An dieser Hochschule, dem chronischen Sorgenkind der deutschen Bildungspolitik, wird seit Semestern der Kampf gegen Reformmaßnahmen des Senats geführt, in letzter Zeit vor allem gegen die Neuregelung des Prüfungswesens, den berüchtigten „Löffler-Plan“. Stereotyper Vorwurf ist dabei die Mißachtung der Demokratie von der einen wie der anderen Seite. Der Senat baut sich auf als Retter der Demokratie, macht nicht nur HS-Reformen, sondern glaubt, die bedrohte „verfassungsmäßige Ordnung“ und das „Pluralismusangebot“ retten zu müssen, während die „fortschrittlichen Kräfte“ an der FU seine Maßnahmen als „Formierung der Hochschule im Interesse des Monopolkapitals“ denunzieren. Die Kontroverse mündet traditionellerweise in der wechselseitigen Verdächtigung, man würde es mit der umstrittenen Sache, nämlich der Demokratie, gar nicht ernst meinen, und in der üblichen Entlarvungsmanier entdecken die einen die Monopolbourgeoisie, wenn nicht gleich den Faschismus, die anderen die Parteidiktatur hinter den scheinheiligen Worten des Kontrahenten. Mit diesem Geschrei, das links und anderswo im Ruf nach Demokratie vereint, bestätigt sich eine Prognose von 1844: „Diese superklugen Berliner werden sich noch eine Démoccratie pacifique auf der Hasenheide etablieren, wenn ganz Deutschland das Eigentum abschafft – weiter bringen es die Kerle gewiß nicht.“ (MEW 27/13 Engels an Marx). Aber auch in anderen Punkten herrscht wunderbare Übereinstimmung zwischen den zerstrittenen Parteien. So wird dem Senat der konstruktive Vorschlag gemacht, mehr Praxis ins Studium aufzunehmen, den dieser auch bereitwillig befolgt. Der Senat zieht gegen die „Überheblichkeit von Wissenschaftlern“ gegenüber der Praxis ins Feld und der KSV will die Wissenschaft endlich einmal „am wirklichen Leben messen.“ Nur die gewohnte Frontstellung läßt vermuten, daß beide nicht das Gleiche wollen. Paragraph 1 formuliert derart unverfänglich den Zweck der Lehrerbildung, daß auch der erbittertste KSVler sich schwer tun würde, dahinter die böse Absicht zu entdecken: „Die Lehrerbildung hat die Aufgabe, die für die Ausübung eines Lehramtes erforderlichen Fähigkeiten zu vermitteln“. Mit der anscheinend ebenso unverfänglichen Formulierung, daß der Lehrer am Ende seines Studiums eben diese Fähigkeiten unter Beweis zu stellen habe, ist jedoch schon der Konfliktstoff geliefert. Eine Prüfungsregelung des Senats löste semesterlange Streiks an der FU und der PH aus, denen sich auch ein Teil der Hochschullehrer anschloß. Die umstrittene Regelung wendet sich gegen die bislang übliche Praxis der freien Prüferwahl, indem sie dem staatlichen Prüfungsamt vorbehält, den zweiten Prüfer festzusetzen. Was damit zur Debatte steht, ist jedoch nicht allein die Prüfung, sondern die gesamte Ausbildung. Die Studenten sollen „durch die Art der Bestellung der Hochschullehrer als Prüfer angehalten werden, nicht einen allzu einseitigen Lernprozeß gemäß einer einzigen wissenschaftstheoretischen und ggfs. sogar politischen (!) Richtung – mit der realen Gefahr der Dogmatisierung – durchzumachen, bei mehreren Hochschullehrern unterschiedlicher wissenschaftlicher, methodologischer und politischer Standpunkte zu studieren und sich dadurch mit verschiedenen Positionen offen, d. h. kritisch und selbstkritisch auseinanderzusetzen … Diese Regelung verknüpft das Prinzip der Liberalität mit dem der Pluralität ...“ (Zur Regelung des Prüfungswesens der Ersten Staatsprüfungen für Lehrer) Mit der staatlichen Bestellung des 2. Prüfers soll also den Zuständen an der FU ein Ende gemacht werden, die jeden Bürger mehr an eine Parteihochschule denn an eine ordentliche Universität erinnern: ein Vorlesungsverzeichnis, in dem seitenweise kommunistische Veranstaltungen angeboten werden, Schulungen in politischer Ökonomie, kaum ein Seminar, das nicht die Klassenfrage stellt –der Marxismus, der gemeinhin als eine Heilslehre mißachtet (und auch von manchen seiner Westberliner Anhänger als etwas derartiges gehandhabt wird) dominiert eindeutig die Hochschulszene. An der als Brutstätte von Revolutionären berüchtigten FU soll also mittels der Prüfungsreform eine anständige pluralistische Ausbildung hergestellt werden. Der Schulsenator eifert mit einem heiligen Zorn gegen die parteilichen Feinde der Wissenschaft: „Jede Wissenschaft lebt von der Darstellung, Reflexion und Kritik der Gegenposition und im übrigen von der Infragestellung der eigenen Methode und Thesen. Es gibt keine Wissenschaft ohne eine ständige Bereitschaft zur Selbstkritik. Es gibt keine Wissenschaft ohne ununterbrochenes Aufspüren und Nachprüfen von Gegenpositionen. Mit anderen Worten: es gibt keine einseitige Wissenschaft. Es gibt keine Wissenschaft, die nicht »pluralistisch« ist. Wer diese Selbstverständlichkeit nicht zur Grundlage seiner Arbeit macht, betreibt nicht Wissenschaft.“ (ibid.) Mag sein, daß die Entwicklung der Wissenschaft in der Weise verläuft, wie sie der Senator hier schildert, doch offenbar weiß er gar nicht, was er ausspricht. Wenn er den Wissenschaftsbetrieb auf das „ununterbrochene Aufspüren und Nachprüfen“ von vorhandenen Positionen verpflichtet, dann doch wohl mit dem Ziel, in ihnen enthaltene Fehler zu beseitigen. Die Prüfung einer Theorie, die das durch sie als mangelhaft Befundene nicht fallen läßt, ist sinnlos – Kritik ohne Resultat macht sich selber überflüssig. Eben dieses Resultat, daß sich die richtige gegen die falsche Auffassung eines Problems durchsetzt, die falsche damit hinfällig und aus dem Kreis der wissenschaftlich gültigen Aussagen ausgeschlossen wird, möchte der Senator jedoch unterschlagen: sein Plädoyer für eine pluralistische, nicht-einseitige Wissenschaft will alle Varianten gelten lassen und die Wahrheitsfindung, die erst mit der Aufgabe der falschen Theorien gegenüber der zutreffenden abgeschlossen ist, als etwas überflüssiges, ja sogar wissenschaftsfremdes behaupten ... In seiner Verteidigung des Pluralismus ist der Schulsenator auf die Erhaltung der Schwächen gegenwärtiger Wissenschaft aus, die er beseitigen möchte, wenn er der Kritik und der Prüfung das Wort redet. Die konkurrierenden Theorien, Indiz für die Notwendigkeit, ihnen nicht zu trauen und Hinweise auf eine Wissenschaft, die selbst unsicher geworden ist, weil sie ihr Ziel nicht erreicht, werden hier als Eigenart von Wissenschaft, die es zu erhalten gilt, aufgefaßt. Auch die beliebte Erinnerung an die Unabgeschlossenheit jeglicher Erkenntnis, die aus der endlosen Fortentwicklung dessen kommt, mit dem sie sich befaßt, ist ein Scheinargument gegen die Notwendigkeit, einmal Erkanntes als gültig zu fixieren. Die moderne Naturwissenschaft könnte dem Senator der „geteilten Stadt“ als Anschauungsmaterial dafür dienen, was Wissenschaft zu leisten imstande ist, wenn sie sich nicht „in der Pluralität der Fragestellungen und Argumentationen“ verliert, die das praktische Werktagsleben ihr aufschwätzen möchte. Wie sein Lob des Pluralismus in der Wissenschaft zeigt, geht es ihm jedoch gar nicht um richtiges Denken, dem ein ebenso richtiges Handeln entspringt.
Verlangt wird vom Absolventen der Hochschule das, „was die Lernpsychologie als divergierendes Denken bezeichnet und zur unverzichtbaren Voraussetzung kreativen Problemlösungsverhaltens erklärt“ .Nicht die Fähigkeit durch objektive Erkenntnis – statt durch mündig-treues Staatsbürgertum – zu einem Standpunkt zu gelangen, soll der Prüfling nach Abschluß seines Studiums nachweisen, sondern daß er „in der Lage ist, methodisch den eigenen Standpunkt zu relativieren.“ Darin besteht also der Gipfel der Wissenschaftlichkeit, die ein Lehrer erwerben muß, als Inkarnation des Pluralismus soll er auftreten können. Während man zunächst annehmen würde, dem Zweck der Ausbildung sei damit Genüge getan, wenn der Student sich eine Erklärung für einen bestimmten Sachverhalt erarbeitet hat und somit über seinen jeweiligen Gegenstand Bescheid weiß, belehrt der Senator uns eines besseren: wissenschaftlich ist es erst dann, wenn er sich dazudenkt, daß es ebensogut ganz anders sein könnte. Von den Studenten wird verlangt, jede vollzogene Erkenntnis sofort wieder ungeschehen zu machen und mit anderen beliebig zu erweiternden Möglichkeiten zu konfrontieren. Dem Senat wäre dringend zu empfehlen, seine dogmatische Auffassung von einer Wissenschaft, die pluralistisch zu sein hat, mit dem „Standpunkt“ zu konfrontieren, daß das Vorhandensein verschiedener Theorien über dieselbe Sache der beste Garant dafür ist, daß mit ihnen etwas nicht stimmt. Daß er eine solche Relativierung seines Verständnisses vom „wissenschaftstheoretischen Kern des Pluralismusproblems“ nicht vornimmt, findet eine einfache Erklärung. Der Senator will in seinen Ausführungen gar nicht dartun, was Wissenschaft ist, sondern dem Wissenschaftsbetrieb Vorschriften machen, die, werden sie befolgt, der wissenschaftlichen Ausbildung den Charakter verleihen, an dem ein Repräsentant des Staates interessiert ist.
Bezeichnenderweise sichert er großzügig den einzelnen Forschern die Möglichkeit zu „Methoden und Ergebnisse“ ihres „wissenschaftlichen Denkens uneingeschränkt zu vertreten“, um dann von denjenigen, die wissenschaftlich ausgebildet werden, zu verlangen, daß sie sich die ganze Fülle des „freien“ Denkens aneignen und „offen, kritisch und selbstkritisch“, „divergierend“ und „methodisch den eigenen Standpunkt relativierend“, „verschiedene Lösungsmöglichkeiten und Alternativen durchdenkend“ die in einer Lehrmeinung enthaltene „Einseitigkeit“ zu überwinden.
Die ganze Wucht der FDGO Mit der ganzen Wucht der FDGO wird darauf insistiert: „die Geltendmachung des Pluralismusangebots trägt vielmehr dazu bei, daß die Ressourcen der Universität für die parlamentarische Demokratie aktiviert“ werden. Wer sich eine freie Wissenschaft leistet, kann mit Fug und Recht beanspruchen, in den Genuß von deren Früchten zu kommen, d. h. die Wissenschaft soll sich in der Berufsausbildung nützlich machen und zwar dadurch, daß sie sich selbst aufgibt. Im Namen der Lehrerausbildung also letztlich im Namen der Schule wird die Reform notwendig: „Die Arbeit der Schule ist Dienstleistung für den Einzelnen und die Gesellschaft. Dabei dient die Schule nicht allein der Verbreitung von Wissen, sondern auch der Lebensbewältigung.“ Die gesellschaftliche Praxis, für die die Schüler ausgerüstet werden sollen, verlangt offensichtlich ein Wissen, dem es nicht darauf ankommt, endgültig bestimmte Zusammenhänge abzuklären, sondern immer wieder neue Möglichkeiten zu entwerfen und beliebig viele Alternativen fürs praktische Handeln zu entwickeln. Wenn der Senat der Wissenschaft zu Leibe rückt, macht er sich also nur zum Advokaten einer Gesellschaft, die sich Hochschulen und Ausbildungsstätten nur leistet, um den Individuen ein Handeln nach ihren subjektiven, partikularen Zwecken zu ermöglichen und diesem – Freiheit genannten – Zustand muß der Senat an der Hochschule seine adäquaten Voraussetzungen erzwingen, Die Prüfungsreform ist eine Maßnahme, die dafür sorgt, daß „den gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen an die Schule, auch in Hinblick auf deren Zukunftsrelevanz, Rechnung“ getragen wird, und durch diese Zurichtung des Ausbildungswesens in dieser Sphäre der Gesellschaft gewährleistet, daß alles beim alten bleibt.
Die Verankerung des Pluralismus in der Ausbildung ist nicht die einzige reformerische Leistung, deren sich der Westberliner Senat rühmen kann, auch mit der Vereinheitlichung der Lehrerbildung will er ernst machen. Die Vereinheitlichung, eine Forderung aller entschiedenen Weltverbesserer und Demokratisierungsfans im Schulwesen, soll Schluß machen mit der „hierarchisierenden Zersplitterung und der konservativen ständischen Ordnung“ in der Lehrerausbildung (GEW zu den Frankenthaler Beschlüssen). Während bislang in der Ausbildung der Gymnasiallehrer Fachdidaktik und praktische Ausbildung sich als ein mehr oder weniger belangloser Appendix an die reinen wissenschaftlichen Studien anschlossen und bei den Volksschullehrern umgekehrt die Fachwissenschaft nur in der didaktischen Aufbereitung zur Kenntnis genommen wurde, sollen nun alle an allem gleichermaßen partizipieren. „Erziehungswissenschaftliche, fachwissenschaftliche und berufspraktische Studien sind so miteinander zu verbinden, daß sie sich wechselseitig ergänzen und vertiefen“ (Lehrerbildungsgesetz). Worin nun der spezifische Vorteil dieser Neuerung besteht, erläutert der Senator zunächst am „dialektischen Verhältnis von Theorie und Praxis“. Es genügt anscheinend nicht, daß spätere Lehrer neben ihrer Fachwissenschaft sich in ihren erziehungswissenschaftlichen Studien mit dem Gegenstand Schule befassen, die praktische Erfahrung muß hinzutreten: „Das Verhältnis zwischen beiden Bereichen ist dialektisch zu verstehen. Beide Seiten können und müssen wechselseitig aus den jeweils durchgeführten – und möglichst sofort im Verbund durchzuführenden – Erkenntnis- und Erfahrungsprozessen voneinander lernen.“ Schon mit dem Auftreten des Worts »dialektisch« im Munde bürgerlicher Hochschulreformer hat sich eine unverhoffte Koalition angedeutet: die »Einheit von Theorie und Praxis«, altes Steckenpferd aller Marxisten einigt hier den Senat und seine parteilichen Feinde. „Was wir an der Uni lernen, müssen wir in der Praxis überprüfen. Wir wollen nicht alleine staubige Bücher wälzen und stumpfsinnige Analysen kochen, sondern unser Wissen in der Praxis überprüfen, am wirklichen Leben messen, was unser Wissen überhaupt taugt und zu wessen Nutzen es verwendbar ist.“ (KSV) Der geistige Ahn ist unschwer herauszuhören: „Durch die Praxis die Wahrheit entdecken, in der Praxis die Wahrheit bestätigen und weiterentwickeln. Praxis, Erkenntnis, wieder Praxis und wieder Erkenntnis – diese zyklische Form wiederholt sich endlos. Das ist die ganze Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, das ist die dialektisch-materialistische Theorie der Einheit von Wissen und Handeln!“ (Mao Tse tung, über die Praxis) Es soll uns nicht darauf ankommen, die heimlichen Maoisten im Senat zu entlarven, der Schulsenator versichert ja durchaus glaubhaft, daß ihm nur um die Schule (und nicht um die Revolution) zu tun ist. Und seine Antipoden, die wirklichen Maoisten und Dialektiker, bestürzt über die plötzliche Annäherung, haben – um eine möglichst schnelle Distanzierung bemüht – den eigentlichen Unterschied zwischen ihrer und der Position des Senats schon herausgefunden, der – wie könnte es anders sein – im Verhältnis zur Praxis liegt. Die ADS-PH (Aktionsgemeinschaft von Demokraten und Sozialisten = lokale Erscheinungsform des Spartakus) hat das Betrugsmanöver des Senats auf gedeckt: „Durch den Begriff (!) Praktika wird der ständige (!) Theorie-Praxis-Bezug während des Studiums ausgeschlossen.“ Zurück zum Schulsenator: Obwohl er bereits eine pluralistische Wissenschaft gefordert hatte, um den „Bezug zur Wirklichkeit“ zu gewährleisten, scheint dies nicht zu genügen: das erziehungswissenschaftliche Studium soll die praxisnahe Reflexion der Fachwissenschaft – das Schulpraktikum ein praxisnahes Studium garantieren. Die künftigen Lehrer sollen sozusagen noch mit der Nase auf die Wirklichkeit gestoßen werden, um nur ja nicht an ihr vorbeizudenken. Das Rezept erläutert allerdings nicht, wie der mangelhafte Zustand der Praxis überwunden werden soll – und daß es dort nicht zum besten steht, bezeugt die Notwendigkeit einer Ausbildungsreform –, wenn die Erkenntnis selbst so unzuverlässig ist, daß sie der ständigen Korrektur durch die praktische Erfahrung bedarf. Mit den beiden Seiten, die sich hier wechselseitig ergänzen und vertiefen sollen, kann es nicht weit her sein. Ein Blinder, mit dem Pluralismus geschlagen, soll einen Lahmen, die Schulpraxis, führen.
Wenden wir uns der anderen Seite zu, der Aufwertung der Volksschullehrer, die nun auch zur Wissenschaft zugelassen werden. Mit der Veränderung ihrer Ausbildung soll endgültig dem „ständischen Schulwesen“ (GEW) der Garaus gemacht werden, Verwissenschaftlichung der Volksschulbildung anstelle einer „volkstümlichen Bildung“ wird als ein Schritt zur Verwirklichung der Chancengleichheit angepriesen. Man meint, die Linken könnten frohlocken: schon wieder arbeitet der Senat ihnen in die Hände. Haben sie doch jahrelang die Ausbildung der Volksschullehrer als besondere Heimtücke des Monopolkapitals verschrieen, das die spezifische Borniertheit der PH-Studenten nur zu dem Zwecke erzeugte, die Arbeiterkinder in der Volksschule dumm zu halten. ,,Der Arbeiterklasse wird die Volksschule, deren Ziele eng begrenzt sind und die mit Mitteln völlig unzureichend ausgestattet ist, zugewiesen. Jenen aber, die den bürgerlichen Staatsapparat und die Verwaltung, die die Produktion im Profitinteresse des Kapitals lenken, leiten und beherrschen, die die Ideologie, Kunst und Kultur im Interesse der Erhaltung eines faulenden Systems entwickeln sollen, stehen die Gymnasien und die Hochschulreife offen.“ (SEW 1973, Zur Lage an den allgemeinbildenden Schulen). Mit der Verwissenschaftlichung der Volksschule wird sich nun das Niveau des Unterrichts verbessern und die „eng begrenzten Ziele“ um einiges Wissen erweitern, so daß der Slogan von der Klassenschule selbst für seine Fans fragwürdig werden müßte. Allerdings ohne daß der Senat eine Wandlung zum Antikapitalismus durchgemacht hätte, weiß er doch besser, daß der Besuch der Volksschule nicht allein für Arbeiterkinder obligatorisch ist, sondern für alle – das dort vermittelte Wissen bildet die Grundlage für alle anderen Stufen im Schulwesen. Auch eine noch so verfaulte Bourgeoisie würde doch nicht ihre eigenen Sprößlinge durch die Volksschule verblöden lassen, um sie dann erst im Gymnasium fit zu machen für die Systemerhaltung.
Die Intention der Reform geht also zunächst allein auf eine Anhebung der Qualität der Schulbildung. Wie die Kultusminister in ihrer „Übereinkunft zur gegenseitigen Anerkennung der Lehramtsprüfungen“ feststellen, ist eines der hauptsächlichen Merkmale der inhaltlichen Reform „die verstärkte wissenschaftliche Orientierung des Unterrichts auf allen Stufen.“ Daß nunmehr die Schulbildung auf allen Stufen gleichermaßen wissenschaftlich, fundiert und nicht mehr an verschiedenen Bildungszielen ausgerichtet sein soll, verlangt eine ebenso strukturierte Lehrerausbildung: „Dabei geht es darum, die Ausbildung der Lehrer nicht mehr an Schularten, sondern an den Altersstufen der Schüler zu orientieren und allen Lehrern eine wissenschaftlich gleichwertige Qualifikation zu vermitteln.“ (Thesen zur integrierten Lehrerausbildung, Senator für Wissenschaft und Kunst) Der einzige Unterschied der verschiedenen Lehrer besteht künftig darin, daß sie für die verschiedenen Schulstufen ausgebildet werden, d. h. der erziehungswissenschaftliche Teil ihres Studiums beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der jeweiligen Altersstufe der Schüler, die sie unterrichten. Diese didaktische Ausbildung soll dem Lehrer ermöglichen, die Resultate der Fachwissenschaft in eine altersgemäße Form umzusetzen, so daß sie für die Vermittlung geeignet sind. Nicht nur die Inhalte des Unterrichts sollen verbessert werden – auch die Form ihrer Vermittlung, indem sie an die besonderen Voraussetzungen der Schüler anknüpft und somit eine maximale Effektivität der Unterrichtsprozesse garantiert. Die Reform bezweckt, wie es scheint, nur eine bessere Erfüllung der schulischen Aufgabe, wie sie im Rahmenplan für die Berliner Schulen definiert wird: „Erziehung soll das Bedürfnis und die Fähigkeit des Jugendlichen entwickeln, sein Wissen zu erweitern und sein Können zu verbessern.“ Dieses schöne Ziel soll erreicht werden, durch die Herstellung von Chancengleichheit in der Schule. Damit wird es faktisch wieder zurückgenommen: Gemäß obiger Richtlinie kann es nur darum gehen, allen Schülern die gleichen Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens zur Verfügung zu stellen – wie sie diese wahrnehmen, ist allein ihre Angelegenheit.
In welcher Weise Chancengleichheit gewährleistet sein soll, zeigt das Stufenlehrermodell: nicht nur die Didaktik auch der Unterrichtsstoff ist auf bestimmte Altersstufen zugeschnitten. Innerhalb dieses Zeitraums haben alle Schüler die Möglichkeit, sich das Wissen anzueignen – umgekehrt aber auch nur in dieser Zeit. Wenn der Stoff in dieser Zeit nicht begriffen worden ist, kann er nicht mehr erlernt werden – wer es nicht schafft, hat eben seine Chance nicht wahrgenommen. Es kommt in der Schule also nicht allein darauf an, überhaupt etwas zu lernen, sondern darauf, daß dies in einer bestimmten Zeit geschieht. Die zeitliche Beschränkung bewirkt eine Auslese unter den Schülern, die je nach ihrer Leistungsfähigkeit oder Schwerfälligkeit an weiteren Stufen teilnehmen dürfen oder davon ausgeschlossen werden. Daß die Vereinheitlichung der Lehrerausbildung Chancengleichheit realisieren soll, bedeutet also nichts weiter, als daß der Selektionsprozeß in der Schule „gerechter“ gestaltet wird, indem von der Grundschule bis zum Gymnasium allein das Fachwissen als Maßstab für die Beurteilung der Schüler gilt anstelle irgendwelcher antiquierter Bildungsideale.
Die naive Annahme der SEW, daß allein durch die Dreigliedrigkeit des Schulwesens „der überwiegende Teil der Arbeiterkinder von einer weitergehenden Bildung ausgeschlossen“ würde („so werden in den letzten Klassen der Grundschule die Schüler manipuliert, um einen Verzicht auf den Besuch von Schulen mit weiterführender Schulbildung zu erreichen“!), wird ironischerweise dadurch widerlegt, daß der Schulsenator die „jahrzehntelangen Forderungen der Arbeiterklasse“ nach „Einheitlichkeit der Schulbildung sowie Wissenschaftlichkeit des Unterrichts“ übernimmt, ohne befürchten zu müssen, daß der Selektionsprozeß oder vornehmer die „verschiedenen Begabungen“ damit abgeschafft seien und das „gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeitenden, gegen das Großkapital“ verändert wird. Er sieht sich sogar dazu veranlaßt, gegen diese Illusion ein Wort zu verlieren: „Die Erwartung, daß der zukünftige Lehrer durch eine Ausbildung instand gesetzt wird, alle Widersprüche der Gesellschaft aufzulösen, alle Ungleichheit zu beseitigen, die Erwartung, daß er zugleich Erzieher, Organisator, Curriculumforscher und Sozialtherapeut sein kann … muß enttäuscht werden.“
Das zweite wesentliche Merkmal der Reform, „ein stärkerer Bezug der Bildungsprozesse auf gesellschaftliche Erwartungen und Erfordernisse“ darf nicht übersehen werden: die Tatsache, daß außerhalb des Bildungswesens eine Stufenleiter von Berufen existiert, deren Einkommen mit dem Grad der intellektuellen Voraussetzungen variiert, die sie verlangen, muß von der Schule berücksichtigt werden. Gleichzeitig mit der Vermittlung von Wissen muß darüber entschieden werden, wer zu weiterem Wissenserwerb und damit zu „höherstehenden“ Berufen geeignet ist und wer nicht. Auch die bahnbrechende Alternative der SEW, „eine einheitliche, demokratische, allgemeinbildende Schule von der ersten bis zur zehnten Klasse, mit voller Durchlässigkeit (!) zur Oberstufe mit Hochschulreife“ würde angesichts der in der Gesellschaft gegebenen Hierarchie von Berufen nicht viel ausrichten.
Die „volle Durchlässigkeit zur Hochschule“ hätte nur die unangenehme Konsequenz, daß ein beträchtlicher Teil dieser Hochschulabsolventen gezwungen wäre, in nicht-akademischen Berufen sein Brot zu verdienen, da eben nur eine begrenzte Menge von Akademikern gebraucht wird. Mag sein, daß die SEW darauf spekuliert, daß der Überschuß angesichts seiner Enttäuschung zur Systemveränderung schreitet – einen bürgerlichen Schulreformer, der ja schließlich auch bedenken muß, daß alle Schüler einmal ihr Auskommen finden, wird sie mit diesem Konzept nicht überzeugen. Derlei Reformen zielen darauf ab, die Bedingungen, unter denen der Konkurrenzkampf der Schüler sich abspielt, möglichst rational zu gestalten – allein das Wissen der Schüler soll entscheiden –, aber keineswegs darauf, die Hierarchie in der Gesellschaft in Frage zu stellen. Der Spruch, daß die „Schule nicht allein der Verbreitung von Wissen, sondern auch der Lebensbewältigung dient“, bewahrheitet sich hier in dem Sinn, daß es um die Verteilung von „Lebenschancen“ geht, für die die Wissensvermittlung nur das Mittel ist, um diejenigen auszusortieren, die das Leben ohne allzu viel unnützes Wissen bewältigen sollen.
In der Verachtung von Wissen, solange es nichts nützt, trifft sich wiederum der KSV mit einem Prinzip der bürgerlichen Schule: unter Reflexion auf Berufe, die ihren Trägern das Denken „ersparen“, erspart die Schule den „dummen“ Schülern alles überflüssig Lernen. „Am wirklichen Leben gemessen“ brauchen sie nicht mehr. Diese seltsame Verwandtschaft sollte denen zu denken geben, denen die Praxis über alles geht, die glauben, daß schon die Flucht vor den „staubigen Büchern“ ausreicht, um allen Beteiligten die Augen zu öffnen und weltverändernde Dinge ins Werk zu setzen. Etwas mehr „stumpfsinnige Analyse“ würde die Linken vor mancher Enttäuschung bewahren, wenn bürgerliche Behörden Reformen in Gang bringen, die sie seit Jahren fordern und deren „antikapitalistischer Charakter“ offensichtlich ihrem eigenen Wunschdenken entsprungen ist.
aus: MSZ 2 – Dezember 1974 |