen, die studieren wollen, ungerecht ist, ist ein Verfahren, das nach keiner Regel vorgeht, das „gerechteste“: das Losverfahren. Gegen den Zufall läßt sich nicht argumentieren. In der Befürwortung dieser Methode bringen die Verantwortlichen offen zum Ausdruck, daß die Auswahl, die stattfinden muß, mit der Leistung derjenigen, die sich dieser Auswahl unterwerfen müssen, nichts zu schaffen hat. Die Versuche, den Übergang zur Hochschule zu regeln, erklären sich nicht aus den Erfordernissen der Ausbildung, sie suchen nach Unterscheidungsmerkmalen, die man braucht, um das im Verhältnis zu den Intellektuellenberufen überschüssige Studentenkontingent festzulegen. Diesen Zweck erfüllt das Los ebensogut wie alle anderen Verfahren. Mit einem Nachteil allerdings: es macht den Charakter der Prozedur, daß es nämlich bei der Auslese für die Universität um Bildung nicht geht, zu offensichtlich – der Schulunterricht würde aufgrund seiner praktischen Bedeutungslosigkeit zusammenbrechen.
Da aber eine Lösung gefunden werden muß, zumal die Anfechtung der Malus-Regelung die Lage noch mehr verdüstert hat, wird man sich zu einer Kombination der verschiedenen Verfahren durchringen müssen, was dem Streit um den gerechten N. C. zahlreiche Kombinationen eröffnet. Die allgemeine Empörung über den N. C., die durch das Schicksal der Ulrike Meyfarth noch Auftrieb bekommen hat, da er in ihrem Fall sogar das nationale Prestige mißachtet, beschränkt sich wohlweislich aufs Lamentieren. Die Kommentare produzieren Mitleid gegenüber den Betroffenen und schweigen sich gründlich aus über den Grund dieser Leiden, der auch in normalen Zeiten die Auszubildenden der Konkurrenz um die beruflichen Positionen in der Leistungsgesellschaft aussetzt. Was die Gerechtigkeitsfanatiker aus allen Lagern nicht interessiert, obwohl es die verschiedenen Varianten zur Bewältigung des N. C. anschaulich vor Augen führen, ist die Tatsache, daß es diesem Bildungssystem nicht um Ausbildung, um die Herausbildung der Individualität durch die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten geht. Alle Varianten des Leistungsvergleichs, die eine ‚gerechte‘ Auswahl treffen sollen, befassen sich nicht mit der Leistung der Ausgebildeten, den Kenntnissen und Einsichten die sie gesammelt haben, sie zielen auf die Feststellung von Unterschieden, produzieren sie mit Kriterien, die der Schulbildung völlig äußerlich sind, um die einzelnen dann auf die verschiedenen Sparten des Berufslebens aufteilen zu können. Daß die Modi dieser Verteilung die Schulbildung für bedeutungslos erklären und in letzter Konsequenz zerstören, ist der Preis, den die Konkurrenzgesellschaft bereitwillig dafür zahlt, daß die Bildung der Individuen nur als Maßstab ihrer Verteilung auf die Rangordnung der Berufe fungiert, Das Gezänk um die Gerechtigkeit der jeweiligen Selektionsverfahren ist nichts anderes als das prinzipielle Einverständnis mit dieser Veranstaltung. weil es auf dem Standpunkt derjenigen beruht, die es darauf abgesehen haben, bei diesem Ausverkauf den günstigsten Posten zu ergattern. aus: MSZ 7 – 1975 |