Werktagspsychologie in den Massenmedien:

Die moderne Moral


Der schleichende Verfall des Glaubens an die erbsündige Unsterblichkeit der Seele hat weder das allgemeine Interesse am „Seelenleben“ erlahmen, noch die „Seelsorge“ aus der Welt verschwinden lassen. Er geht vielmehr einher mit einem wachsenden Bedürfnis nach den neuesten Erkenntnissen der „Seelenforschung“ über die Probleme des „seelischen Gleichgewichts“ und nach ihren Ratschlägen für die praktische Beantwortung der Frage, wie man im täglichen Leben zurechtkommen kann, auf die früher die moralische Macht der Kirche eine eindeutige Antwort gab. Die einstmals beargwöhnten und der Moralzersetzung beschuldigten Vertreter der Psychologie genießen heute öffentliche Anerkennung für die Verwandlung kirchlicher Moralpredigten in Anweisungen zum normalen Verhalten. Ihre Stellung zu den „Problemen des Alltags“ ist eine solche Selbstverständlichkeit geworden, daß sich die professionellen Psychologen fordernd an den Staat wenden können, ihre Dienste für die Volksgesundheit mehr in Anspruch zu nehmen: Die Psychologen wollen

„nicht nur Bettnässer, verhaltensgestörte Kinder, Examensschwächlinge, Berufs- und Bettversager therapieren. Zu dem, was sie unter Psychotherapie verstehen, zählt ausdrücklich auch »Lebensberatung« oder gar die Behandlung der »lautlosen Zermürbung des Arbeitnehmers durch vermehrten Streß». Solche Ansprüche müssen zwangsläufig die Krankenkassen verschrecken, die nicht zu Unrecht befürchten, sie könnten zum Kostenträger für Lebenshilfe und weltliche Seelsorge umfunktioniert werden. Am Ende dieser Entwicklung, so die Sorge der Kassen, stünde womöglich eine Gesellschaft, in der die bloße Last des Lebens zur Krankheit erklärt würde, die auf Kassenkosten behandelt werden müßte.“ (Spiegel 20/77)

Einverständnis besteht also darüber, daß mit der „Last des Lebens“ zurechtzukommen für das Volk notwendig, wenn auch nicht gerade einfach ist, und daß es zur Vermeidung von Versagern des allgemeinen Willens zur Entsagung bei den gebeutelten bedarf. Doch weigert sich der Staat, für die Schwierigkeit der Bürger, sich seelisch im Leben einzurichten, mehr als unbedingt nötig, auszugeben. Er weiß ja ebensogut wie der Psychologe, daß die Bürger sich diese weltliche Seelsorge großenteils selbst finanzieren, weil sie ein Vergnügen daran finden, sich in Zeitungen, Illustrierten, Radio und Fernsehen die erfahrenen Widersprüche von Ehe, Beruf, Erziehung usw. als ihre Ehe-, Berufs-, Erziehungs- usw. „Probleme“ anlasten zu lassen und in öffentlichen Vorschlägen zur Lebenshilfe durch Änderung ihrer Einstellung zum Leben Trost zu finden. Und wenn die Berufspsychologen den Medien vorwerfen, die „notwendig oberflächlichen, pauschalen und unspezifischen“ Ratschläge würden dem einzelnen Ratsuchenden nicht wirklich gerecht, erklären sie die Übereinstimmung ihrer menschenfreundlichen Absichten mit den Bemühungen der öffentlichen Agitation für eine bessere staatsbürgerliche Lebensbewältigung und nehmen nur Anstoß daran, daß die Medien die Bereitschaft eines jeden Individuums zur Anpassung seiner individuellen Wünsche an die „Erfordernisse der modernen Welt“ angeblich nicht genügend dafür ausnützen könnten.

Die Auflagen der Boulevardzeitungen und Illustrierten und die Einschaltquoten des Fernsehens belegen jedoch, daß die geplagten Menschen nichts lieber tun, als sich die moderne Moral zum Freizeitvergnügen zu Gemüte zu führen, weil sie in der psychologischen Form des Verständnisses Für die individuellen Schwierigkeiten der Lebensmeisterung auftritt. Wenn die Pastoren mit Christus als Verhaltenstherapeuten ihren Platz in der Öffentlichkeit behaupten, die Medien dem einfachen Mann die teuren Ratschläge der Fachpsychologen billig und massengerecht zukommen lassen und die Psychologen, die über die Ineffektivität der Massenpsychologisierung klagen, selbst mit lukrativen Kolumnen vom allgemeinen Interesse an ihren Weisheiten profitieren, dann besteht der Fortschritt gegenüber den Zeiten der unerläßlichen kirchlichen Moralgebote also darin, daß sich selbst das Ertragen der „lautlosen Zermürbung des Arbeitnehmers“ in ein Gebot des eigenen Willens zur Selbstentfaltung des freien Individuums in der Gesellschaft verwandelt hat. Entsprechend brutal sieht dieser Fortschritt daher auch aus.


Der Psychologe als Freund der Freundin

„Hand aufs Herz: Wie steht es bei Ihnen mit der Anpassung?“ mahnt der Psychologe der Illustrierten „Freundin“ seine Leserinnen zur Ehrlichkeit gegen sich selbst und macht ihnen in der Gewißheit, daß er in dieser Hinsicht auf sie zählen kann, klar, wie sie diese Ehrlichkeit zu beweisen haben:

„Ordnen Sie sich mehr in die Kategorie der Anpassungsfähigen ein oder in die derjenigen, die angepaßt werden? Oder leben Sie in ständigem Kampf mit Ihrer Umwelt, weil Sie nur Ihre eigenen Normen gelten lassen?“

Bei seiner psychologischen Neuauflage des Bibelworts „Die Weiber sollen ihren Männern Untertan sein“ (Eph. 5,22) weiß sich der Agitator der modernen Moral im Einklang mit seinen Adressaten und unterstellt in der Aufzählung seiner Verhaltensalternativen ganz selbstverständlich, daß man sich zu unterwerfen hat. „Anpassung oder nicht?“ ist keine Frage, vielmehr längst durch Gewalt entschieden und von den Lesern gewollt. Wie man sie am besten bewerkstelligt, also das ,,Problem der Anpassung“ ist Thema. Der Psychologe weiß, daß die Leute mit der ihnen gewaltsam abverlangten Einrichtung im Eheleben ihre Schwierigkeiten haben, ebenso aber weiß er sich ein weiteres Mal mit ihnen einig in seinem Ausgangspunkt, daß es ihre Schwierigkeiten sind, wenn sich ihre Subjektivität im Zurechtkommen mit den objektiven Gegebenheiten störend bemerkbar macht.


„Wie komme ich klar?“

Ihre Verwandlung der Frage „Warum komme ich nicht klar?“ in „Warum komme ich im Vergleich zu den anderen so schlecht klar?“, mit der sie ihr Interesse relativieren, ist des Psychologen Geschäftsgrundlage, indem er in ihr die Bereitschaft in der Frage

 

„Was ist mit mir los? Bin ich nicht normal?“ festhält und als derjenige, der ihnen hilft, auf diese Frage eine Antwort zu finden, der Leistung des staatsbürgerlichen Bewußtseins, das die beschissene Lage der mangelnden eigenen Fähigkeit, wie jeder normale Mensch damit zurechtzukommen, zuschreibt, die wissenschaftliche Bestätigung erteilt.

Die Aufforderung, sich einzuordnen in eine von aus gutem Grunde meist drei oder vier Kategorien ist seine Aufforderung an die Adressaten, sich den Vergleich, den sie anstellen, wenn sie beim Kampf um ihr Zurechtkommen in der Konkurrenz ihre Niederlagen einstecken, zum Prinzip ihrer Erklärungen der eigenen Niederlagen wie des besseren Abschneidern anderer zu machen, indem sie sich bewußt am Idealbild des Staatsbürgers messen, das sie selbst teilen. Indem der Psychologe ihnen den Vergleich mit der Abstraktion des »Normaltypus« vorführt, erlaubt und empfiehlt er ihnen die vergnügliche theoretische Abstraktion von sich selbst zugunsten eines Typs, der sie selbst sein wollen und sollen und doch nicht sein können.

Unser Mann von „Freundin“ beweist darüber hinaus professionelles Geschick durch seine Mahnung, sich mittels der Einordnung in die drei gesellschaftlichen Anpassungstypen ehrlich Rechenschaft über sich selbst abzulegen. Er greift also seine Adressaten an, daß sie die relativierende Beschäftigung mit dem eigenen Ich vernachlässigen, indem er ihnen freundlich zu bedenken gibt, ob sie sich nicht selbst etwas über sich vormachen.

„Menschen, die von sich glauben, daß sie sich aus taktischen Gründen ganz bewußt anpassen, unterliegen meist einer Selbsttäuschung. Sie schieben verstandesmäßige Gründe vor, weichen jedoch unbewußt Konflikten damit aus.“


Ehrliches Mitläufertum

Sein „Angriff“ läuft also keinerlei Gefahr, als Kritik mißverstanden zu werden. Er präsentiert sich vielmehr als Bestätigung und Unterstützung des weiblichen Willens, sich für die bornierten Ansprüche ihres Mannes zurechtzumachen, indem er klarstellt, daß es wiederum an ihnen liegt, wenn sie dabei bislang keinen Erfolg haben, es also nottut, ihre Bemühungen systematisch zu perfektionieren. Denn

„Oft merkt man gar nicht, daß es sich bei der vermeintlichen Anpassungsfähigkeit um ein Verhalten handelt, das in die Nähe eines höchst bedenklichen Mitläufertums gerückt ist.“

Der Psychologe also, der kein Problem damit hat, daß die Ehe ein Gewaltverhältnis ist, dessen Funktionsfähigkeit auf der Opferbereitschaft der Frau beruht –

„Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ohne einen gewissen Grad von Anpassung ist das Leben in einer Gemeinschaft nicht möglich. Das fängt beim Staat mit seinen Gesetzen an und hört bei der kleinsten Form der Gemeinschaft, nämlich der Zweierbeziehung (mit ihren Gesetzen?) auf“

spricht mit dem passenden Begriff des „Mitläufertums“ deutlich genug aus, was sein Interesse an den Frauen ist, deren Ehe-Elend er ihnen in ihr „Anpassungsproblem“ verwandelt hat: die Aufmöbelung einer zur Alltagsroutine gewordenen lustlosen Pauschalunterwerfung unter die eheliche Gewalt, angesichts derer auch der Partner nicht mehr so recht auf seine Kosten kommt:

„Wer sich zu sehr anpaßt, drängt seinen Partner unbewußt in eine ganz bestimmte Rolle hinein.“

Die damit gestellte Aufgabe, den Frauen klarzumachen, eigentlich wollten sie sich gar nicht so verhalten, wie sie sich immerhin willentlich in ihrer Scheiße eingerichtet haben, weil sie, wenn sie sich glücklich in der Scheiße einrichten wollen, sie auch bewußt gestalten wollen müssen, löst ein Psychologe unter Rückgriff auf das wissenschaftliche Instrumentarium seines Fachs souverän:

„Mit dem Problem der Anpassung wird man von Kindheit an konfrontiert, im Elternhaus und in der Schule. Wenn die Erziehung streng und autoritär war, kommt dabei meist ein überangepaßter Erwachsener heraus, es sei denn, das Kind war auch anderen Einflüssen ausgesetzt, die es ermutigt hatten, einmal, den Aufstand zu proben.“


Ungefährlicher Widerstand

Die Lüge, die Herrichtung zum gesellschaftsfähigen Subjekt sei eine Frage der Milde oder Strenge der Erzieher, Bezugspersonen, steckt nicht nur das weite Feld der begehrten Erziehungsratschläge für Eltern ab, mit Hilfe derer diese ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen versuchen. Sie zieht vor allem als Meisterstück dieser modernsten Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft – darauf ab, die Individuen dazu zu bewegen, freiwillig ihren freien Willen als Produkt früherer Fehlreaktionen und falscher Lernprozesse zu negieren, ihre Identität im Erlernen funktionaler Verhaltensweisen zu suchen.

„Ein Erwachsener, der es nicht anders gelernt hat, tut sich hingegen sogar schwer, die Freiräume, die ihm bleiben (!) – in der Partnerschaft und in der sogenannten Freizeit – zu nutzen.“

Daß sich mit Freiräumen nicht viel tut, ist dem Psychologen also wieder belanglose Selbstverständlichkeit.

Ein Erwachsener, der eine strenge Jugend hatte, schafft also nicht einmal das, was für jedermann normal ist und eigentlich ja auch er selbst will. Er muß sich vorhalten lassen:

„Psychologen sind immer wieder erstaunt darüber, wie wenig von der Möglichkeit zum Widerstand, auch da, wo er ungefährlich ist, Gebrauch gemacht wird.“

Durch diese elegante Unverschämtheit, mit der er es fertigbringt, seinen Leserinnen, die die zu ihrem Dasein gehörigen gewaltsamen Beschränkungen durchaus konkret, d.h. als Gefahr erfahren, die Welt als eine Ansammlung unausgenutzter Freiräume vorzustellen, eröffnet sich der „Freundin“-Psychologe den Übergang zu seinem eigentlichen Ziel und Rezept. Klarzustellen ist zunächst, daß ihn der Widerstand nicht auch, sondern nur da interessiert, wo er ungefährlich, d.h. folgenlos ist, daß also auch nicht Widerstand gegen die Gewalt der Verhältnisse, sondern Aufmucken als bewußt eingesetztes Mittel für die Selbstbefriedigung in persönlichen Beziehungen ist, deren Zwang Zufriedenheit nicht erlaubt.

„Anders ist es, wenn der Widerstand Folgen hätte, die man nicht verantworten kann. Ein Familienvater mit mehreren Kindern wird es sich eher überlegen, ob er sich gegen seinen Chef auflehnt, als jemand, der alleine steht und vielleicht einen anderen Job halb in der Tasche hat. Dieser Glückliche (!) hat schon von den äußeren Umständen her größere Handlungsfreiheit.“

Die Tatsache, daß ein Familienvater mit mehreren Kindern also in der Regel beschissen dran ist und zu kuschen hat, sollte ihn keineswegs zu dem Fehlschluß bewegen, er habe kein Anpassungsproblem, geht es doch gerade nicht um die äußeren Umstände, von denen es abhängt, für wen welcher Widerstand ungefährlich ist. Er sollte sich vielmehr um die inneren Umstände kümmern, die ihn hindern „von der Möglichkeit zum Widerstand auch da, wo er ungefährlich ist, Gebrauch“ zu machen, sollte also – kein Glückspilz mit Handlungsfreiheit, der er ist – gefälligst jene zusätzliche Leistung auf sich nehmen, sich die innere Freiheit zu schaffen, seine Abhängigkeit als freiwillig gewählte Anpassung begreifen zu können. Zynisch predigt der Seelenapostel also die Lüge, daß sich jeder die Konkurrenzweisheit »Jeder ist seines Glückes Schmied« am ehesten dort beweisen könne, wo jedes Glück ausgeschlossen ist. Man muß nur den rechten Begriff von Freiheit haben.

„Als wünschenswertes Ziel erklären die Psychologen die Möglichkeit, zwischen Anpassung und Widerstand wählen zu können,“
bzw.
„Anpassung positiv gesehen bedeutet im übrigen, daß man ... zwischen Ja und Nein frei entscheiden kann.“


„Strategie der kleinen Schritte“

Mit der Proklamation der Freiheit der Wahl zwischen zwei Einstellungen zur unveränderlichen Welt hat der Psychologe nun herausgelassen, was den freien Menschen der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht – und wäre doch nicht Psychologe, hätte er dazu nicht klargestellt, daß es eben der Zielstrebigkeit der Psychologen bedarf, damit die Menschen diese Freiheit auch ausnutzen, sich ihrer würdig erweisen, eben frei werden, zu Kleinigkeiten ihrer unabänderlichen Scheiße auch mal Nein zu sagen, um nicht mit der Hoffnung auf Besserungsmöglichkeiten die Lust an ihr zu verlieren:

„Das setzt allerdings voraus, daß man mit dem Widerstand umgehen kann. Ohne Übung geht das selten. Empfohlen wird eine Strategie der kleinen Schritte.“

Die Frauen sollen sich also nicht in ihrer Bornierheit einfach gehen lassen, natürlich auch nicht Widerstand leisten, sondern sich eine zu ihrer täglichen Plackerei zusätzliche Leistung abverlangen: durch Erlernen von Widerstandsfähigkeit ihre Unterdrückung freudig mitzugestalten und sich dadurch „attraktiver“ zu machen.

„Wiederholte Erfolgserlebnisse machen sicherer und heben das Prestige.“

Und dazu bedarf es schon einer ausgeklügelten Strategie; nämlich der Rezepte des Psychologen für die Ehefrau, jede beliebige Situation unter Absehung von ihren besonderen Interessen in Bezug auf sie („stellen Sie sich eine bestimmte Situation vor“) daraufhin zu checken, ob sie dazu taugt, ein exemplarisch demonstratives Nein zu sagen, was man auch

„schön dadurch üben kann, daß man sich immer überlegt, was der Partner dazu sagen wird und einmal versucht, das Gegenteil zu begründen“.

Daß diese Rezepte für den „Partner“ eine Zumutung sind, weshalb es Ärger gibt und die Frau erstmal eins draufkriegt, weiß er:

„Man sollte sich am Anfang nicht zu viel zumuten. Wenn der andere es gewohnt ist, daß man zu allem ja und amen sagt, werden erste Versuche, sich einmal anders zu verhalten, eher Befremden hervorrufen. Was erst einmal entmutigt.“

Seine säuische Konsequenz aus dem notwendigen Scheitern seiner Adressaten bei ihren Bemühungen, durch Demonstration kritischen Eigenwillens die notwendig frustrierte Liebe des Ehemannes zu seiner »besseren Hälfte« aufzufrischen: Ein Sparringspartner muß her, um für die Ehe zu trainieren.

„Wenn die positive Verstärkung also nicht durch den Partner erfolgt, kann man sich immer noch an jemandem aus dem Freundeskreis orientieren, der einen bei den ersten Gehversuchen stützt und aufbaut.“

Daß auch diese letzte Brutalität vom Schlage der „Ein Seitensprung kann die Ehe retten“-Ratschläge den Effekt nicht hat, den sich die „überangepaßte“ Frau davon erwartet, braucht den Psychologen nicht zu stören. Hat er ihr doch mit seinen hilfreichen Empfehlungen seine wesentliche Lektion verpaßt: Daß ihr Eheglück eine Frage ihrer „Lernbereitschaft“ kurz: daß „Liebe lernbar“ ist.

Und da sie die gleiche Moral schon an den Illustrierten-Schicksalsromanen genießt, die sie ihr in der stetigen Wiederholung von „Es gibt noch Liebe auf der Welt“ und „Keine Liebe ohne Leid“, bestätigen, fällt die Aufforderung des Illustrierten-Psychologen auf fruchtbaren Boden, daraus nun aber auch ihre Konsequenzen für sich zu ziehen, es sich gefälligst nicht so leicht zu machen mit der Ehe, mehr Interesse und Begeisterung in der aktiven Gestaltung des eigenen Opfers zu zeigen und so das ihre zu tun, um sie als das selbstgewollte Gewaltverhältnis, das sie ist, aufrechtzuerhalten. Weshalb sich denn auch empfiehlt:

„Und Immer daran denken: mit Gewalt geht nichts. Veränderungen brauchen Zeit.“

Und die haben ja bekanntlich Hausfrauen im Überfluß.


Die eigene Scheiße im psychologischen Vergleich

Die Geilheit der Leute auf psychologische „Selbsterkenntnis“, also Sich-Ins-Verhältnis-Setzen zu den anderen, auf die Einnahme des Standpunkts der Normalität gegen sich und die anderen, findet ihren Ausdruck in der Beliebtheit jener Sparten, in denen die Psychologisierung der Welt gewissermaßen der Eigentätigkeit des Publikums überantwortet wird. Das sind zum einen die psychologischen Tests:

„Sind Sie ein Erfolgstyp? Sind Sie weiblich? (???), Erkennen Sie den Grad ihrer Hemmungen! Bin ich ein idealer Partner? usw.“

Das Schöne dabei ist, daß die „Testperson“, nachdem sie sich selbst in die in den Fragen gegebenen Verhaltensalternativen aufgelöst hat, in den Auflösungsgruppen garantiert sich selbst wiederfindet als jemand, der sich zwar nicht wundern sollte, wenn ihm nicht überall alles nach seinen Wünschen gerät, der aber auch seine guten = vorteilhaften Seiten hat, das eine vielleicht mehr, das andere weniger, dessen Zurechtkommen im Leben jedenfalls seinen Fähigkeiten, seinen vor- und nachteiligen Eigenschaften entspricht und der es selbst in der Hand hat, sich zu verbessern.

Die Leistung der Psychologisierung der Öffentlichkeit besteht also in der endlosen Demonstration dessen, daß es im Grunde gerecht zugeht auf dieser Welt. Und der psychologische Vergleich der Menschen und ihrer Stellung in der Konkurrenz nach Leistung und Fähigkeit wird nie Unstimmigkeiten hervorbringen. Wenn Yasmine Khan, die Tochter von Rita Hayworth und Ali Khan, die von ihrem Vater zwar 400 Millionen Dollar, von ihrer Mutter hingegen außer ihrer Schönheit vor allem die Sorgen geerbt hat (Bunte, 12.5.77) sich als Beispiel vorführen läßt, daß Geld auch nicht glücklich macht, wenn Königin Silvia andererseits aber ihren glücklichen Aufstieg von der Olympia Hosteß zur lebenden Märchenprinzessin ohne jeden Zweifel durch ihre charakterlichen Tugenden längst gerechtfertigt hat, und wenn mit Befriedigung zur Kenntnis genommen wird, daß es in der Ehe von Sophia Loren mit ihrem Produzenten „keine Spur einer Krise“ zu entdecken gibt, weil sie selbständige Schöne und zugleich vorbildliche Gattin und Mutter ist, dann bildet dabei die aus diesen Meldungen ebenfalls zu erschließende Tatsache, daß Wohlstand eine ganz gute Grundlage für Glück abgibt, Sorgen andererseits mit 400 Millionen Dollar im Rücken die schlimmsten nicht sein können, nur das Material für die tröstliche Apologetik, daß letztlich nur „das Menschliche“ zählt.

Sein liebstes Betätigungsfeld freilich hat der Opfersinn des einfachen Staatsbürgers dort, wo ihm seine eigenen Probleme original präsentiert werden, wo sich die erfolgreiche Einnahme des psychologischen Standpunkts zur eigenen Scheiße am fremden lebendigen Einzelfall beweisen läßt. Hier kann er sich daran vergnügen, die Relativierung seiner selbst durch die Identifikation mit beiden Seiten, der des Ratsuchenden wie der des Ratgebenden (man ist ja selbst nicht unmittelbar gemeint) und damit als spielerisches moralisches Urteil über die Bewältigung der gemeinsamen Probleme durch Mitmenschen zu praktizieren: in den Praktische-Lebenshilfe-Kolumnen von Frau Irene, Alexander Borell, Dr. Heimberg und wie sie alle heißen, die es gestatten, das eigene Opfer im perversen Goutieren der intimen Ergüsse der anderen erst so recht zu genießen.


„Mißmut steckt an“

Die brutale Harmonie zwischen denen, die ihren Schaden sich psychologisch erklären und sich in ihm erhalten wollen, und denen, die ihnen mit psychologischen Ratschlägen bestätigen, daß man sich selbst zu unterdrücken hat, um sich als Opfer zu erhalten, führt ein Herr Borell im „Gong“ mit dem ihm eigenen Gespür für „Minderwertige“ vor: Unter dem Titel „Mißmut steckt an, Kennwort: Kontaktschwierigkeiten“, bestätigt er, daß, wer Freude am Leben haben will, die Schläge des Alltags mit einem Lachen begrüßen muß, und führt sogleich für die gegenteilige Haltung, deren Konsequenzen das Kennwort benennt, ein warnendes Beispiel vor. Für die psychologische Agitation eignet sich dieser Fall deshalb vortrefflich, weil jeder Satz der Selbstdarstellung eine Selbstbezichtigung ist, eine Vorarbeit, die es Borell erlaubt, schnell auf das Wesentliche zu kommen.

„17, w,: Es ist doch nur normal, wenn viele Mädchen in meinem Alter einen Freund haben; deshalb verstehe ich nicht, warum ich keinen abbekomme. Ich kann nicht sagen, daß ich mich anders benehme als die anderen.“

Ich will einen abbekommen, wurscht wen. Denn das ist normal, wie ich ja schließlich daran sehe, daß die anderen Mädchen schon einen haben und ich noch nicht. Es muß also an mir liegen. Doch weiß ich wegen der Bereitschaft, normal zu sein zwar, daß bei mir was faul sein muß, aber nicht was.

„Ich habe ein schlechtes Verhältnis nicht nur zu Jungen, sondern auch zu Mädchen.“

Selbst da, wo eigentlich das „zwischenmenschliche“ Benutzen und Benutztwerden einfacher ist, weil nicht der Einsatz der „persönlichsten Gefühle“ dafür erforderlich ist, habe ich keinen Erfolg. Mein Mangel ist also grundlegender Natur: ich habe eine Kontaktstörung.

„In der letzten Zeit habe ich mich dann aufgerafft, aber es ist nicht zu engeren Kontakten gekommen.“

–  Da ich kontaktgestört bin, muß ich mich zur Kontaktbereitschaft zwingen. Da ich kontaktgestört bin, bleibt der Mißerfolg natürlich nicht aus.

„Vielleicht meiden mich die Mädchen ja gerade, weil ich keinen Freund habe und mitreden kann.“

 

– Ich brauch also unbedingt einen Freund, um mitreden zu können, muß aber mitreden können, um einen Freund zu kriegen. Man sieht: Das arme Mädchen plagt sich gehörig mit dem selbstgeschaffenen Zirkel, daß der Wille zum bescheidenen „Glück“ der normalen Brutalität durch die Erfahrung der wenig gemütlichen Seiten jugendlichen Umgangs miteinander nicht an der Ordnung der Welt zu zweifeln beginnt, sondern immer wieder verstärkt auf sich selbst und damit auf den leidenden Angriff gegen das eigne „Anderssein“ zurückgezogen wird.

„Es fällt mir schwer, Gefühle oder Empfindungen zum Vorschein zu bringen.“

–  Es ist mir eine Selbstverständlichkeit, daß es nicht auf Gefühle oder Empfindungen ankommt, sondern auf ihre Zurschaustellung,

„Vor allem nervt es mich, daß ich nicht ausgelassen sein kann.“

–  Ich teile nicht das nützliche gängige Einvernehmen, daß man in der Jugend die Welt noch leicht nehmen kann.

„In Diskotheken gehe ich nicht oft, weil ich mir da Ja die Beine in den Bauch stehe. Man hat mir geraten, etwas Alkohol vorher zu trinken. Der Rat war nicht schlecht, nun nehme ich alles nicht mehr so tragisch und fordere Jungens zum Tanzen auf, und dann wollen sie nicht.“

–  Und selbst Betäubung und offene Bekundung des Willens, sich angeln zu lassen, helfen nicht.

„Ich könnte jeden Tag heulen, weil ich doch auch nur ein Mensch bin, der sich nach Zärtlichkeit und Liebe eines Partners sehnt.“

–  Die dumme Göre stellt also noch öffentlich theatralisch das falsche Leid zur Schau, das ihr die Vergeblichkeit des Willens, ein normales Weib zu sein, bereitet. Nicht mal die Erfahrung, daß „auch nur ein Mensch zu sein“ keineswegs Liebesansprüche rechtfertigt, wenn man nicht die erforderlichen Voraussetzungen im Gesicht und anderswo mitbringt, lassen etwas anderes in ihr aufkommen als wehleidige Hilflosigkeit über sich selbst mit der Hoffnung, verstanden und bemitleidet zu werden.

„An Selbstmord denke ich oft, dann wäre das Alleinsein vorbei.
Wüßten Sie nicht eine Lösung?“

Borell, dem es dank dieser Selbstzurechtmachung seiner 17-jährigen Kontaktgestörten ein leichtes ist, das zu bringen, was sie hören will, hat hierfür nicht nur den Trost des Psychologen bereit, daß ihr Problem ein allgemeines ist (daß das ausgerechnet ein Trost ist, setzt einiges an moralischer Vorarbeit im öffentlichen Bewußtsein voraus!). Er hat auch einen Angriff auf sie auf Lager, denn auch er beherrscht meisterhaft den Trick, zu berücksichtigen, daß die Leute gerade nicht einfach bestätigt, vielmehr daß – und wie! sie verständnisvoll kritisiert sein wollen.

„Es gibt für das, worunter Du leidest, den weitverbreiteten, aber völlig falschen Ausdruck »Minderwertigkeitskomplex«. In Wirklichkeit verhält es sich bei Dir und allen Menschen mit ähnlichen Verhaltensweisen um das genaue Gegenteil: Es ist ein »Überwertigkeitskomplex«. Das heißt, daß Du, sicherlich ohne es zu wollen, Dich selber in Deiner Umwelt viel zu hoch bewertest.“

Sie soll gefälligst nicht so vermessen sein, ständig den richtigen Willen, sich im beschissenen Leben zurechtzufinden, durch falsche Erwartungen zu behindern, statt sich in Bezug auf ihre Umwelt zu relativieren, wie es normal ist:

„Ein »normales« Mädchen geht fröhlich und voller Erwartungen in Diskothek. Man sieht ihm diese fröhliche Erwartung deutlich an. Nun spielt die Musik, zweimal, dreimal, und es kommt niemand, es zum Tanzen aufzufordern. Irgendwann wird es diesem normalen Mädchen zu dumm, und es findet entweder, daß heute sowieso nur alberne Jungens da sind, mit denen es sich nicht lohnt; es geht nach Hause und freut sich auf den nächsten Abend, wo sicherlich wieder alles richtig laufen wird.“

Normalen sieht man also an, daß die Scheiße fröhlich ist, und daß die kleinen Niederlagen des privaten Konkurrenzkampfes sie nicht umwerfen, weil sie die eigenen Wünsche in Gestalt des anderen Geschlechts zu relativieren wissen, weswegen sie auch irgendwann irgendeinen abbekommen, wie sie es sich wünschen.

„Mädchen wie Du hingegen gehen schon mit der Erwartung in die Diskothek, es werde heute auch wieder eine Pleite geben. Und auch das sieht man dem Gesicht an.
Du akzeptierst nicht, daß der Mißerfolg genau so zum Leben gehört wie der Erfolg. Wirklich (!), man hat dreimal (! eine immerhin interessante Präzisierung der alten Volksweisheit, daß im Leben, im Leben so mancher Schuß daneben geht) so viel Mißerfolg wie Erfolg. Die innere positive Einstellung, und das Wissen, daß etwas dreimal schiefgeht, bevor es klappt, gehört zum Leben des Menschen.“

Wer es also nicht schafft, mit der inneren positiven Einstellung seine Subjektivität, seine Wünsche und Interessen gerade dort zu negieren, wo es ihm besonders um sie geht, der ist gewissermaßen lebensuntüchtig:

„Überempfindliche Menschen, die sich selber viel zu wichtig nehmen, fürchten den Mißerfolg so sehr, daß sie am Schluß gar nichts mehr unternehmen, nur um kein Nein hören zu müssen.“

Ihr Versagen in der Konkurrenz auf den Märkten zur Anbahnung nützlicher »Gefühlsbindun- gen« ist dem Psychologen willkommener Anlaß, ihnen gleich allgemein beizubringen, sich am Mißerfolg zu stählen. Das ändert zwar nichts an ihrem Scheitern, nimmt ihnen aber die Angst davor, so daß sie nun lachenden Gesichts auf den Bauch fallen können, was ihre Attraktivität zweifellos ungemein steigert (zumal, wenn dabei die Brille kaputtgeht, die die 17jährige auf der Nase trug).

„Laß Dir dies alles einmal sehr gründlich durch den Kopf gehen, betrachte den Erfolg als Glück, den Mißerfolg als die Regel, die man nur dadurch besiegen kann, daß man immer wieder frohgemut von neuem anfängt. Dein Gesicht wird sich ändern, es wird Signale von Lebenslust und fröhlicher Erwartung zeigen, und das spüren die anderen und schließen sich Dir an, wo sie Dich jetzt ablehnen.“

Der Leser, um dessentwillen sich ja dieses Mädchen fertigmachen und fertigmachen lassen durfte, nickt zufrieden. Er konnte sich nicht nur am Leid anderer weiden, sondern auch dem eigenen inneren Borell auf die Schulter klopfen, der ihn schon immer davor bewahrt hat, sich zu wichtig zu nehmen, und ihm dadurch manche Schererei erspart hat. Weil er am vertrauten fremden Schicksal das eigene Elend lustvoll betrachtet, freut ihn neben der gängigen psychologischen Veranstaltung nach dem Muster:

„Ich verstehe Ihr Problem. Machen sie sich über die Welt und sich nichts vor, dann ist es schon so gut wie gelöst“,

auch deren Umkehrung bei Fällen von notorischem Egoismus:

„Was erwarten Sie sich eigentlich. Machen Sie sich gefälligst erstmal über die Welt und Ihre Wenigkeit nichts vor, dann kann ich Sie auch verstehen und Ihr Problem löst sich von allein.“

Und wenn ihm dieser Seelenvoyeurismus nicht genügt, kann er immer noch zur „Praline“, „Neuen Revue“ usw. greifen, in denen neben Bettenbildergeschichten oder nacktbephototen „Fällen, die das Leben schrieb“, ein Psychologe Scheinauskünfte über die Behebung von Potenz- und sonstigen Liebesstörungen gibt, und Farbberichte über das aufregende Liebesleben der Papuas und südmolukkischen Eingeborenen die Freiheit der eigenen kaputtgemachten Gefühle genießen lassen.


„Arbeit, die auf den Magen schlägt“

Daß das Interesse der Illustrierten wie ihres lüsternen Publikums sich schwerpunktmäßig auf Zuschriften zu „Problemen in der Liebe, Ehe oder Familie“ konzentriert, hat seinen Grund. Unter der Rubrik „Gesundheit“ jedoch darf sich auch der, der nicht mit Kontaktstörungen und „Beziehungsproblemen“ aufzuwarten hat, weil in der Hinsicht bei ihm schon eh alles gelaufen ist und er voll damit ausgelastet ist, mit seiner physischen Ruinierung durch den kapitalistischen Produktionsprozeß selbst fertigzuwerden, vom Psychologen als kostendämpfendem Faktor des öffentlichen Gesundheitswesens noch die Leviten lesen lassen:

„Psychologen haben sich auch mit dem Thema (Krankheitsanfälligkeit) beschäftigt und den Begriff des Sozialstresses gefunden. ... Professor Hülsing definiert den Sozialstreß als eine Summe verschiedener besonders beruflicher, psycho-sozialer und altersbedingter Faktoren. Er faßt ihn als Ausdruck einer akuten oder chronischen Überforderung der psychischen Regulationsbreite auf.
Man hat gefunden, daß viele Menschen, die diese Faktoren aufweisen, auch vom Typ her sehr ähnlich sind. Es ist nicht der ernsthafte, gelassene, geduldige, wettbewerbsfreie (!) Menschentyp, sondern der verantwortungsbewußte, ehrgeizige, von Spannung und Angst und innerem Aufruhr gezeichnete, ein gegen die Zeit gehetzt lebender Typ, der unter diesen Streßfaktoren leidet.“ (bayern-motor, Zeitung der BMW für Betriebsangehörige)

Daß es also nicht die Arbeit ist, die die Zerstörung der Arbeiter verursacht, stellt eindringlich der Fall Fritz Z. in der „Sprechstunde“ (Leser fragen – Ärzte antworten) des „Gong“ dar (Heft 22/77):

„Ich bin 32 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder. Ich arbeite bei einer Autofirma am Band. Seit drei Jahren habe ich starke Magenschmerzen und jetzt ein Geschwür. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, daß ich zwei Jahre arbeitslos war und ein Haus baue.“

Da also die Krankheit seiner Fehlanpassung an die Schwierigkeiten, die Fließband, Arbeitslosigkeit und Hausbau bereiten, geschuldet ist, in ein Problem der Einstellung verwandelt ist zu niedrige „Streßresistenz“), verlangt Fritz Z, auch psychologische Behandlung;

„Ich habe große Angst vor einer Operation und frage mich, ob ich nicht auch anders behandelt werden kann.“

Denn, daß das körperliche Leiden nur Ausdruck einer tieferen psychischen Schwierigkeit ist, erhellt daraus:

„Ich möchte noch sagen, daß ich noch jeden Tag 3 bis 4 Liter Bier trinke“ –

die machen nämlich nichts aus!

Ihn kann der Psychologe nur noch bestätigen:

„Sie haben die Magengeschwüre und die Magenschmerzen schon selbst in Zusammenhang mit seelischen (!) Erlebnissen – der zweijährigen Arbeitslosigkeit und dem Hausbau gebracht. Das halte ich für durchaus möglich, da ja der Verlust der Arbeit wie der Bau des eigenen Hauses vielfältige seelische Belastungen und Konflikte mit sich bringen kann.“

Frau Dr. Dattenberg, Psychoanalytikerin, kann ihm angesichts dieses bemerkenswerten Willens zur Selbstzerstörung denn auch gleich richtig wissenschaftlich kommen, indem sie ihn zur Therapie auffordert,

„Natürlich gibt es außer der Operation psychotherapeutische Verfahren, die solchen Menschen helfen können, die bereit sind, ihre Probleme zu sehen und viel darüber zu sprechen.“
„Sie müßten in einem ein- bis zweistündigen (= dem Ausmaß von Arbeiterproblemen Rechnung tragenden) Gespräch Ihre Erlebnisse genau schildern.“

–  und damit zugleich klarstellt, was er und seinesgleichen zu lernen haben: den Zwang der Arbeit, die Sorge um die materielle Existenz der Familie als Erlebnis zu betrachten, das man falsch verarbeitet hat, welch letzterer Fehlreaktion eigentlich nur korrigiert zu werden bräuchte, damit solche Erlebnisse endlich wieder gelassen als Erlebnisse, wie sie das Leben so mit sich bringt, hingenommen werden können.


Die Therapie der Volksseele

Niemand hat also heutzutage noch Skrupel, die Charakterdeformationen, die Perversionen der Gefühle, die schmutzigen Winkel der Privatsphäre und die alltägliche Gewalt und seelischen Leiden, die sich die Individuen selbst und wechselseitig antun, öffentlich auszuschlachten. Im Gegenteil: Es zählt zu den täglichen Vergnügungen, die eigenen Frusts und Schwierigkeiten an denen anderer messen und relativieren zu können. Und wie in den höheren Schichten die Übereinkunft besteht, daß das Recht auf Individualität sich bevorzugt darin verwirklicht, ihre Schwierigkeiten äußern und auf Verständnis rechnen zu können, so herrscht beim einfachen Volk die dazu komplementäre Überzeugung vor, daß dieses Recht sich in der Pflicht erfüllt, sich von den täglichen Plagen nicht unterkriegen zu lassen. So läßt sich das Volk seinen durch die gesellschaftlichen Notwendigkeiten kaputtgemachten Charakter tagtäglich in allen Variationen vorführen und findet an den positiven oder negativen Zerrbildern der bürgerlichen Normalität Trost für die Unbefriedigtheit, die ihm seine eigene Anstrengung, es als einfacher Mann zu etwas zu bringen, verschafft.


Das Glück der Selbstaufgabe

Es ist der Wille des Volkes, sich diesen schalen Trost, den es aus den trostlosen Vorführungen seines Opferdaseins zieht, in seiner Freizeit anzutun, weil die Erfahrung der notwendigen Enttäuschungen seinen Verstand nur zu einer Leistung bewegt: die falsche Gleichung Verdienst-Leistung-Fähigkeit, mit der man sich als Lohnarbeiter bestätigt, zu verallgemeinern und gegen seinen eigenen Widerwillen zu kehren. Die öffentlich verkündete Massenpsychologie tut ihm den gemeinen Gefallen, diesen Alltagsverstand zu bestärken und ihm seine Konsequenzen für die Sphären des privaten Glücks aufzuzeigen: Wo das Glück in den Zwängen des täglichen Lebens liegen soll, da ist die Beseitigung der eigenen Unzufriedenheit über das tagtägliche Scheitern, die bewußte Selbstaufgabe der beste Weg zum Glück. Weil die Ansprüche an die Seelenmassage der Öffentlichkeit wenig mehr sind als das Verlangen nach Bestätigung, daß es schwierig ist, sich zu bescheiden, jubeln die öffentlichen Ordnungshüter des Volksseelenlebens ihren Anhängern verständnisvoll unterhaltsam die staatstreue Fortsetzung unter, daß es nicht genügt, sich und anderen in Familie, Liebe usw. die Gewalt antun zu wollen, die zu diesen Formen der Reproduktion der abgewirtschafteten Arbeitskraft dazugehört, sondern daß man auch das beständig am eigenen Leib erfahrene Scheitern dieser Zwangskompensationen durch Selbstbeherrschung ertragen und eben darin seine Selbstverwirklichung sehen muß. Wenn diejenigen, die nicht zufrieden sein können, weil sie Rücksichtnahme auf ihre Bedürfnisse und Gefühle weder erwarten noch selbst nehmen können, sich damit zufriedengeben wollen, daß ihre Schwierigkeiten mit dem einfachen Leben doch normal seien, dann rechnet ihnen das psychologische Staatsgewissen teilnehmend vor, daß Normalität die Erfüllung der bürgerlichen Normen ist, die völlig zum eigenen Charakter geworden ist, und bietet mit dieser Aufforderung, den Rahmen der staatlichen Gewalt durch Selbstvergewaltigung auszufüllen, die Lebenshilfe, die diese Menschen verlangen.


Zeitgemäße Moralpredigt

Volk und Volksagitatoren haben also dasselbe Ziel: den Angriff auf die Widerstände des Individuums gegen seine Selbstaufgabe – die einen, weil sie an ihnen leiden, die anderen, weil sie durch sie die Nützlichkeit der Individuen für Staat und Gesellschaft geschmälert sehen. Einen solchen Angriff hat nur eine Gesellschaft nötig, die auf dem erzwungenen freien Willen der Individuen beruht, sich ausbeuten zu lassen und ihre ganze Existenz danach einzurichten. Die Psychologen des Alltags aber sind der Beweis dafür, wie sehr es die Gesellschaft deshalb verstanden hat, aus dieser Not die Tugend zu machen, die Gewalt der Verhältnisse denen, die sie tragen müssen, persönlich anzulasten. Die bürgerliche Gesellschaft, die dem freien Willen zum Durchbruch verholfen hat, hat in der weitgehenden Psychologisierung der Öffentlichkeit die adäquate Form für die Veranstaltung gefunden, die Unzufriedenheit der ausgebeuteten Privatpersonen sich staatserhaltend betätigen zu lassen, indem sie ihr das Recht zukommen läßt, sich dementsprechend zu äußern. Denn hier demonstriert sich bzw. läßt sich das gemeine Volk demonstrieren, daß die Gesellschaft an nichts so interessiert ist, wie an seinem Willen, wenn und solange er sich gegen sich selbst richtet und damit unmittelbare Gewalt ersetzt, vor allem in den Bereichen, in denen die Staatsgewalt die Freiheit des privaten Gefühls zur Grundlage gesellschaftserhaltender Institutionen gemacht hat. In der psychologischen Ergänzung der unmittelbaren öffentlichen Staatsagitation wird nicht mehr das staatsbürgerliche Verlangen nach Recht und Ordnung benutzt, um die Staatsnotwendigkeiten gegen Ansprüche der Privatpersonen ins Feld zu führen, sondern auf Basis der falschen Gewißheit über die Notwendigkeit von Recht und Ordnung durch die Bestätigung der Privatpersonen ihre Selbstrelativierung als ihr persönliches Anliegen vorgeführt. Die Macht der öffentlichen Moral, der es bedarf, um gerade auch die Sphären zu erhalten, die auf der Benutzung der Gefühle, individuellen Neigungen und persönlichen Bedürfnisse beruhen, also Ehe, Kindererziehung, Freizeit usw., ist heutzutage dadurch allgegenwärtig wirksam, daß sie ganz den Schein angenommen hat, nur das unmittelbare Selbstinteresse eines jeden zu sein, und daher auch sicher sein kann, alle zu interessieren. Diese Sparte öffentlichen Trosts eignet sich bevorzugt als staatsbürgerliche Medizin für diejenigen, denen an einer kritischen Kommentierung der Staatsgewalt nichts liegt, weil sie in ihnen nie hart genug ist, und die wegen der täglichen Plage von den kleinen Sorgen weitgehend ausgefüllt sind.

Deswegen zeigt sich in der Öffentlichkeit des gemeinen Volkes die gepriesene Menschenfreundlichkeit der Psychologie auch ganz unmittelbar darin, im Gewande der psychologischen Beratung oder Schilderung des normalen und anormalen Zusammenlebens die schiere Erfüllung der gesellschaftlichen Moral zu predigen. Denn die allein steht dem Volk zu, das sich für seine Existenzschwierigkeiten in der Konkurrenz keinen eigenen Psychotherapeuten leisten kann, wie diejenigen, die sich bei der Erhaltung ihrer erreichten Konkurrenzvorteile kaputtmachen, das sich daher auch nicht den kritischen Psychologenfirlefanz von der Ausweitung der Individualität durch Urschrei, Nacktbetatschereien und höhere Ehestreit- und Seitensprungkurse leisten kann –

geschweige denn den teuren Luxus, sich in der Freizeit ganz seinen Frusts zu widmen und sie zur freizügigen Frustbewältigung auszugestalten. Es kann sich gar nichts leisten außer, seine gewohnten Frusts runterzuschlucken, ab und zu privat aus der Haut zu fahren und mit den billigen täglichen Medienvorführungen, daß es das normalste ist, wenn man sich nichts leisten kann und will, auch schon von der Beschäftigung mit sich selbst Abstand zu nehmen. Die Erholung bei den Fällen, die das Leben schrieb, soll den einfachen Mann ja nicht dazu bewegen, sich zu ändern, sondern zu bleiben, was er ist, indem er sich noch besser in sein Schicksal fügt.


Psychologie der Staatsgewalt

Weil er seine Lage verewigt, indem er sich bei der Alltagsagitation nur erholt, verewigt er zwar auch den Unmut der Psychologen, die seine beschissenen Persönlichkeitsstrukturen gerne mehr aktivieren würden, Doch kann sich der Staat mit dieser Agitation zufrieden geben. Denn solange die nationale Psychohygiene der Massenmedien mit der menschenfreundlichen Erfüllung der staatlichen Normen in das normale Verhalten im Leben bei den Massen ankommt, braucht er sich um die Einhaltung seiner Normen keine übermäßigen Gedanken zu machen, Falls aber politisch Abnorme überhandnehmen sollten, denen der rechte Wille zum Staat abgeht, helfen keine Psychologen. Die Staatsgewalt und das Verlangen nach ihr ist immer noch die sicherste Psychologie, wie gerade psychologisierende linke Kritiker neidvoll zugestehen müssen, die ja gerne das Volk für eine Volksrepublik mobil machen möchten und deswegen unzufrieden sind, daß sich die Massen von ihnen dafür nicht manipulieren lassen:

„Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und dies auch mutig aussprechen ... Das Hakenkreuz enthüllt sich uns als die Darstellung zweier ineinander geschlungener Leiber, ... stellt einen Geschlechtsakt dar. Diese Wirkung des Hakenkreuzes auf das unbewußte Gefühlsleben ist natürlich nicht Ursache, sondern bloß mächtigstes Hilfsmittel des Erfolges der faschistischen Massenpropaganda.“ (W. Reich, Massenpsychologie des Faschismus)

 

aus: MSZ 18 – Juli 1977

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