Lehrer haben Sorgen
Hier, wo der Lehrer unter seinesgleichen endlich einmal Mensch sein darf, tut er sich keinen Zwang mehr an: schließlich sind die Schüler für alle Lehrer die gleiche Plage, und welche Arbeit sie einem bereiten, weiß nur derjenige, der sie tun muß, so daß man sich unaufhörlich wechselseitig die falsche Berufswahl bescheinigt. Die Sorgen, die vor der Klasse als die eines pflichtbewußt sich für seine Schüler aufreibenden Lehrers präsentiert werden, kommen daher im Lehrerzimmer als die zur Sprache, die der Lehrer sich wirklich macht, nämlich um sich selbst, weshalb auch außer von ein paar profilierungssüchtigen und kontaktarmen progressiven Junglehrern nicht davon gesprochen wird, wie die Schüler zu fördern seien, sondern wieviel Arbeit sie einem machen. Durch ihre bodenlose Dummheit nämlich, die einen beständig dazu zwingt, die Anforderungen herunterzuschrauben und noch einmal ganz von vorn anzufangen (ein kurzer Verweis auf den vorjährigen Klassenlehrer, der es versäumte, die Fundamente zu legen, empfiehlt sich allenfalls bei dessen Abwesenheit). Nur guten Freunden im Kollegium gegenüber jedoch darf man die Unverschämtheit seiner Schüler eingestehen, einem den Schnitt der Schulaufgabe vermasselt zu haben – und hier erscheint die Faulheit der Schüler dem Lehrer als diesselbe Frechheit wie ihr plötzlicher allgemeiner und von ihm nicht erkannter (wenngleich der Klasse ständig gepredigter) Eifer –, denn man gestattet so einen Einblick in die eigenen pädagogischen Fähigkeiten. Die lassen offensichtlich zu wünschen übrig, wenn man es nicht verstanden hat, den Ausgleich zwischen lernzielbezogenen und normativen Werten in der Nähe eines Durchschnitts von 3,4 zustandezubringen, der vom Kultusministerium festgelegt und dank Gauß'scher Normalverteilungskurve eindeutig wissenschaftlich abgesichert ist. Vorsicht ist ebenfalls geboten, wenn man sich einmal die Disziplinierungsschwierigkeiten – d.h. die Schwierigkeiten, die jeder Lehrer bekommt, weil er den Schülern welche macht, damit immer der richtige Prozentsatz von ihnen daran scheitert – von der Seele reden will, da die Leidensgenossen bei aller Kumpanei stets bestrebt sind, sich eins auszuwischen, um die eigenen Fähigkeiten herauszustreichen. Auf die Frage: „Herr Kollege, ist bei Ihnen die Klasse 9 m auch so unkonzentriert?“ hat schon mancher zur Antwort bekommen: „Bei mir arbeiten die eigentlich recht anständig mit“, so daß er sie in Zukunft nur noch stellen wird, wenn er mit handfesten Beweisen gegen den Lügner aufwarten kann: so habe sich z.B. neulich in der Sprechstunde eine Mutter über den Unterricht des werten Herrn Kollegen beschwert, wogegen er sich natürlich verwahrt habe. Um wieder aus diesem Fettnäpfchen zu treten, widmet man sich erneut dem Lieblingsthema und stöhnt über die schreckliche Belastung, die allerdings so schrecklich nicht sein kann, da nie von der Unterrichtsvorbereitung die Rede ist, sondern von den Korrekturen, der einzigen Arbeit eines Lehrers, die sich zwar ebenso souverän erledigen läßt wie die andern, jedoch von ihm gemacht sein muß. Und so kann man in der wechselseitigen Bemitleidung, wieviel Arbeit einem die Schüler machen, durchaus durchblicken lassen, wie wenig ein guter Lehrer mit ihnen hat. Denn man befolgt die neuesten pädagogischen Erkenntnisse einer modernen Unterrichtsgestaltung, wenn man sein Geschick beweist, durch Medieneinsatz und schülerzentrierten Unterricht die eigene Arbeit auf ein Minimum zu reduzieren, die einem ja sonst über den Kopf wächst. Weil alle darauf aus sind, die Belastung in Grenzen zu halten, muß man sich rechtzeitig die kleinsten Klassen ergattern und sollte sich bei Gelegenheit die verwunderte Frage gestatten, warum denn der Herr Kollege bei seinen Fähigkeiten keinen Leistungskurs zugeteilt bekommen habe, in dem doch die Arbeit so richtig Spaß macht. In der Freude über das Interesse der dort versammelten aufgewecktesten Schüler am Stoff wird man gleichzeitig seinen Ärger über das Kultusministerium Luft machen, das einem kaum mehr Einarbeitungszeit in den neuen Lehrplan läßt, bis schon der nächste erlassen wird. Die Frage, warum sich die Lehrer die viele Arbeit, die sie haben, nicht vereinfachen, indem sie sich das „Erarbeitete“ zur Verfügung stellen, ist für einen verantwortungsbewußten Lehrer eine Zumutung, der einen Einblick in seine pädagogische Freiheit nur ab und an dem Direktor gewährt, um befördert zu werden. Deshalb stauben auch lediglich die voneinander ab, die sich noch Arbeit machen müssen, die Referendare und Junglehrer, deren Arbeitsbelastung einen routinierten Lehrer zu der Bemerkung veranlaßt, daß die jungen Kollegen wohl doch noch die souveräne Behandlung des Stoffs vermissen ließen.
Ein guter Lehrer geht daher nicht im Kampf mit den schulischen Anforderungen auf („Nichts Schlimmeres als ein Lehrer, der nur noch die Schule im Kopf hat!“), sondern hat Zeit, sich weiterzubilden und ausgiebig Urlaub zu machen, so daß er im Unterricht aus dem Vollen schöpfen kann, indem er z.B. seine Dias zeigt. Und wenn man auch mal abschalten muß, um wieder Mensch zu werden, so wird man doch nie so weit gehen, zu vergessen, was man sich als Erzieher der Elite der Nation schuldig ist. Deshalb darf auch keiner sich trauen, im Lehrerzimmer die Bildzeitung zu lesen (sofern dies überhaupt seine Lektüre sein sollte), und allenfalls die Kulturbanausen von Naturwissenschaftlern können es sich leisten, über das gestrige Fußballspiel zu debattieren. Hier hat man auch im Gespräch über sein Freizeitvergnügen klarzustellen, daß man im eigenen Fach eine Koryphäe ist, regelmäßig am Fortschritt des kulturellen Lebens teilhat und regelmäßig mindestens die Süddeutsche und den Spiegel (und am Wochenende eine ausländische Zeitung) liest. Kennen Sie übrigens den interessanten Artikel über die Forschungsergebnisse eines Schweizer Instituts, das die durchschnittliche Wochenarbeitszeit eines Lehrers mit 48 Stunden errechnete?
aus: MSZ 25 – Oktober 1978 |