Zur Lage im Libanon: Ein Blutbad für die »friedliche Lösung«
„Die Lage ist außer Kontrolle, keiner weiß, welches Schicksal uns erwartet.“ Raschid Karame, Ministerpräsident des Libanon Die Nachrichten aus dem Libanon, die der bundesdeutsche Fernsehzuschauer in diesen Wochen erhielt, machten einen Schauplatz, den Reiseprospekte bis vor wenigen Monaten noch als Idylle in der unruhigen Welt des Nahen Ostens offerierten, zu einem Ort des Chaos und des Gemetzels: daß ausgerechnet das Luxushotel „.Holiday Inn“ Zentrum der Kämpfe in Beirut war, symbolisiert den Kontrast, der zwischen den gewöhnlichen Vorstellungen von der „Schweiz des Orients“ und Nachrichten aus diesem Lande herrscht, die man aus der übrigen arabischen Welt gewöhnt ist, nicht aber aus dem Libanon, der sich aus beiden Nah-Ost-Kriegen heraushielt und der in den letzten 20 Jahren nur einmal in die Schlagzeilen geriet, als nämlich die US-Marines „auf Wunsch des Präsidenten“ im Lande für Ordnung sorgten, noch ehe es überhaupt zu Unruhen gekommen war. Die kämpferischen Parteien werden nach ihrer Religionszugehörigkeit definiert, Christen gegen Moslems, wobei aus unerfindlichen Gründen jene alle rechtsgerichtet seien, diese hingegen sich in Gemäßigte und Radikale unterscheiden sollen. Der Bundesbürger tut sich ebenso schwer wie seine Zeitungen, will er entscheiden, wo die Guten und wo die Bösen sind. Die Christen hatten was mit den Kreuzrittern zu tun, aber heute verfolgen sie sicherlich andere Interessen, und die Moslems, so hört man, zählen zu den Benachteiligten in Staat und Wirtschaft, also kann man verstehen, daß sie etwas gegen die Christen haben. In anderen Fällen, wo man sich ebenfalls schwer tut zu verstehen, warum die Exoten aufeinander einschlagen, gibt es wenigstens ein untrügliches Indiz, wo und bei wem die Interessen der Freien Welt aufgehoben sind: dies entscheiden die USA durch ihre Unterstützung einer Partei und ihre massiven Drohungen gegen alle anderen, die dasselbe, allerdings für den Gegner der Amerikaner, tun. Daß die USA ein massives Interesse daran haben müßten, im Libanon für Ruhe zu sorgen, verraten nicht nur die Namen der Hotels, die in Flammen aufgehen, sondern ein Blick in einen Wirtschaftsalmanach, aus dem hervorgeht, daß Libanon der größte Bankplatz des Vorderen Orients ist, an dem auch die großen Banken der kapitalistischen Staaten des Westens vertreten sind und daß der Handel der westlichen Industrienationen mit der arabischen Welt zu einem nicht geringen Teil bis vor kurzem über Beirut abgewickelt wurde, daß selbst das radikale Baath-Regime im Irak den Hafen Tripolis benützte, um sein Öl unter dem offiziellen Preis an den Westen zu verkaufen, ohne seinen großsprecherischen Anti-Imperialismus kompromittieren zu müssen. Auch als Banken- und Handelsplatz, dessen Wirtschaft weitgehend ihren Gewinn aus dem Geschäft des Zirkulierens von Waren und Kapital bezog, bot sich dem Betrachter der Vergleich mit der Schweiz an; während diese jedoch nach wie vor blüht und gedeiht, sterben im Libanon täglich Hunderte von Menschen bei Straßen kämpfen und organisierten Massakern, dienen die Hotels als Hauptquartiere rivalisierender Privatarmeen, und die „elegantesten Strände des östlichen Mittelmeers“ in Beirut als Notlager für die Überlebenden des Faschistenüberfalls auf das Moslemviertel Quarantina.
II. Der Nutzen des libanesischen Modells „Unser Modell war so erfolgreich, daß es der UNO-Generalsekretär und der Papst als Modell hinstellten.“ Im Lichte dieser Ereignisse zieht also der Vergleich nicht mehr: zwar war der Libanon die zentrale Kapitalumschlagstelle für die arabische Welt, während jedoch die Kapitalisten in der Schweiz auf neutralem Boden sich treffen, um ihre Geschäfte untereinander abzuwickeln, diente der Libanon ausschließlich dazu, den imperialistischen Zugriff in dieser Weltecke hinsichtlich der finanziellen Verlaufsformen zu regeln – wobei die einheimischen Clerks ihr Auskommen hatten. Der Bankplatz Libanon hatte seine Bedeutung also nur aufgrund der umliegenden Länder, solange er dafür seine Funktion erfüllte, konnte er bleiben, wie er war. Umgekehrt heißt das, daß es nicht am Libanon liegt, wenn er seine angestammte Aufgabe, was ihn als Staat ausmacht, nicht mehr erledigen kann. Von außen her wurde ihm seine Grundlage entzogen, und zwar, indem der Imperialismus für den Nahen Osten einen Kurswechsel beschlossen hatte: spätestens seit dem vorsichtigen Abrücken der USA von der einseitigen Unterstützung Israels als ihrem berufenen Ordnungsstifter und der gleichmäßigen Anerkennung der gesamten „arabischen Welt“ als wichtigen und vollgültigen Handelspartner – was dem Wortführer dieses Wirtschaftsblocks, Sadat, mittlerweile in überreichlichem Maße bestätigt wird bzw. diesem aus der Unergiebigkeit der arabisch-sowjetischen Freundschaft selbst klar wurde – ist es keine Frage mehr, daß die traditionellen Formen des Einflusses und Kapitalverkehrs einer Modernisierung und ,,Neustrukturierung“ der imperialistischen Beherrschung weichen müßten.
Diese spezielle Form der Arbeitsteilung zwischen Kapitalisten sicherte beiden den Vorteil, daß die Ruhe im Lande – bei Passivität der Massen und noch erträglicher Störung durch die Fedayin – gesichert schien, ein Vorteil, der die islamischen Bourgeois ihre Abhängigkeit als geringeres Übel empfinden ließ. Dies insbesondere, da man in dieser Abhängigkeit durchaus leben konnte. Sobald aber die Geldströme zäher flossen und man sich des öfteren von der Konkurrenz in Damaskus oder Kairo ausgeschmiert sah, zeigte das friedliche Nebeneinander der Kapitalisten sehr schnell seine Kehrseite und sie begannen, sich wechselseitig ihre Geschäftsanteile zu rauben, was natürlich noch darum zu einem besonders harten Geschäft werden mußte, weil die Beutemasse schrumpfte. Wie die Massen so sind, sahen auch sie keine Perspektive mehr in der wechselseitigen Zurückhaltung, befürchteten ganz zu Recht eine erhebliche Beschränkung ihres bislang noch relativ auskömmlichen Daseins und begannen, aufeinander einzuschlagen. So erklärt sich denn, warum das bürgerliche Auge wieder einmal das wahrnehmen kann, was es so gerne zur Erklärung der Konflikte in der heutigen Welt anführt, nämlich die Irrationalität der Leute, und worüber es dadurch interessiert hinwegsieht.
„Wir sind gegen eine faschistische und gegen eine kommunistische Diktatur im Libanon.“ Der Nah-Ost-Konflikt, aus dem der Libanon sich herauszuhalten versuchte, weil er von ihm profitierte, bestimmte in dem Maße mehr und mehr die innenpolitischen Auseinandersetzungen des Landes, als die Organisationen des palästinensischen Widerstandes, die sich nach den beiden Kriegen politisch und militärisch konsolidiert hatten, das Land zur Basis von Guerilla-Aktionen gegen Israel machten. Um „Fatahland“ im Süden abzusichern, griffen die Palästinenser in die Klassenauseinandersetzungen im Libanon ein, wobei die proletarischen Massen in den Städten naturgemäß das Agitationsfeld für die palästinensische Revolution und ihre zu schaffende Verbindung mit einer gesamtarabischen sozialen Umwälzung darstellten. Ansätze eines militärischen Vorgehens gegen die PLO führten deshalb zweimal zu „ehrenvollen“ Kapitulationen der Zentralgewalt, die letztmals im „Kairoer Abkommen“ den PLO-Staat im Staat akzeptieren mußte. Die Faschisten in Pierre Gemayels Falange-Partei und die Milizen des christlichen Großkapitals, die einen Schwarzen September nach jordanischem Vorbild wünschen, feierten ihr Losschlagen am 13. April 1975, als sie die palästinensischen Insassen eines Autobusses ermordeten, als „Beitrag zur Wiederherstellung der staatlichen Autorität“. Zu der massiven Unterstützung mit Geld und Waffen durch die CIA kam die stillschweigende Duldung des Falange-Terrors gegen den radikalen PLO-Flügel (vor allem die PFLP George Habaschs) durch die Moslembourgeoisie, die ebensowenig ein Interesse an der „palästinensisch-arabischen Revolution“ hat wie Syrien an bewaffneten Aktionen gegen den Zionismus, die das Klima für eine „friedliche Zurückgewinnung“ der Golan-Höhen stören. Selbst die Fatah Jassir Arafats hielt sich lange aus den Kämpfen heraus, weil sie eine Schwächung der „Ablehnungsfront“ gegen ihr Projekt des Westbankstaates, für den sie sich mit dem Imperialismus arrangieren wollen, erwarten konnte. Die Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen Faschisten und dem linken Flügel der PLO zum Bürgerkrieg, dem seit einem Jahr tobenden Schauspiel des Gemetzels zwischen Christen und Moslems, wurde durch das Eingreifen mittlerweile aller Moslemparteien verursacht, die bei einem Sieg der Falange und ihrer Verbündeten fürchteten, in einem christlichen Libanon politisch und ökonomisch ausgeschaltet zu werden. Die mittlerweile wieder hergestellte Aktionseinheit der PLO-Gruppen verdankt sich ebenfalls der Furcht Arafats, daß nach einem Sieg der Christen die Tage der Palästinenser im Libanon gezählt sein werden. Umgekehrt nahm die Falange die Einheit der Moslems als Vorwand, ihre Interessen als „Überlebenskampf der Christen in einem arabischen Meer“ zu proklamieren und mit dieser Parole auch die christlichen Kleinbauern zur Unterstützung der faschistischen Soldateska zu bewegen. In diesem Bürgerkrieg ist sowohl ein Sieg der Christen militärisch, als auch eine Durchsetzung der Vorstellungen der PFLP und der libanesischen Kommunisten von einem sozialistischen Libanon politisch unmöglich geworden. Für letzteres bürgt nicht nur die islamische Bourgeoisie, sondern auch der Drusenführer Dschumblat, der die Moslem-Milizen kommandiert. So kann das Abschlachten noch lange so weitergehen, ohne daß die am Libanon Interessierten eingreifen müßten: für den Imperialismus ist die wechselseitige Paralysierung der Kräfte durchaus funktional, auch wenn der ökonomische Nutzen solange ausfällt. Dafür erwartet man sich ein ruhigeres und gutes Geschäft beim Wiederaufbau; für Israel bedeutet ein Überlebenskampf der PLO Ruhe an der Nordfront, und so sind auch die Zionisten bereit, ein Eingreifen der Syrer gegen das sie früher immer mit Invasion gedroht haben, zu tolerieren, ohne daß es allzu massiven Drucks der USA bedurft hätte, die ihrerseits – so Kissinger – dem Präsidenten Assad eine umsichtige Hand bei seinen „Schlichtungsbemühungen“ bescheinigt haben. Da Syrien im Nah-Ost-Konflikt selbst nur auf einen vorteilhaften Ausgleich mit dem Zionismus aus ist – für eine militärische Auseinandersetzung mit Israel bis zur Entscheidung ist es ohnehin zu schwach – macht es sich zum Handlanger der Anpassung des Libanon an die imperialistische Nah-Ost-Regelung, indem es sich für eine Beendigung des Bürgerkriegs durch einen Kompromiß einsetzt. Verglichen mit einer militärischen Intervention wie 1958 ist das Blutbad, das die Falange-Faschisten anzettelten, billiger, und angesichts der „Neustrukturierung im Nahen Osten“ ist es vorteilhafter, das Land selbst und die PLO für die Ziele des Imperialismus zuzurichten. Die libanesischen Massen, in deren Wohngebieten die Anpassung des Libanon an die imperialistische Neuordnung des Nahen Ostens (= friedliche Lösung des Nah-Ost-Konflikts) ausgetragen wurde, werden ihr Überleben als Sieg feiern und jedem Sieger zujubeln. Wenn dann die libanesische Bourgeoisie wieder von ihren Sommervillen in den Bergen ins befriedete Beirut zurückkehren wird, um den Wiederaufbau zu organisieren, und Banken und Handelskontore wieder öffnen, dann werden die Schreiber der Bourgeoisie rückblickend feststellen, daß es in diesem Bürgerkrieg weder Sieger noch Besiegte gab und in der zynischen Trauer um die Toten und dem Lobpreis des Friedens und seiner Stifter ausplaudern, wer gesiegt hat und auf wessen Kosten. aus: MSZ 10 – April 1976 |