Ein Langer Atem geht durch Marburg

Sozialkampf und kein Ende


Auch in Marburg ist es November geworden. Nur noch vereinzelt zeugen bunte Aufkleber auf Tasche und Revers von dem, was diese Stadt in den letzten Wochen bewegt hat. Der Sozialkampf ist beendet – mit einer Niederlage der Studenten. Ihre Gebührenverweigerung konnte das KuMi nicht von der Erhöhung der Sozialbeiträge von 94,50 DM auf 119,50 DM abbringen. Man mußte sich geschlagen geben und zahlen, um nicht den Studienplatz zu verlieren. Droht Resignation? Die vom MSB-SHB-AStA herausgegebene „Streikpresse“, bislang Bote unbeirrten Überschwangs, verspürt die herbe Pflicht, nüchtern Bilanz zu ziehen, „völlige politische Klarheit“ herzustellen: Ihr

„ist es ein brennendes politisches Anliegen, Unsicherheit durch einen intensiven Diskussionsprozeß zu beseitigen, weil Unklarheiten Resignation erzeugen.“


Der Grund der Niederlage: ein Schlag unterhalb die Gürtellinie

Man ist zu Recht empört, daß der Gegner solche Gefahren heraufbeschworen hat: „Unseren Gegnern ist es gelungen, uns mit den raffiniertesten und unverschämtesten Mitteln zu erpressen“ – als da sind: „Unverschämte Exmatrikulationsdrohungen, Verweigerung von Studienbescheinigungen und Krankenscheinen.“ Wer erpreßt, kämpft nicht fair, verletzt die Regeln. Man wollte doch dem Staat nur abringen, was einem zusteht, und da setzt der ein Druckmittel ein, dem die Studenten nichts entgegenzusetzen haben! Hier zeigt sich wieder einmal die Bosheit des Staates, dem man zunächst nur die eigene Anständigkeit entgegenzustellen hat.

Doch warum ist der gerechte Kampf gescheitert? Soll es etwa an mir gelegen haben? – so möchte sich derjenige zunächst beklommen fragen, welcher noch die Worte des AStA-Vorsitzenden beherzigt, die dieser ihm in den Sommerferien hatte brieflich an den Heimatort zugehen lassen:

Ob der Kampf gegen die Erhöhung der Sozialgebühren ein Erfolg wird, hängt von jedem Einzelnen von Euch ab.“

Jedoch wenngleich ein eventueller Erfolg sicherlich der kämpferischen Leistung der Studenten hätte angerechnet werden können, die Verantwortung für den eingetretenen Mißerfolg möchte der AStA seinen Studenten nun wieder nicht zumuten. Im Gegenteil:

„Die Marburger Studentenschaft hat bewiesen: Wir sind nicht bereit, sozialer Demontage mit Stillhaltepolitik zu entgegnen. Ein organisierter Rückzug von einer aussichtslosen Kampffront, nämlich der Verweigerungsfront, basiert einzig und allein auf einer nüchternen Einschätzung des Kräfteverhältnisses, nicht aber auf einem Einschwenken auf Stillhalte-Politik.“

Resultat dieser nüchternen Einschätzung: Der Gegner hat deshalb gewonnen, weil er stärker war! – und mit einem Hauch von Bewunderung muß man feststellen, daß nicht nur auch er „aus früheren Kämpfen gelernt“ hat, sondern daß ihn darüber hinaus noch ein weiteres auszeichnet:

„Die Herrschenden haben bei ihrer Politik der Gebühren- und Preiserhöhungen, der Abwälzung der Krisenlasten auf die arbeitende und lernende Bevölkerung, einen langen Atem.“


Der Kampf war gerecht

Zum Glück hat man wenigstens niemals ernsthaft an der Berechtigung des Kampfes gezweifelt! Denn in den Streiktagen hatte man ja, – da es „nicht immer gelungen war, seine (des Kampfes) politische Funktion zu vermitteln“ – nicht nur den Realismus der Forderung „mehr Bildung statt Rüstung“, sondern auch die Tatsache klargestellt, daß man natürlich nicht nur die Zahlung der 25 DM verweigert, „um eine drohende Verschlechterung unserer sozialen Lage abzuwenden.“ Da würde ja der demagogische Vorwurf Osswalds zutreffen, man wolle auf Kosten der Arbeiter seine Privilegien erhalten. Ganz im Gegenteil: man steht in einer breiten Front:

„Hierzu wurde von mehreren Teilnehmern entwickelt, daß von der ökonomischen Stellung der Studenten und Arbeiter sicherlich keine Interessensidentität ableitbar ist, jedoch von der historischen Entwicklung der geistigen Arbeit und der gleichen Betroffenheit von Arbeitern und Intelligenz von Preistreiberei und Willkür der Großkonzerne sich sagen läßt, daß die Interessen gleichgerichtete sind. Somit kann auch unsere Tagesforderung nach Immatrikulation mit 94,50 DM als Teil des Kampfes gegen die allgemeine Verschlechterung der sozialen Lage der arbeitenden und lernenden Bevölkerung einen Beitrag dazu leisten, die Kampfposition der Arbeiterklasse zu stärken und auszubauen.“

Man kann zufrieden sein, dient man doch einem guten Zweck. Denn daß sich da keiner was vormacht, hier gehts kommunistisch zu! Zunächst gilt dies mal für die Kämpfe der Arbeiter: Zwar – so schränkt man ein – sind Lohnkämpfe nicht per se revolutionäre Kämpfe, aber im Grunde dann doch wieder, denn

„richtig ist doch auch (!), daß das Interesse am Lohn sich im Widerspruch zum Interesse des Kapitals konstituiert, daß also die kapitalistische Gesetzmäßigkeit (Wertgesetz) sich nur im antikapitalistischen Kampf selbst durchsetzt. Interessen, die sich auch im Tageskampf um mehr Lohn ausdrücken, sind doch auch die materiellen Triebkräfte, die das Interesse des Proletariats am Sozialismus begründen. Der Tageskampf, der in der Richtung dieses sozialistischen Ziels liegt, ist also das dynamische Element, der Schritt zur Weiterentfaltung der kapitalistischen Widersprüche, ein Schritt zur Aufhebung des Kapitalismus selber.“


Der Gegner ist heimtückisch

Und was die Lernenden wollen, geht natürlich in dieselbe Richtung. Derjenigen, dem vor solch weitreichenden Konsequenzen seiner studentischen Unzufriedenheit graust, soll sich doch einmal genauer anschauen, was der Gegner will: Der hatte doch nicht nur Gebührenerhöhung, sondern noch etwas anderes im Sinn:

„Hier sollte ein Exempel statuiert werden, hier sollten die Marburger Studenten exemplarisch zum Stillhalten gezwungen werden.“

Nicht nur die Monopole, sondern auch der Staat legt hier also Hand an die soziale Gerechtigkeit, und die Gebührenerhöhung war nur Mittel für dieses Exempel. Und was hat er nicht alles für weitere Gebührenexempel in der Hinterhand, wie lang ist nicht sein Atem:

„denn die nächsten Belastungen stehen schon auf der Tagesordnung. Die Beiträge zur Studentischen Krankenversorgung ... sollen 200 DM pro Jahr betragen. In Marburg stehen Gaspreissteigerungen und Buspreiserhöhungen an. Die Mieten gehen weiter in die Höhe“. Kurz: „Arbeitende und lernende Bevölkerung sollen gleichermaßen ausgeplündert werden.“

Na klar, hier sitzen alle in einem Boot gegen die Herrschenden: Busbenutzer (die Großen arbeiten ja nicht und bei der Bank fahren sie mit dem 600er vor), Mieter (die Herrschenden sitzen in dicken Villen und kassieren auch die Mieten), Strom- und Gasverbraucher (brauchen die da oben nicht), Wassertrinker und -wascher (da oben trinkt man bekanntlich und badet man in Sekt). Wer wollte da nicht mitkämpfen, und wer ist da kein Kommunist, ist doch jede Unzufriedenheit gegen den Staat und seine Monopole kommunistischer Tageskampf gegen die Monopole und ihren Staat. Also los, Studenten, im breiten Bündnis der Bevölkerung (Gas-, Strom-, Wasserverbraucher in vorderster Front für den Sozialismus) habt auch ihr eure Aufgabe. Besinnt euch recht auf eure eigenen Interessen, und scheut nicht davor zurück, daß dies „revolutionäre Politik hier und heute, revolutionäre Politik als Tagesaufgabe breiter Massenbewegungen“ ist. Wer wollte da zurückstehen?

„In dieser Situation haben wir nein gesagt: wir sind nicht bereit, weitere Verschlechterungen unserer sozialen Lage hinzunehmen, wir machen die Politik der sozialen Demontage nicht mit. Stillhalten nützt gar nichts, dieser Erhöhung werden andere folgen. Wir werden für unsere Interessen aktiv, unsere Forderungen sind berechtigt.“ Zufriedenheit kommt endlich auf. „Wir haben einen dicken Strich durch diese Rechnung der Landesregierung gezogen.“
„Durch eine Massendemonstration von 6000 Marburger Studenten wurde deutlich, daß die Politik der sozialen Demontage in Marburg nicht widerstandslos Platz ergreifen kann, zeigten die Studenten ihre Kampfbereitschaft gegen die drohende Exmatrikulation.“

Freilich, bei der Bereitschaft mußte man es dann schließlich belassen; denn wenn der Kampf wegen der Böswilligkeit der Regierung das Interesse für das man kämpft, gleichzeitig gefährdet, muß man natürlich abwägen und kommt in gewaltige Interessenskonflikte. Klar, hier einfach weiterzumachen, wäre „halsbrecherische Politik“.


Der Anführer schlief

Doch warum waren die Marburger Sozialkämpfer dem Staat nur so ausgeliefert? Erneut stellt sich die Frage nach dem Grund für den Mißerfolg. Erinnern wir uns doch, daß es Möglichkeiten für den Erfolg gab:

„Die Kampfkraft der Studenten allein ist nicht groß genug. Wir brauchen die massive Unterstützung der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften. Im Kampf gegen Gebührenerhöhungen kann hier konkrete Solidarität durch gemeinsame Kämpfe aller Betroffenen erreicht werden, die Erfolge möglich machen.“

Sollte es etwa hier gehapert haben? Angesichts der Gleichgerichtetheit der Interessen freilich schwer vorstellbar. Und doch: Der Verdacht bestätigt sich:

„Ein Mangel unseres Verweigerungskampfes war die fehlende gemeinsame Aktion von Arbeitern und lernender Bevölkerung Marburgs.“

Da kann doch was nicht stimmen? Wo bleiben die Gewerkschaften?

„Die Unterstützung durch die Gewerkschaften wird gegenwärtig dadurch erschwert, daß zur Zeit keine realen Kämpfe (– andere natürlich massenhaft! – MSZ) in der Arbeiterklasse für ihre eigenen Forderungen vorhanden sind.“

Klar, das mußte ja schiefgehen! Also sind die Arbeiter schuld, offensichtlich selbstlose Menschen, keine Kommunisten? Aber nein, so weit darf man nun doch nicht gehen; wir hatten doch schon oben erfahren, daß natürlich die widerwärtigen Manöver des Staates der eigentliche Grund sind. Man soll sich lieber fragen, was das für Verhältnisse sind, wo die Arbeiter ihre Interessen selbstlos aufgeben und darin gleich so weit gehen, daß sie auch alle gleichgerichteten Interessen fallen lassen!


Jede Niederlage ein Sieg

„Können wir nun überhaupt nichts mehr tun?“ fragt man sich verzweifelt. Darauf hat der AStA nur gewartet: Kopf hoch: „Resignation, Abschlaffen, das wäre jetzt das falscheste“, denn was haben wir gelernt: Zum einen, daß der Mißerfolg eigentlich ein Erfolg war:

„Wir haben wichtige Teilerfolge erzielt“, u. a. „Innerhalb kurzer Zeit konnte eine breite, stabile Verweigerungsfront aufgebaut werden.“

Das kann natürlich nur nützlich sein für spätere Kämpfe, auch wenn sie diesmal nicht lange gehalten hat, das muß man eben noch lernen; immerhin

„durch unsere große Solidarität haben wir eine Fristverlängerung vom 14. bis 31. 10. 1974 durchsetzen können“ ...

Mehr noch:

„wir haben in diesen Kämpfen einen wichtigen Beitrag zur Veränderung des Kräfteverhältnisses geleistet.“

Wodurch:

„Die Marburger Studentenschaft hat bewiesen, daß sie wie kaum eine andere Studentenschaft in der BRD bereit ist, die sozialen Interessen der Studentenschaft zu verteidigen, daß sie bereit ist, gegen eine Politik der sozialen Demontage zu kämpfen.“

(Hoffentlich kommen nur nicht die anderen Länder aufgrund dieses Beweises auf die Idee, bei sich die Gebühren zu erhöhen!) Aber man hat noch mehr gelernt. Der Kampf ist angesichts dieser erneuten Sauereien der Herrschenden natürlich gerechter geworden: Man kann nun fester auftreten:

„Wenn wir höhere Gebühren zahlen müssen, wenn Preissteigerungen überall anstehen, dann wollen wir erst recht mehr im Portemonnaie haben, dann muß das BAFöG erhöht werden.“


Der Kampf wird immer gerechter

So wird der Kampf von Mal zu Mal gerechter, und irgendwann muß doch auch mal der Letzte einsehen, daß seine Unzufriedenheit nur der heilige Zorn gegen Monopol und Unterdrückung ist. Also vorwärts, alle Schichten der Bevölkerung gegen die Ungerechtigkeit des Staates: gibt man ihm was mehr, so soll man auch was mehr verlangen können!

Nur aufgepaßt, daß man ihn nicht plötzlich aus Versehen abschafft, denn er kann ja dann gar nichts mehr anderes verteilen. Aber wer will denn das gleich, Kommunismus heißt doch nur: gerechter verteilt soll werden! Das Geben und Nehmen soll anders werden! Freilich kann einen das ganz schön auf die Palme bringen, wenn der Staat immer wieder mit seinen allgemeinen Gebührenerhöhungen den Monopolen nutzt! Doch das wird ihm vergehen! Denn wir haben nun als letztes gelernt, falls wir es nicht schon vorher wußten:

„daß wir weder jetzt noch in Zukunft im Kampf für unsere sozialen Interessen stillhalten werden.“


Auf zum nächsten Gefecht!

Beim nächstenmal kämpfen wir natürlich konkret solidarisch mit der Bevölkerung und –

„Was Marburger Studenten im Kampf gegen die Landesregierung nicht durchsetzen konnten, muß durch die gemeinsame Aktion der westdeutschen Studentenbewegung in diesem Semester erreicht werden.“

Man hat also noch einiges zu tun. Schauen wir vorwärts und diskutieren die nächsten Kampfschritte, als da wären

„ – organisierter Rückzug – Zahlung von 119,50 DM“ (stimmt, das hätten wir über der rosigen Zukunft fast xxx xxxvergessen!)

– „ Kampf um 600 DM BAFöG noch in diesem Jahr“

– „Kampf gegen kommunale Gebührensteigerungen zusammen mit der arbeitenden Bevölkerung“ usw. usw. Man xxxkann ja selbst auch noch aufzählen, was einem so alles stinkt.


Ratten auf dem Schlachtfeld

Nun müßten doch alle zufrieden sein! Es geht doch weiter! Aber da gibt es noch welche, die sich Kommunisten nennen und dennoch den AStA kritisieren. So was kennt man ja. Nach jeder kleinen Niederlage zeigen sich diese „Ratten, die aus den Löchern kriechen und nichts anderes zu tun haben, als die Politik des AStA anzupinkeln.“ Man sollte sie vergiften diese Brut! Die Bevölkerung würde einen hier ausnahmsweise sicher einmal unterstützen! Doch keine Angst. Man hat ja schon erklärt, daß solche Stilhaltepolitiker, solcher „Rumpfmarxismus“, solch „kümmerlicher Torso“ „wird über Bord geschmissen werden müssen.“ Ratten ersäuft man eben am besten ...

 

aus: MSZ 2 – Dezember 1974

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