Vom Geist der Wahrheitsliebe, der sozialen Gerechtigkeit und des Liberalismus
„Viet Tran riß an den Ketten, an die in der Zeit der fremdbestimmten Regimes in Saigon der Geist geschlagen war. Er war Journalist und ein politischer Mensch, dies vor allem; der nicht publizistischer Verkünder administrativer Wahrheiten war und seine Politik nicht die der Regierung, fehlte ihm die Freiheit um so schmerzlicher.“ (FR 1. 9. 79) Merke: Wiewohl in Vietnam und anderswo noch kein Geist in Ketten lag, braucht es dieses starke Bild, um das Kriterium der Wahrheitsliebe ans Tageslicht zu bringen: der Geist ist erst frei, wenn er sich ganz eigenbestimmt in Übereinstimmung mit der staatlichen Administration bringt. Der Geist will für die Regierung reden dürfen, nicht gegen sie reden müssen.
„Somoza: Ich bin ein Linksliberaler und leidenschaftlicher Verfechter der sozialen Gerechtigkeit.“ (SZ 7. 9. 79) Man kann entrüstet auflachen über diesen Spruch, weil er so offensichtlich die gängigen Maßstäbe der Einteilung staatlicher Ideale über den Haufen wirft und den Vorwurf des Mißbrauchs erheben. Man kann sich aber auch fragen, warum dem Somoza sowas einfällt: er will bei seinen Klagen über die Ungerechtigkeit seines Sturzen auf die Gerechtigkeit seiner Herrschaft hinweisen. Schließlich ist es der alltägliche Gebrauch der Ideale, in ihrem Namen weltweit den Gegensatz von Nationalreichtum und Volksarmut zu praktizieren. Daß das in einer Bananenrepublik etwas anders ausschaut als hierzulande, gibt keinen Grund dafür ab, einem Helmut Schmidt oder sonst wem ein Monopol auf die Verfechtung sozialer Gerechtigkeit zuzusprechen, nur weil bei ihm National- und Privatvermögen streng getrennt sind und Armut nicht gleich vegetieren und verhungern bedeutet. Daß es bei der sozialen Gerechtigkeit darauf ankommt, daß es den Leuten gut ergeht, wollte Somoza gar nicht gesagt haben, vielmehr fügte er hinzu: „Denn alle Menschen sind vor Gott und auf der Welt gleich.“
„Der liberale italienische Gesundheitsminister will staatlicherseits Heroin zuteilen lassen.“ Absolute Straffreiheit hat er sich schon zugesagt für den Fall der Realisierung seines Vorschlags. Ein und derselbe Tatbestand ist etwas ganz anderes, wenn er die Fronten staatlicher Begutachtung wechseln darf. Wenn der Gesundheitsminister die Menschheit mit Bewußtsein und Physis ruinierenden Dingen überzieht und als Dealer tätig wird, ist das kein „abscheuliches Verbrechen“, sondern eine sozialpolitische Maßnahme. Bei der Volkshygiene geht es eben nicht um die Gesundheit, sondern darum, den Heroinmarkt kontrollierbar zu machen, um die lästigen kriminellen Delikte zu stoppen. Das bei dieser planwirtschaftlichen Maßnahme jeder Süchtige seine Sorgen los ist, wird er nicht gemeint haben. Nicht zufällig denkt bei ,Zuteilung' jeder an Kontrolle und Aufsicht, auch und gerade dann, wenn sie sich nicht dem Mangel an Gütern verdankt. Im übrigen gibt es ja noch genügend Verantwortliche, die Verbrecher verfolgen und aburteilen, weil sie schuldig geworden sind, und außerdem die Institutionen der Resozialisierung und Entziehungsanstalten. Alle drei Möglichkeiten sind staatlicherseits brauchbar, wenn sie sich ergänzen. Und das mußten sie wohl tun, da das staatliche Auge über dieser so wenig brauchbaren Form der Selbstzerstörung wacht.
aus: MSZ 31 – Oktober 1979 |