Staatsbürgerkunde in schwerer Zeit:
Notenbüchlein zum Lobgesang der Demokratie
Die Freude an diesem Fest ist nämlich getrübt: Das Traurige ist, daß die Bürger daran zweifeln, ob das 25jährige Bestehen der Demokratie überhaupt ein Grund zum Feiern ist. „Dieses System ist bereits in Mißkredit geraten. Allenthalben ist in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland Unzufriedenheit mit der politischen Ordnung zu verspüren, nicht wenige Mitbürger scheinen ihrer schon überdrüssig geworden zu sein und manche kritischen Beobachter sind der Ansicht, dieses politische System befinde sich nach 25 Jahren in einer Zerreißprobe wie nie zuvor.“ (Laufer, S. 15) Also ist das Gebot der Stunde, dem Bürger ins Gedächtnis zu rufen, was er an seiner Demokratie eigentlich hat, das Lebenswerte und Verteidigungswürdige am demokratischen Staat wieder hervorzukehren in der stillen Hoffnung, daß „vielleicht beim überdenken da und dort die Bereitschaft wächst, sich für diese Ordnung mehr und stetig einzusetzen.“ (Laufer, S. 13) Doch die ernüchternde Bilanz, die die Münchener Professoren ziehen, scheint eher dazu angetan, die Bürger in ihrem Unbehagen mit den Verhältnissen zu bestärken, statt der Demokratie neue Attraktivität zu verleihen. Denn ohne zu beschönigen sprechen die Autoren aus, daß mit dem demokratischen System so gut wie nichts stimmt. Das, was die Demokratie ausmacht, sind „Mängel und Widersprüche“, und zwar solche „essentieller Natur“, so daß an ihre Beseitigung nicht zu denken ist. Was alle Autoren als Ergebnis ihrer „Analyse“ desillusionierend feststellen, ist, daß diese Gesellschaft nie halten kann, was sie verspricht: Demokratie ist ein Zustand des ewigen Mißstands, ihre Bürger „müssen das Paradoxon, das im Bemühen um Ausgleich und Vergeblichkeit, in Überbrückung und Scheitern besteht ertragen.“ (Lauter, S. 25) „Das freiheitliche demokratische System (ist) ein politischer Systemtypus der Widersprüche und Gegensätze, kein System der Harmonie und Konfliktlosigkeit, nicht eine eindimensionale politische Ordnung, sondern eine solche zahlreicher, divergierender, ja konträrer Dimensionen, eine coincidentia oppositorum.“ (Laufer, S. 16) Laufer weiß das an „zahlreichen prinzipiellen und damit systemimmanenten Widersprüchen des politischen Systems“ zu konkretisieren, womit dem Staatsbürger, der seinen Ausführungen lauscht, mit Erschrecken zu Bewußtsein kommt, daß das, was die Demokratie so schön und lebenswert machen soll, gerade die Tatsache ist, daß sie das gute und schöne Leben systematisch verhindert.
So muß er sich von Laufer sagen lassen, daß man von ihm als aufrechten Demokraten die Paradoxie verlangt, sich für ein Gesellschaftssystem einzusetzen, das seine eigene Existenz permanent aufs Spiel setzt – „Die existentielle Not bestimmter gesellschaftlicher Gruppen widerspricht der Grundforderung der sozialen und solidarischen Demokratie“ –, ja, daß er diese Bedrohung zum positiven Ausgangspunkt seines Bestrebens machen muß – „Doch mit diesen Widersprüchen heißt es zunächst im demokratischen Alltag auskommen . .“ (Laufer, S. 24) –, denn die Bedrohung gehört zur Demokratie dazu: „Es ist eine dem System immanente Gefährdung“, die „weltweite Dimensionen erkennen läßt“. (Laufer, S. 15) „Die politische Korruption“ ist ein „systemimmanenter Widerspruch“: „Zwischen Menschenwürde, Personalität und Rationalität einerseits und politischem Verhalten von Bürgern und Amtsträgern andererseits sind allenthalben Widersprüche festzustellen. Sie werden nicht zu beseitigen, sondern zu mindern sein.“ (Laufer, S. 24) Schließlich fordert man vom Staatsbürger angesichts der „nie aufhebbaren Gegensätze“ nicht zu resignieren, sondern sich engagieren, mit dem Ziel, das Übel der demokratischen Gesellschaft als „menschenwürdigstes“ zu verteidigen. „Die Widersprüchlichkeit ist nicht wenigen Bürgern in der Demokratie unbekannt, und sie wird kaum reflektiert. Es wird jedoch zu zeigen sein, daß es vor allem die dem demokratischen Staat eigenen Gegensätzlichkeiten sind, die Hilflosigkeit, Fremdheit, Aversion, Feindschaft, ja Verneinung bezüglich der freiheitlichen Demokratie hervorrufen.“ (Laufer, S. 16)
Wer immer noch nicht glaubt, daß das Leben in der menschlichen Gemeinschaft die beständige Perpetuierung von Übeln ist, dem erklären die Münchener Politologen in ihrer Eigenschaft als Wissenschaftler auch noch, warum das so sein muß. „Wie die Geschichte der Menschheit beweist, hat diese Entwicklung ungeheure Vorteile; sie hat aus dem Menschen ein Wesen gemacht, das (…) die Herrschaft über die Natur an sich gerissen hat. Aber sie hat einen entscheidenden Nachteil, der es mit sich bringt, daß die Kompensation der menschlichen Unvollkommenheit durch die Gesellschaft eine neue Unvollkommenheit nach sich zieht: während der Instinkt als ein biologischer Mechanismus ohne vorhergehende Überlegung (!) und Entscheidung eingreift, können Regeln willkürlich durchbrochen werden.“ (Lobk., S. 31) (Typisch Lobkowiczsche Logik: Der Vorteil ist, daß der Mensch sich vom Tiersein lossagt, der Nachteil ist, daß er nun leider kein Tier mehr ist!). Obwohl Lobkowicz sein Referat unter das Motto stellt, „Unvollkommenheit ist nicht tragisch“, sind seine unvollkommenen Reflexionen allerdings da tragisch, wo sie gegen seine Intention, den Keim aller Übel an die Natur zu binden und damit die Unveränderbarkeit der Unvollkommenheit zu begründen, das Gegenteil beweisen: Nicht die Natur, sondern die Willkür bedroht die Gemeinschaft. Die Willensinhalte sind es offensichtlich, die divergieren, und die einer politischen Ordnung bedürfen, die ihnen entspricht. Am Inhalt der „konkurrierenden Interessen“ (Lobkowicz, S. 33) wäre also anzusetzen, wenn man wirklich nach Gründen für deren Unvereinbarkeit und die Widersprüche des zu ihnen gehörigen demokratischen Systems sucht.
Lobkowicz aber will das nicht, genausowenig wie die übrigen Autoren dieses Buches. „Der Mensch ist sowohl als Spezies wie als konkret existierendes Individuum in sich ein widersprüchliches Lebewesen und voller Gegensätze.“ Er schwankt „zwischen Geist und Trieb ...“ und das macht ihm zu schaffen. „So (!) ist zu fragen, ob ein politischer Systemtypus, der den Menschen ernst nimmt und sich an dessen Natur zu orientieren sucht, nicht ein System der Gegensätzlichkeit sein muß:“ (Lauter, S. 17) Das beständige Rekurrieren auf die menschliche Natur als Keim aller Übel ist also nichts als ein monströser Zirkel: denn einerseits unterstellen die Professoren den bewußten Menschen als Grundlage alles gemeinschaftlichen Lebens (Laufer: „Das demokratische System beruht auf einem rationalen Menschenbild“, S. 21), andererseits erklären sie die Äußerung des freien Willens in der Gesellschaft zu einer natürlichen, daher unveränderlichen Regung. „Die Demokratie muß und kann es sich leisten, auf ähnliche Utopien zu verzichten und den Menschen so hinzunehmen, wie er ist, nämlich unvollkommen“ (S. 34), denunziert er selbst als Ideologie, wenn er in seinem Engagement für politische Bildung kundgibt, daß er darauf aus ist, sein Publikum gemäß seinen Vorschriften leben zu lassen. Gleichzeitig aber gibt er zu erkennen, daß das Positive seiner Erklärung darin besteht, ihm nichts zu erklären, indem er es lediglich von der Unüberwindbarkeit der bestehenden Zustände überzeugt.
Die Rechtfertigung des demokratischen Systems als Krone der menschlichen Schöpfung könnte hier zu Ende sein, hat man doch herausgefunden, daß alles hervorragend zusammenpaßt: der Mensch hat seiner Unvollkommenheit einen Rahmen gegeben, der genauso unvollkommen ist wie er selbst. Er könnte also zufrieden sein in seinem institutionalisierten Widerspruch – aber er ist es nicht Lobkowicz und seine Kollegen müssen konstatieren, daß „der Mensch“ ganz offensichtlich nicht das sein will, was sie aus ihm gemacht haben. Die Unvollkommenheit, die sie ihm angedichtet haben, ist ihm zuwider. Er will seinen freien Willen („die Voraussetzung alles sittlich wertvollen Lebens“, Löw, S. 59) nicht durch „die Natur“ behindern lassen: Sein „natürliches (!!) Verlangen nach Vervollkommnung, nach Glück“, (Sontheimer, S. 40) die „dem Menschen eigentümliche Sehnsucht nach unverrückbaren, dauerhaften, wahren Bezugspunkten, an denen er sein Handeln und Verhalten orientieren kann“ - (Laufer, S. 20), lassen ihm keine Ruhe und drängen zur Verwirklichung.
Aber wehe, wenn er an diesem Streben nach Wahrheit und Vollkommenheit festhält. Dieselben Wissenschaftler, die sich etwas darauf zugute halten, „den Menschen so hinzunehmen wie er ist“ (Lobkowicz), verbieten es dem Menschen, das zu realisieren, was ihn als solchen wesentlich ausmacht. Lobkowicz droht, daß „Utopien, welche die Unvollkommenheit des Menschen aufheben wollen, Gewalt anwenden müssen“, und schlimmer noch: „Sobald der Terror der angeblichen Heilsrevolution nachzulassen beginnt, bricht die menschliche Natur mit ihrer ganzen Unvollkommenheit wieder hervor.“ (Lobk., S. 32f) Man sieht also: Der Mensch und seine natürliche Ordnung, die Demokratie, sind in höchster Gefahr, wenn sich der Mensch ernsthaft auf seinen freien Willen, die Kraft zu denken und frei zu handeln, besinnt. Dieses „irregeleitete Streben nach Vollkommenheit“ (Lobkowicz, S. 35) muß unterdrückt werden. Sontheimer wünscht sich daher, weil nun einmal „die Menschheit ohne Hoffnung nicht leben kann“, daß die „schöne Utopie von der repressionsfreien Gesellschaft“ konkreter wird, denn bisher war sie „nicht ausreichend mit den gestaltenden Kräften der gesellschaftlichen Entwicklung vermittelt“ (S. 45) – was in jüngster Zeit sogar einen harmlosen Reformpolitiker wie Willy Brandt an der rauhen Wirklichkeit scheitern ließ: „Die erste Bundesregierung Willy Brandts ist, wie man bereits wenig später merkte, wohl im Übermaß auf diese das Utopische streitende Erwartungshallung eingegangen. Sie hat sich als Regierung selbst zum Anwalt der Wünsche und Sehnsüchte vieler gemacht und sich damit in die Fessel von Versprechungen begeben, die sie in der rauheren Welt des konkreten Kampfes der Interessen um die Durchsetzung einer Politik der inneren Reformen nur in recht engen Grenzen einzulösen vermochte.“ (Sontheimer, S. 38) Wesentlich sicherer aber ist es, wenn man dem Menschen die Utopie einfach wegnimmt – „Das dumme Gerede, Menschen bedürften einer konkreten Utopie, hat in den letzten Jahren nur dazu gedient, eine alles andere als konkrete (?) Utopie zu fördern“ (Lobkowicz, S. 34) – und diesen unheilvollen Trieb ganz konsequent aus der politischen Sphäre herausverlagert: „Den eigentlichen Sinn und damit die Vollkommenheitschancen des Menschen müssen wir auf einer anderen Ebene suchen, die ich als Christ mit der Bemerkung umschreiben würde, die Vollendung der Geschöpfe liege (siel) in ihrer Abwendung von sich selbst (!) und der Hingabe an den Schöpfer.“ (Lobkowicz, S. 35) In seinem frommen Einzeldasein soll der Mensch streben wohin er will, es ist sogar begrüßenswert, wenn er im stillen Kämmerlein seinen Trieb nach Vollkommenheit kompensiert, denn damit wird verhindert, daß der unausrottbare Wunsch nach „konkreten Utopien“ praktisch wird und damit Schaden anrichtet.
Der Kampf gegen menschliche Hybris schließt ein, die Menschen daran zu gewöhnen, die Irrationalität der Politik als etwas Gutes zu erkennen, d.h. man muß dem Staatsbürger die Tatsache vor Augen halten, daß in der Politik jeder Recht und damit zugleich Unrecht hat. damit sie nicht auf den Gedanken kommen, in der Politik könnten richtige Entscheidungen getroffen werden; denn das würde ja bedeuten, daß jeder die Politik kritisieren könnte. „Wahrheit ist durch und durch undemokratisch und hat deswegen auch nichts mit vernünftiger Politik zu tun.“ (Lobkowicz, S. 33) „In der Politik gibt es keine absoluten Wahrheiten“, keine „ein für allemal gültigen Entscheidungen.“ (Laufer, S. 20) Alles ist relativ und muß es sein – wer etwas anderes behauptet „Ist töricht oder zynisch oder von besonderer Raffinesse im Stimmenfang.“ (Laufer, S. 20) Aber man ahnt es schon: Es ist nicht alles relativ, „die eben gezeigte Relativität hat ihre Grenzen an den unabdingbaren konstituierenden Prinzipien des demokratischen Systems“. (Laufer, S. 20) Dafür gibt es „keine absolut richtige unbezweifelbare wissenschaftliche Beweisführung,, (als hätte die bürgerliche Wissenschaft überhaupt so ein Problem!) (Laufer, S. 20), aber die brauchts auch gar nicht, wissen wir doch, daß die Unvollkommenheit des demokratischen Systems ihr Pendant und ihren tieferen Grund in der Unvollkommenheit des Menschen haben … „Das Grundgesetz . . . schützt alle Weltanschauungen mit Ausnahme jener, deren erklärtes Ziel es ist, alle anderen unter Einsatz staatlicher Machtmittel zum Verschwinden zu bringen.“ (Löw, S. 64) Und es gibt keinen Zweifel, wo solche Weltanschauung zu finden ist. Es sind die Marxisten im Lande und jenseits der deutschen Grenzen, wo sich besonders der geknechtete deutsche Bruderstaat als Exempel anbietet (Ludz!). Bei der näheren Kennzeichnung dieser Feinde der Demokratie kommt es verständlicherweise nur auf einen einzigen Punkt an, darauf nämlich, daß sie anders, daher unnormal und gefährlich sind – und auf einen solchen Hinweis will keiner der Autoren verzichten. Mit aufrichtiger Empörung („Geradezu paradox ist es . ..“) berichtet daher z. B. Löw, daß auch drüben „auf den reichlichen Gebrauch des Wortes ,Freiheit‘ nicht verzichtet“ wird (S. 64), obwohl Freiheit doch ein Synonym für die unvollkommene Vollkommenheit unserer Demokratie ist. Die Kommunisten haben das Wort also einfach verdreht: „Daß es die Perversion der Freiheit, die Zerstörung echter Persönlichkeit bedeutet, wenn man sich einer als unrichtig erkannten Weltanschauung unterwerfen muß, kann schwerlich bestritten werden.“ (Löw, S. 64)
Zwar weiß ein Demokrat nicht, was richtig ist (und darf es auch gar nicht wissen); was „unrichtig“ ist, erkennt er dagegen auf den ersten Blick – und das ist für ihn von größter Bedeutung, denn das Gefährliche der unrichtigen Weltanschauungen besteht gerade darin, daß sie nicht relativ sind und daher harmlose Bürger durchaus zu bestechen wissen, wobei sie auch vor Perversionen, Lügen nicht zurückschrecken. Zum Schutz der Demokratie ist es daher unerläßlich, aus dem harmlosen einen „verantwortungsbewußten“, „wachsamen“ – den mündigen Bürger zu machen, der bereit ist zum. „Eintreten für jene Ordnung, die die möglichst freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistet“ (Löw, S. 65), was, wie die Politologen nicht müde wurden zu betonen, nichts anderes heißt, als die freie Entfaltung zu unterdrücken … Nicht nur die Linken sind als gefährliche Querulanten entlarvt, sondern auch der Bürger sollte eingesehen haben, daß seine eigene Unzufriedenheit darauf beruhte, daß er die Fehler der Demokratie nicht als ihre Vorzüge begriffen hatte. Bereut er seine bisherige Uneinsichtigkeit, so hat die politische Bildung ihr Ziel erreicht: Was auch kommen mag, der Bürger ist gegen jeden eigenen Zweifel gefeit und kann den Unverbesserlichen gefestigt entgegentreten; denn alles, was sie ihm zu erzählen wissen, erkennt er als das Verteidigungswürdige seiner Gesellschaft, so daß für ihn jedes geäußerte Unbehagen zur Bestätigung seines Glaubens an die Demokratie wird. Mehr kann die Politologie in schweren Zeiten wirklich nicht für die Demokratie tun, als die Bürger anzuhalten, aufgrund der Widersprüche der Demokratie nicht an ihr irre zu werden, sondern sie deswegen zu begrüßen. Und wenn es so an diesen „Wahrheiten“ nichts mehr zu bezweifeln gibt, kann sich auch wieder Freude breitmachen über unsere schönste aller unschönen Welten: „Ich bin froh, daß wir eine Verfassung haben, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht die Gesellschaft – oder den Staat oder die Pflicht.“ – so Reinisch in seinem Schlußwort (S. 98), das er mit dem Ausspruch Winston Churchills krönt: „Demokratie ist die schlechteste Regierungsform – mit Ausnahme aller anderen.“ (S. 98) aus: MSZ 6 – 1975 |