Meinungsforschung:

Demokratische Bewußtseinspflege


Wenn Demoskopen über die politische Relevanz der Erforschung der Volksmeinung reden, greifen sie, um der eigenen Bedeutung Gewicht zu verleihen, zu hohen Idealen, nämlich dem der „Übereinstimmung zwischen dem Handeln der Regierung und den Überzeugungen der Bevölkerung“ (1/32). Als Praktiker einer Wissenschaft mit Blick für Wirklichkeitsnähe sind sie jedoch realistisch genug, klarzustellen, daß so ein Konsens zwischen dem Handeln der Regierung und der Meinung der Bevölkerung jedenfalls nicht dadurch hergestellt werden darf, daß weichliche Politiker sich von Irrationalen Ansichten und Wünschen einer niveaulosen Bevölkerung in ihrem Vorhaben beirren lassen. Politikern, die zu ihrer Standfestigkeit, die sie gegenüber der dumpfen Masse in politischen Dingen an den Tag legen, zu beglückwünschen sind, wird andererseits seitens der für die Auskunftschaftung der Volksmeinung Zuständigen der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie es versäumen, das Ihre zur Herstellung der Harmonie von Volk und Regierung zu tun:

„Die durch Demoskopie immer wieder zutage gebrachte Zweidrittelmehrheit der Bevölkerung für die Wiedereinführung der Todesstrafe läßt die Politiker kalt oder noch eher: sie sehen darin eine Selbstbestätigung. Die unvernünftige Bevölkerung folgt primitivem Rachedenken, die aufgeklärten Politiker aber lassen sich davon nicht beeindrucken, sondern handeln entsprechend Ihrem Gewissen und ihrer besseren Einsicht. Es geschieht nichts, um die Bevölkerung allmählich zu überzeugen, infolgedessen bleibt die Haltung der Bevölkerung in dieser Frage bis heute unverändert.“ (1/33)

Daß Politiker in ihrer Arroganz es nicht für nötig halten, die Bevölkerung zur eigenen Geisteshaltung emporzuheben und unter Nutzung der Ergebnisse der Meinungsforschung einen besseren, volksfreundlicheren, nämlich

„ … einen eleganten Weg (zu) suchen, den Widerstand der Bevölkerung zu berücksichtigen und doch (!) seinen politischen Willen durchzusetzen“ (1/33),

ist dem Experten in Sachen Volksmeinung Anlaß zur Kritik. Die traurige Nützlichkeit seiner Erforschung der herrschenden Meinung ist ihm ein solches Anliegen, daß er meint, ohne ihn und seine Unterstützung wären die Politiker dem Volk hilflos ausgeliefert, wenn sie dessen Widerstand zu brechen suchen.

Nun hat sich zwar noch keiner der angeblich so widerborstigen Bevölkerlinge bemüßigt gefühlt, wegen der Mißachtung seiner primitiven Rachegedanken dieselben an Politikern in die Tat umzusetzen, sondern sich noch stets mit seinem faschistischen Meinen zufriedengegeben. Aber den Meinungsforschern, die der forschen Meinung sind, ohne die praktische Verwendung ihrer Resultate für eine Dauerbekehrung von mindestens 2/3 der Bevölkerung ginge es zu wenig elegant (= reibungslos) zu, gelingt es mit solchen Beschwerden und Vorschlägen deshalb, zumindest eine Meinung zu bilden, nach der sie nicht fragen: das Wissen nämlich, daß die freien Gedanken der Mehr- und Minderheiten nicht geschätzt, sondern als das notwendige Übel der Demokratie von ihnen angesehen werden, durch dessen Erfragung man dazu beiträgt, es zu einem Hilfsmittel demokratischer Politik gegen seine Halter zu machen.

Angenehm berührt sind Meinungsforscher daher von Bestrebungen der Politiker, da, wo es machbar ist, die Meinung der Mehrheit konstruktiv werden zu lassen – als Zeichen einer funktionierenden Demokratie werten sie den Wandel der Politikerpersönlichkeit eines Kohl durch Brillen- und Frisurenwechsel zwecks Vertrauensbildung und Erleichterung der Qual der Wahl zwischen Kanzler Helmut und Kanzler Helmut.


Henri N. – „Hier wird manipuliert“

Die angesichts solcher Verwertung von Meinungen seitens der Presse, die sich viel darauf zugutehält, die Meinung überparteilich-unabhängig zu bilden, laut werdende Skepsis, ob die Demoskopie denn auch eine ehrenwerte Sparte der wissenschaftlichen Erforschung der Wirklichkeit sei, oder ob die fraglichen Untersuchungen zwar nicht von drüben, aber doch von Parteien finanziert würden und deswegen auch schmutzigen parteipolitischen Interessen ein nur scheinbar sauberes wissenschaftliches Mäntelchen umhingen (denn Geld regiert die Welt, und Geld ist ja bekanntlich schmutzig – womit die Meinungsforschung reingewaschen wäre) – diese Skepsis tut der Demoskopie bitter unrecht und ist zudem so ernst auch nicht gemeint.

Die besorgte Frage nach der Ehrenhaftigkeit wissenschaftlicher Erforschung und politischer Berücksichtigung des Meinungsbildes der Öffentlichkeit stellen Journalisten vornehmlich dann, wenn sie das „ Wahlvolk“ durch „Irreführung im Ornat der Wissenschaft“ (II) in falscher Weise zum Kreuz für die eine oder andere Partei getrieben wähnen, während ihr besorgtes Palaver über klarere Wahlalternativen, überzeugendere Kandidatenpersönlichkeiten und sachlichere Argumente zwar auch zum Kreuz, aber einem wohlüberlegten führen soll. Und gegenüber Unternehmensumfragen gemäß dem Interesse: Wie nutze ich die Notlage und die entsprechenden Wünsche und Zwänge der Leute aus, um das Konkurrenzunternehmen aus dem Feld zu schlagen – deren Resultate einem täglich aus der Röhre entgegentönen („... geht mir's gut, geht mir's gut, ja dann geht mir's wirklich gut“.) – ist der journalistische Rat, sich nicht verführen zu lassen, seine Bedürfnisse zu beherrschen und zum kritischen Preisvergleich durch zig Geschäfte zu dackeln, natürlich eine echte staatsbürgerliche Hilfe.


... contra Noelle N. – „Wer manipuliert denn hier!“

Solche Vorwürfe der Abteilung Meinungsbildung läßt die Konkurrenz von der Meinungsforscherfront nicht auf sich sitzen, sondern gibt sie postwendend zurück. Die Wissenschaftlichkeit läßt sie sich nicht anzweifeln, bemüht sie sich doch selbst darum, unsaubere Kandidaten à la Wickert auszuschließen, weil diese durch schlampige Arbeit und Verfälschungen (statt „sorgfältiger Statistiken“ und deren „vorsichtiger Interpretation“) das Ansehen der Branche und den Nutzen der Forschung gefährden. Im übrigen ist ihr Dienst an der Öffentlichkeit weit größer, weil sie zu ihrer Berücksichtigung beitragen, während die Presse behauptet, die öffentliche Meinung zu sein und sich um die der Leute gar nicht kümmert, deswegen auch die wirklich Aufschluß und hilfreichen Ergebnisse der Meinungsforschung gar nicht zur Kenntnis nimmt, sondern immer nur Ergebnisse diskutiert, die die Kenner der Materie für „ungefähr das Langweiligste und Vordergründigste halten, was wir zu bieten haben“.(II)

Von den Fanatikern staatsfürsorglicher Informationen und Diskussionen, die die Meinung des bewußtlosen Volkes auf das bescheidenheitsfördernde Niveau ihrer Besprechungen oder Opfer fürs Allgemeinwohl heben wollen, lassen sich die Fanatiker der Kenntnisnahme und Interpretation der vorhandenen Meinungen zwecks Erleichterung der Geschäfte von Politikern und Geschäftsleuten nicht irremachen, sondern verweisen selbstbewußt darauf, wie unerläßlich die Kenntnis der „wirklichen“ (und nicht journalistischen) öffentlichen und weniger öffentlichen Meinung ist, wenn man sie bilden will, um ihre Träger staatlicher- oder geschäftlicherseits ordentlich rannehmen zu können.

„Die öffentliche Meinung über einen Betrieb und seine Leistungen wird nun weitgehend geformt und bestimmt durch eine Fülle von Klischee-Vorstellungen, Denk- und Vorstellungs-Schablonen, die sogenannten »stereotypes' ... , die in einem Kollektiv lebendig sind ... Sie zu beeinflussen, ist Sache der Werbung. Indem die Marktforschung die Grundlagen dafür schafft, wird sie auch zur Werbeanalyse.“ (III/61)

Und auch in anderer Hinsicht wären beispielsweise Unternehmer ohne Markt- und Meinungsforscher schlecht dran:

Betriebsumfragen nämlich sind „für den Unternehmer auf jeden Fall von unmittelbarem Nutzen. Er lernt die Betriebsatmosphäre und die neuralgischen Punkte in seinem Betrieb kennen, in einem Maße, wie dies durch andere Verfahren nicht möglich ist. Er kann sich unmittelbar über die Aufnahme und die Wirkung geplanter Änderungen unterrichten...“ (III/67),

was entscheidend dafür ist, den einzigen neuralgischen Punkt bei Rationalisierungs- und sonstigen, zu Lasten der Beschäftigten gehenden Änderungen zu beseitigen – die Meinung der Betroffenen, geplante Änderungen seien nicht gerade begrüßenswert und müßten deshalb auch nicht noch freudig hingenommen werden.


Was und wozu man Staatsbürger alles fragen kann

Fragen nach der Meinung der Leute darüber, was von Staats wegen wohl auf sie zukommt, ob sie sich davon viel oder wenig zu erwarten haben, was von einem deutschen Unternehmer zu halten ist („Wie beliebt ist der deutsche Unternehmer?“ Stern), wem sie die Erledigung der Regierungsgeschäfte eher zutrauen („Was glauben Sie, welche Regierung würde mit unseren jetzigen Schwierigkeiten, den Wirtschaftsproblemen, der Arbeitslosigkeit und mit dem Terrorismus, am ehesten fertig werden?“ (V)), wieweit sie auf eine schnelle Erledigung des angeblichen Problems Nr. 1 bauen („Glauben Sie, daß wir dauerhaft mit etwa einer Million Arbeitslosen rechnen müssen, oder glauben Sie, die Zahlen werden wieder zurückgehen auf den niedrigen Stand, wie wir ihn vor einigen Jahren hatten?“ (V)), kurz danach, wie er sich zu dem stellt, was mit ihm angestellt wird, sind die Gegenstände dieser Wissenschaft. Und dazu gehört allemal auszukundschaften, ob die Grundhaltung der Bevölkerung zu dem, was Politik und Wirtschaft ihr abverlangen, eher positiv oder negativ ist:

„Hoffnung und Furcht: Sehen Sie dem nächsten Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ Mit Hoffnungen: 55 %. Mit Befürchtungen: 14%. Mit Skepsis: 19 %. Unentschieden: 12 %. (Dez. 77) (V)

–  mit dem Resultat, daß die herrschende Meinung bloß Meinung ist –

„Zur Resignation gehört auch, daß trotz Konjunkturprogramm und erster Anzeichen für einen Wirtschaftsaufschwung kaum jemand an einen baldigen Abbau der Arbeitslosigkeit glaubt.“ (V)

die dazu da ist, beeinflußt zu werden.

Eine Aufforderung, die zu befolgen Staats- und andere Männer sich nicht nehmen lassen, weil sie aus eben diesem Grund auf objektive Berichterstattung über die Stimmung in der Bevölkerung scharf sind.

Man muß mehr für das Bild des deutschen Unternehmers tun, bzw. die Unternehmer selbst müssen im öffentlichen und eigenen Interesse ihr Bild korrigieren, die Regierung/Opposition muß sich noch besser als Krisenmanager profilieren, den Leuten muß die Arbeitslosigkeit als bleibendes „Strukturproblem“ vorgestellt oder aber ihr Pessimismus mit „Wir müssen alle jetzt... , damit langfristig vielleicht... “-Programmen in Staatssorgen übersetzt werden. Schließlich ist in den USA Arbeitslosigkeit der Normalfall und dann, wenn Frauen in der Wirtschaft gebraucht werden, läßt sich die Doppelbelastung der Frau durch Hausarbeit und Beruf SPD-mäßig als ihre Chance zur Emanzipation vom „Nur-Hausfrau-Sein“ und gesellschaftlicher Unterbewertung verkaufen, oder CDU-mäßig an die frauengemäßen „drei K's“ erinnern und vor der Gefahr der Familienzerstörung warnen, wobei sich beide Seiten – vertreten sie doch den Volkswillen und wollen dies betonen – der erfragten Meinung der Öffentlichkeit bedienen. Entweder im Sinne: „Meinungsumfragen haben ergeben, daß die meisten Frauen selbst sagen ... oder: „Immer mehr Frauen sagen laut Meinungsumfragen“, oder auch: „Leider sind noch immer zu viele Frauen so, daß die über ihre Berücksichtigung hocherfreute Öffentlichkeit noch jedesmal studieren könnte, wofür sie gefragt wurde: Um sich gegen sie auf ihre Meinung zu berufen.

Das letzte also, was man Politikern vorwerfen könnte, ist mangelndes Interesse für die Stimmung in der Bevölkerung, wo sie diese doch gerade in ihre Politik einbeziehen, wo und wie es sich machen läßt.


Der Meinung ihr Recht zukommen lassen

Und das letzte, was man Meinungsforschern vorwerfen kann, ist Pseudofragerei und Antwortenmanipulation. Derjenige, der den Wert solcher Untersuchungen in Frage stellt, weil die Fragen keine „echten“ Fragen und die Antworten folglich nur Knopfdruckreflexe seien, übersieht nicht nur das perfide Interesse an der Meinung der Bevölkerung, sondern auch, daß zu Frage und Antwort immer noch zwei gehören und das Volk nichts anderes gefragt sein will und schon gar nicht das Problem hat, ihm würden Antworten aufgedrängt. Gewöhnlich haben Interviewer zwar den Fuß in der Türe, aber keinen Colt in der Hand, und wie es sich für die freie Meinungsäußerung gehört, haben bei Umfragen der folgenden Art:

„Wären Sie einverstanden mit einer Frau als Vorgesetzte? 85 % Ja. 11 % Nein.“ (IV)

diejenigen, die sich über das günstigere Geschlecht ihres Arbeitsüberwachers nicht schlüssig werden können, außerdem immer noch eine Ausweichmöglichkeit („Unentschieden 4 %“). Und – als Frau – kann man die Frage:

„Gefällt es Ihnen, wenn sich ein Mann politisch betätigt, oder finden Sie das nicht so sympathisch? Frauen 1976: Gefällt mir: 70 %. Nicht so sympathisch: 9 %.“ (IV)

immer noch mit „unentschieden, kommt darauf an: 21 %“ beantworten (dann nämlich, wenn politische Betätigung nicht unter die wichtigsten anziehenden Eigenschaften von Männern gezählt wird – was offensichtlich häufig der Fall ist; nach letzten MSZ-Umfragen deswegen, weil Frauen sich lieber selbst politisch betätigen und ihre Männer vor die Alternative Hausmann oder Beruf gestellt sehen möchten). Keine Meinung haben zu müssen (was natürlich auch eine Meinung ist), gehört zu den Errungenschaften der Demokratie genauso wie das Privileg, sich eine halten, aber auch nur das zu dürfen.


Repräsentation einmal anders, oder: Quantität und Qualität

In das Geschäft, ein Meinungsbild ausgewählter Teile der Bevölkerung herzustellen, investieren Demoskopen die dementsprechende Anstrengung, um mit ihrer Ausfragerei auch wirklich die Durchschnittsmeinung zu erfassen. Schließlich wollen die Repräsentanten des Volks und der Wirtschaft durchaus nicht wissen, was H.M. oder X.Y. denkt, sondern was die Mehrheit der Lieschen und Hans Müllers und Dr. Lieschen und Dr. Hans Müllers (deren Stimme sie ihr politisches Geschäft betreiben läßt und deren Vorstellungen sie werbewirksam ansprechen wollen) zu den geplanten oder schon vollzogenen Maßnahmen denkt und wie sie auf bestimmte Werbesprüche anspricht. Deswegen mühen sich die Demoskopen um exakte „repräsentative“ Umfrageergebnisse, stellen sich „Modellbevölkerungen“ zusammen, in denen prozentual 2 Proleten mit einem Kind, einer mit 2 und mehr Kindern, ein unverheirateter (mit unehelichem Kind), drei Angestellte, ein Akademiker ... sich über ihre Wahlabsichten äußern dürfen, CDU-, SPD- und FDP-Wähler aus den entsprechenden Schichten ihre Zufrieden- oder Unzufriedenheit über die Regierung kundtun, Männer und Frauen mit und ohne (Bildung, Einkommen über 1500, sexueller Erfahrung vor 20, Kindern, Kinderwünschen, Großeltern, Hunden und Urlaub im Ausland) für oder gegen ein neues Eherecht, mehr Kindergärten, Sexualkundeunterricht, Hundesteuer, Rentenreform usw. ihre unmaßgebliche Meinung kundtun dürfen.


Alternativen ohne Alternative

Und daß man auch die Fragen genau entsprechend dem Zweck zu stellen hat, für den man die Meinung gebrauchen möchte, führt die Pythia vom Bodensee gern vor:

„Als Beispiel zitiere ich eine Frage an nicht berufstätige Hausfrauen, ob sie gern berufstätig wären ... Eine Fragefassung ... verzichtete auf das Ausformulieren der Alternative und lautete: »Würden Sie eigentlich gern berufstätig sein, wenn es möglich wäre?«. Die andere Fragefassung hieß: »Möchten Sie eigentlich lieber berufstätig sein, oder machen Sie am liebsten nur Ihren Haushalt?« Ergebnis:

Die Folgerung, daß die meisten Frauen, die von der ihnen gesellschaftlich zugedachten Arbeit für Mann und Kind („machen wir’s in Liebe“) nicht umstandslos begeistert sind, realistisch genug sind, sich angesichts der Alternative Hausfrauendasein mit oder ohne Beruf (oder sogar ohne Haushalt) für den Haushalt zu entscheiden, ist für den Demoskopen keine.

Denn daß im einen Falle nach dem Wunsch gefragt ist, die häusliche Tretmühle mit einem Beruf zu ergänzen oder zu ersetzen, unabhängig von der praktisch akzeptierten (und theoretisch unterstellten Alternative, daß also im einen Fall die Ergebnisse widerspiegeln, wieweit die Befragten von sich aus den vorgestellten Fall der unbeschwerten Wahlmöglichkeit selbsttätig »realistisch« relativieren, während im anderen Fall die Frage selbst schon die Nichtexistenz dieser schönen Möglichkeit zum Ausgangspunkt der Frage macht und den Schein der freien Wahl ausdrücklich relativiert (wenn auch die Lüge, es ginge um eine freie Entscheidung aufrechterhalten wird), wird von Frau Noelle-N. gleich als bessere oder schlechtere Auskundschaftung der Einstellung der Frauen zu den nun einmal gegebenen Realitäten behandelt.

„Die Folgerung kann nur lauten, daß Alternativen im strukturierten Fragebogen grundsätzlich pedantisch auszuformulieren sind und daß Ausnahmen gut begründet sein müssen.
Die Wirkungen einer ausformulierten, beziehungsweise einer nicht ausformulierten, d.h. unterdrückten Alternative im demoskopischen Fragetext sind oft so phänomenal, daß man ahnt, wieviel Forschungsarbeit zur Aufklärung der dahinterstehenden psychologischen und kognitiven Vorgänge noch erforderlich sein wird.“ (IV/ Xf.)

Die Hausfrau, die sich – theoretisch vor die Wahl zwischen Drecksarbeit für die Familie und Drecksarbeit für die Firma gestellt – fürs erstere entscheidet, ist dem Demoskopen Anlaß, darauf zu reflektieren, daß es ihm mit seinen Fragen darauf ankommt, die Einstellung der Leute zu den Verhältnissen, in denen sie sich bewegen müssen, zu erfragen, weswegen reines Wunschdenken wenig „Aussagekraft“ besitzt (was wäre wenn...). Sein Interesse gilt ihrem Umgang mit existenten Schwierigkeiten, und deshalb greift er zu dem Mittel der realistischen Ausformulierung von Alternativen, um sie in einfühlender Rücksichtnahme auf die komplizierten Prozesse, die in ihnen vorgehen müssen, daran zu erinnern, was ihre Möglichkeiten sind.


Die Kunst der Interpretation

Schließlich geht es darum, das Material für den Umgang mit der theoretischen und schon staatsbürgerlich vorgebrachten Unzufriedenheit (natürlich im Dienste der Maßnahmen, die diese Unzufriedenheit unausweichlich machen) zu liefern, da die Hausfrauen nicht nur ihre Arbeit tun (und möglichst willigst tun) sollen, sondern, wenn es erwünscht wird, auch die Möglichkeit des zusätzlichen Berufs ergreifen sollen, wofür es nützlich ist zu wissen, wie sie sich zu den Alternativen, die sie praktisch zu ihren Ungunsten entscheiden müssen, meinungsmäßig stellen und wieweit auf diese Meinung Verlaß ist. Zwar liefert die eine Frage genausowenig oder -viel Verläßliches darüber, wie schwer sich die Leute wirklich entscheiden (darauf nimmt der Staat bei seinen Entscheidungen ja auch praktisch wenig Rücksicht), aber die Meinungskundschaftler wären keine, würden sie nicht die Meinung der Leute für den entscheidenden Motor ihrer Handlungen halten (statt für ein Mittel, den Zwang hinzunehmen), wenn sie um die möglichst exakte Erforschung der Meinung ringen und Gott und die Welt als Bedingungen und Faktoren der verschiedenen Meinungen zur Erklärung der Meinungen ins Feld führen. Unerläßlicher Bestandteil solcher Untersuchungen ist daher die Interpretation ihrer Ergebnisse, in denen das exakt repräsentativ gesammelte Staatsbürgermeinungspotential für die geplante Beeinflussung (d.h. die Politikerinterpretation) erklärend aufbereitet wird. Hier herrscht die Willkür (und nicht von vornherein die parteiliche, wohl aber eine, die jeder Partei aufgeschlossen sein kann und – wenns drauf ankommt – auch ist), die Beziehungen zwischen den behaupteten Bedingungen und den gesammelten Meinungen herstellt, Faktoren in kausale Abhängigkeit zu den aufgestellten Statistiken bringt, um die Schlüsse zu ziehen, um deretwillen man die Umfrage entsprechend veranstaltet hat (wobei höchstens die % überraschen können), und die die praktische Verwendung der Politiker vorwegnehmen. Die zum wissenschaftlich unterrepräsentierten Geschlecht gehörige Meinungsforschungskoryphäe hat denn auch ein schönes Beispiel geliefert, wie man mit solchen Schlüssen den Streit, wer hierzulande die öffentliche Meinung manipuliert, eindeutig entscheiden kann: Die letzte Wahl ist knapp ausgegangen, von den Presse- und Staatsnachrichtenfritzen haben aber 70 % SPD gewählt. Also haben die Medien vorwiegend SPD-Propaganda getrieben und deshalb manipulativ die Wahl entschieden. Worauf den Pressefritzen nicht mal der dazu passende Gegenschluß von ihrer Seite einfiel, die Bildzeitung werde aber von viel mehr Leuten gelesen als die SZ, deshalb haben die die Wahlentscheidung durch ihre Manipulation so knapp ausfallen lassen (ganz zu schweigen von den vorwitzigen Wahlprognosen der Meinungsforschungsinstitute !).


Statt Nasenzählern Herzensbrecher

Kritiker, die es auf die Mäkelei an der Demoskopie von deren eigenen Standpunkt aus abgesehen haben, wünschen sich staatssorgendselbstüberschätzend eine bessere Beeinflussung der Meinung (als ob es dem Staat darauf ankäme!) und meinen, man müßte sich nur mehr bemühen, sie genauer rauszukriegen. Sie stellen der logisch-kalten Begründung eines querschnittorientierten Verfahrens:

„Wir können nicht zählen (1,2,3,4 ...), ohne eine Vergleichbarkeit hergestellt zu haben (??)“ (VI)

die pure Menschlichkeit entgegen, der die „massenstrategische“ Meinungsforschung nicht gerecht werden kann. Weil nämlich der, der zählt, immer nur Zahlen und sonst nichts in Händen hält, schlüpft ihm der Mensch gemeinsam mit der Qualität der Aussagen, die er gezählt hat, durch die Finger:

„Das »Nasenzählen« allein kann die Richtigkeit der Erfassung der Qualität nicht ersetzen. Das Individuum bringt durch seine Freiheit die entscheidende Qualität mit ins Spiel.“ (VII)

Die freie Meinung hat schließlich subjektive Gründe, und die staatsgemäß zu machen, wäre – so träumt der kritische Meinungsforscher – die Lösung aller Probleme mit den Meinungen. Weil das dumme Individuum in seiner leidigen Freiheit sich dem Zugriff der Demoskopen immer wieder entzieht, empfiehlt sich ein qualitativeres Verfahren, ihm zu Leibe zu rücken und die Meinungsdunkelziffer zu verringern – die Psycho-Masche:

„In den verschiedensten kleinen Gruppen werden immer wieder Meinungen gebildet und diskutiert. Wenn man sich Mühe nimmt und Zugang zu dem Herzen eines Menschen findet, was der mechanisierten und eiligen Meinungsforschung nur ganz selten möglich ist, wird man in jedem Menschen »Meinung« aufspüren können.“ (VII)

Dies freilich reißt keinen konventionellen Demoskopen vom Hocker. Ihm ist das Problem mit dem widerspenstigen Menschenmaterial nicht neu, welches sich nicht dazu bequemen will, dem Mann mit dem Fragebogen Stunden seiner Zeit zu opfern. Deshalb hat auch der an herzlosen Zahlen Interessierte nichts Eiligeres zu tun, als sein Herz für die Menschlichkeit, da wo sie am Platze ist, zu entdecken:

„Man hat schon häufig Kataloge aufgestellt, welche Eigenschaften ein Interviewer haben soll – gesundes Aussehen, ruhig, sicher, zuverlässig, aufrichtig, fröhlich, interessiert, sauber, gepflegt, natürlich (natürlich!) – im Grunde handelt es sich bei all dem nur darum, daß er kontaktfähig sein und sympathisch wirken muß.“ Gefordert ist „... eine Offenheit, eine gespannte Teilnahme an menschlichen Dingen, frei von Ich-Bezogenheit, von Geltungstrieb, eine nicht auf Beeinflussung, sondern auf Beobachtung anderer gerichtete Energie. Eine solche Veranlagung ist erforderlich, um vollständige und zutreffende Auskünfte im Interview zu erhalten und sie unverfälscht niederzuschreiben – mit der in den technischen Analogien gemeinten Neutralität eines Tonbandgeräts.“ (VIII)

Was könnte den Charakter dieser Wissenschaft und ihr zynisches Wissen um den Gegensatz ihrer Anstrengungen zu denen, die ihr Gegenstand sind, besser kennzeichnen, als die idealistischen Charakteranforderungen an ihre praktischen Helfer, die Interviewer: Nur ein bedenkenloser Schleimer schafft es, den Leuten, die sich ihre Meinung halten wollen, diese auch zu entlocken.


Wider die Meinungsmuffel

Was Frau Noelle-Neumann den Interviewern als Mangel an Zynismus in die Schuhe schieben will (ein sicherlich ungerechter Vorwurf), ist das Problem der Demoskopie mit den menschlichen Erhebungseinheiten, die, selbst wenn sie dazu animiert werden können, Rede und Antwort zu stehen, eben die Offenheit vermissen lassen, die Voraussetzung für eine repräsentative Erschlüsselung der an anderer Seite wichtigen Meinung ist. Der begründete Glaube des kleinen Mannes, es könne nichts Gutes für ihn dabei herauskommen, wenn sich z.B. die SPD durch einen Vertreter bei ihm erkundigt, wie er denn zur Rentenreform stehe, oder wenn er die Frage beantwortet, ob bei seinen Wünschen für das Jahr 78 eher Glück oder Gesundheit an erster Stelle stünden, bringt es mit sich, daß er dem „kontaktfähigen Pedanten“ an der Haustüre oder im Wohnzimmer nicht unbedingt die eigene Meinung präsentiert, und seinerseits Ehrlichkeit und Offenheit heuchelt.

Dabei hätte er doch, wollte man Frau Noelle- Neumanns Worten (Fragen zur Zeit) Glauben schenken, gerade und nur beim Tête-à-tête mit seinem Interviewer die Möglichkeit, die ihm in unserer entmenschlichten Gesellschaft versagt gebührende Anerkennung seiner ganz besonderen Persönlichkeit zu finden, wenn er sich nur dazu überwinden wollte, seine ganz persönliche Meinung zu sagen, statt aus Angst vor Enttäuschung immer nur die in den Medien verbreiteten, daher offensichtlich „anerkennungsfähigen Meinungen“ nachzuplappern. Und eben dadurch könnte es sich doch ergeben, daß – dank der hilfreichen Weiterleitung seiner bislang unmaßgeblichen Meinung durch die Demoskopie – endlich einmal auch auf ihn gehört würde. Dann nämlich, wenn er, weil er die eigene Meinung aus dem Kasten hört, endlich wüßte, daß man sie äußern darf, und daß x % außer ihm sich ebenso geäußert hätten, wenn sie gefragt worden wären, und daß er sicher sein könnte, daß er auch vom Interviewer nicht ausgelacht wird, wenn er sich zu seiner Meinung bekennt.

Was die Demoskopie dazu führt, die Nutzbarmachung ihrer Ansichten für die Zwecke von Wirtschaft und Politik als Therapie zur Bewältigung ihrer psychologisch-menschlichen Minderwertigkeitskomplexe anzupreisen, ist ihre Unzufriedenheit mit den Ausweichbestrebungen, die die Forschungsobjekte angesichts ihrer Ausforschung an den Tag legen.


Von der vox populi zur vox revi

Vertreter der kritischen Variante der Sozialforschung formulieren an solcher Vereinnahmung der Massen für fremde Zwecke eine überaus radikale Kritik:

„Der Typus kritischer Sozialforschung, den wir vor Augen haben, bezieht sich auf Handlungszusammenhänge nicht nur als theoretisches Problem, sondern bedeutet in seinem Vollzug die Veränderung von Gegebenheiten ... Der Forschungsprozeß wäre auf diese Weise Lernprozeß für beide, Forscher- und Adressatengruppe. In ihrer Interaktion klären sich Standards, Strategien und Situationseinschätzungen, entfalten sich Auffassungen über Lage und Handlungsmöglichkeiten.“ (IX)

Ihre Sorge um die Nützlichkeit der Demoskopie treibt sie dazu, das Erhebungsmaterial Mensch zum „Partner“ der Forscher aufzuwerten, dem nicht bloß in theoretisierungs-kalter Manier Meinung abgefragt, sondern – was wesentlich praktischer ist – die eigene Meinung schleunigst gebildet werden soll. An ihre Stelle setzt der Forscher die kritisch-emanzipatorische Meinung, daß eine „ Veränderung von Gegebenheiten“ dadurch stattzufinden hat, daß mit den Handlungs,,möglichkeiten“ auch ihre Grenzen reflektiert werden, und mit dem, was Anlaß zur Unzufriedenheit war, ein Einverständnis entwickelt wird, das in der Problematisierung des eigenen Umgangs („Standards, Strategien und Situationseinschätzungen“) damit besteht. Die Kritiker haben also etwas gegen die landläufige Demoskopie, weil sie aktive Staatsbürger per Belagerung schaffen wollen (was natürlich dem Arbeitsmann enorm nützt!). In einem „Lernprozeß“ wollen sie dem Bürger ihr Interesse an der demokratisch-mündigen Meinung, mit der dieser seine Lage kommentieren soll, in eigener Person aufdrängen, um den unfähigen Politikern das Instrument Meinung aus der Hand zu schlagen und – so die Wunsch-Fortsetzung der Revi-Organisationen – die Massen den per linker Befragung gebildeten Wunsch nach fähigeren Politikern (z.B. die Befrager?) zu kämpferischen Taten werden zu lassen.

Nachweis der Zitate:

I. E. Noelle-Neumann, Die Politiker und die Demoskopie
II. Spiegel 37/1976, Politik und falsche Zahlen
III. Marktforschung
IV. Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie 1974-76
V. Stern 1/Dez. 77
VI. E. Noelle-Neumann, Über den methodischen Fortschritt in der Umfrageforschung
VII. A. Bauer, Der freie und unberechenbare Mensch. Kritik der Markt-, Meinungs- und Motivforschung, Nürnberg Xxx61
VIII. E. Noelle-Neumann, Umfragen in der Massengesellschaft, Hamburg 63
IX. J. Ritsert, Inhaltsanalyse und Ideologiekritik. Ein Versuch über kritische Sozialforschung, Frankfurt 72

 

aus: MSZ 24 – Juli 1978

zurück zur Startseite