Bericht zur geistigen Lage der Nation 1978


Der Titel der im folgenden abgedruckten Bestandsaufnahme weckt Assoziationen an den Bericht, den die Regierenden bisweilen vor dem Parlament erstatten und über den dann die Medien mit der ihnen eigentümlichen Sorgfalt die Menschheit in Kenntnis setzen. Daß der von der MSZ erstellte Bericht die Aufmerksamkeit auf die geistige Lage in diesem unserem Lande richtet, ist nicht so zu verstehen, daß in Bonn über die Wirklichkeit verhandelt wird, in nachfolgendem Artikel aber „nur“ über Ideen. Dieser Gegensatz ist falsch, was man schon daran sieht, wie wirklich und wirksam Ideen sind, wenn sie von Leuten kommen, die nicht nur das Sagen haben.

Daß das geistige Leben der Nation zur Zeit keine andere Sorge kennt, als diese Wirksamkeit durch all seine Unterabteilungen hindurch zu unterstützen, ist der Umstand, dem sich folgender Bericht verdankt. Die ungeheure Einmütigkeit, mit der dem Bürger draußen im Lande – angefangen von der Zeitung, die er morgens aufschlägt, beim Radiohören, beim Besuch kultureller und sonstiger Veranstaltungen, bis zum abendlichen Fernseh„genuß“ – pauserlos mitgeteilt wird, wozu er seinen Geist zu gebrauchen hat, diese seltene Einmütigkeit unseres pluralistischen Geisteslebens ließe fast den Verdacht einer Gleichschaltung der Medien, einer zentral gelenkten Kampagne aufkommen, wäre nicht andererseits allzu offensichtlich, daß all die Parteiendenker, Wissenschaftler, Journalisten und Kulturschaffenden überaus freiwillig, um nicht zu sagen übereifrig, ihren Beitrag zur „Rettung der Demokratie“ zu leisten bereit sind. Denn daß gerade der Geist sich nicht zwingen läßt, ist sowohl der Grund für diese Anstrengungen, als auch der Grund für das Erschrecken, das einen beim Durchgang durch das Geistesleben befallen muß: was dort als Argument benützt werden kann, die Unverschämtheit der Lügen und die Direktheit der Aufforderungen, die an die Nation ergehen, ohne daß ein Sturm der Entrüstung losbricht oder auch nur eine gewisse Unwilligkeit festzustellen ist, sind ein Indikator dafür, wie weit wir es bereits gebracht haben. Daß die geistigen Anstrengungen der professionellen Dichter und Denker sich in nichts anderem erschöpfen, als in allen Varianten nur das eine zu predigen, die Unterwerfung unter die Gewalt, belegt einerseits, daß diese Unterwerfung eine Leistung eigener Art darstellt, für deren Zustandekommen eine Demokratie einige Mühen aufwendet, belegt aber andererseits, mit welcher Könnerschaft dies seitens sämtlicher Beteiligten zur Zeit erledigt wird. Weshalb sich schließlich der Gedanke aufdrängt, daß die Konzentration des Geisteslebens auf die moralische Aufrüstung der Nation weder die Furcht vor einem möglicherweise nachlassendem Gehorsam, noch die Aufforderung, so weiterzumachen wie bisher, darstellt, sondern Aufrüstung im wahrsten Sinne des Wortes ist: nämlich die Ankündigung, daß auf Grundlage der bewiesenen Folgsamkeit der Bürger und durch sie gestärkt die bundesdeutsche Demokratie zu ihrem Fortschritt noch einiges mehr an Folgsamkeit zu beanspruchen gedenkt.


Gottvater, Gottkohl und Hl. Geissler an die Regierung

Zum ersten Mal in der Geschichte fühlt sich die stärkste westdeutsche Partei genötigt, sich ein Grundsatzprogramm zuzulegen, und das gleich gründlich. Schon mit dem dritten Satz ist die christlich-soziale Politik im Jenseitigen verankert:

„Die Politik der CDU beruht auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott“,

nicht ohne ein paar Zeilen später klarzustellen, was der liebe Herrgott im Parteiprogramm zu suchen hat:

„Aus christlichem Glauben läßt sich kein bestimmtes politisches Programm ableiten. Aber er gibt uns mit dem Verständnis vom Menschen eine ethische Grundlage ...“

Zwar hat es die Berufung auf Gott in der Politik schon einmal gegeben; im Absolutismus war der Monarch im Augenblick seiner Geburt, ob er wollte oder nicht, Repräsentant Gottes auf Erden und in der Ausübung seiner Gewalt an den Auftrag der Religion gebunden. Ganz anders aber der Rückgriff auf Gott im CDU-Programm: dort vereinnahmen Politiker, die sehr genau wissen, daß sie ihre Macht anderen Agenturen als den transzendenten verdanken, freiwillig die Religion für ihre Zwecke. Weder machen sie sich für die Verbreitung des Glaubens stark, noch wollen sie ihre Maßnahmen daraus begründen. Das Kalkül, das die christlichen Werte ins Programm gebracht hat, liegt offen auf der Hand. Nicht aus dem Glauben heraus, sondern mit ihm macht man ein Parteiprogramm, wobei der berechnende Einsatz der hierzulande geltenden moralischen Wertvorstellungen vom Christsein in der Vorbereitung ohne jede Scham von den zuständigen Gremien und den Fachleuten öffentlicher Meinung vor aller Öffentlichkeit beraten wurde, mit dem Ergebnis, daß Werte in ihrer religiös fundierten, kompakten Form heute im geistigen Klima genau das Richtige sind, um sich als staatstragende Partei zu profilieren. Mit der Berufung auf die geltenden religiösen Wertvorstellungen verpflichtet die Partei nicht sich, sondern die übrige Menschheit auf deren Verantwortung vor Gott, sprich: allerlei Verantwortlichkeiten gegenüber den innerweltlichen Autoritäten.


Der Mensch – ein kompletter Staat

Welche diese sind, ergibt sich zwanglos aus dem „Verständnis des Menschen“. Verwunderung, wie so etwas in ein Parteiprogramm gerät, von dem man eher Auskunft über politische Maßnahmen anstatt über Auffassungen vom Menschen erwartet, legt sich schnell – es ist kein anstatt.

„Würde und Leben des Menschen – auch des ungeborenen – sind unantastbar. Die Würde des Menschen bleibt unabhängig von seinem Erfolg oder Mißerfolg.“

Die geistige Anleihe bei einem anderen politischen Denker, der auch viel an Wertschätzung für die Menschheit übrig hatte –

„die Wertschätzung des Menschen muß begründet werden aus der Art und Weise, in der er seiner ihm von der Allgemeinheit überantworteten Aufgabe gerecht wird. ... Der materielle Lohn mag dem zugebilligt werden, dessen Leistung für die Gesamtheit den entsprechenden Nutzen trägt. Der ideelle jedoch muß in der Wertschätzung liegen, die jeder beanspruchen kann.“ („Mein Kampf“) –

ist sicher nicht Absicht, und daß man als Mensch hierzulande eine Würde hat, ist auch nichts Neues. Aber daß der Trick mit der Würde ganz offen als Abstraktion vom materiellen Lohn ausgesprochen wird, auf den man, will man seine Würde haben, nicht schielen darf, stellt durchaus einen agitatorischen Fortschritt unserer jungen Demokratie dar, Mißerfolge, – sei es, daß man zum Sozialfall wird oder bloß zum Arbeitslosen oder auch nur per Regelstudienzeit von der Universität vertriebener Student, – haben anständig verkraftet zu werden. Schließlich garantiert die CDU jedem Opfer seine Menschenwürde.

Damit hat es aber noch nicht sein Bewenden: im Menschen steckt noch viel mehr drin.

„Der Mensch ist auf Zusammenleben mit anderen – vornehmlich in festen sozialen Lebensformen – angelegt.“

womit nicht einfach gesagt ist, daß Robinsone heutzutage selten sind, sondern er, der Mensch, ist seiner Natur nach für etwas anderes geschaffen. Und wenn er sich nicht an diesen Auftrag seiner Natur hält, geht es ihm schlecht.

„Sein Leben verkümmert, wenn er sich isoliert (was übrigens jedem schwerfallen dürfte) oder im Kollektiv untergeht.“

Gegenüber dem Osten gehört natürlich die Freiheit ins Programm. Zu benützen hat man sie aber nicht für sich, sondern für andere:

„Sein Wesen (des Menschen) erfüllt sich in der Zuwendung zum Mitmenschen.“

Glück oder Wohlergehen werden hier gar nicht mehr in Aussicht gestellt. Stattdessen rechnet man die Verpflichtungen vor, die durchzusetzen sich die Partei von der Natur des Menschen hat beauftragen lassen.

Denn der Mensch ist allerlei, „frei“, „solidarisch“ und „gerecht“ – nur, damit er es auch ist, dazu braucht es die Politik.

„Es ist Aufgabe der Politik, dem Menschen den notwendigen Freiheitsraum zu sichern“,

und besonders frei macht ihn der Verzicht:

„Wer von jedem Verzicht befreit sein möchte, macht sein Leben nicht frei, sondern arm und einsam.“

Die Solidarität ist „Pflicht“, „verpflichtet alle im Zusammenwirken für das Wohl des Ganzen“ – im Fall ihrer umgekehrten Inanspruchnahme aber muß „der Staat dem Bürger verantwortliche Selbsthilfe zumuten“,

Gerechtigkeit schließlich bedeutet „gleiches Recht für alle“, also die ganz gleiche Unterwerfung der sehr unterschiedlich mit Gütern und anderem ausgestatteten Bürger unter die staatlichen Zwänge – wobei die Illusion, sich als Minderbemittelter etwas von dieser Gleichbehandlung erwarten zu können, noch im Programm selbst mit der für alles brauchbaren Natur des Menschen natürlich nicht mit dem objektiven Zweck des Rechts zurückgewiesen wird:

„Absolute Gerechtigkeit ist nicht erreichbar. Auch politisches Handeln im Staat stößt auf die Unzulänglichkeit des Menschen und dessen Grenzen.“


Macht durch Gewohnheit

Die ganze Präambel, das „Verständnis vom Menschen“, verkündet nichts anderes, als daß der Mensch das, was er ist, erst noch werden muß, wozu ihm die Politik unter die Arme greift. Sie verknüpft die Idealismen gleich mit der praktischen Instanz ihrer Durchsetzung. Mehr aber noch: Die demokratischer Politik geläufigen Ideale von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit verraten schon immer, daß sie nichts als Mittel zum Zurechtkommen mit einer wenig idealen Wirklichkeit sind, durch die Abstraktion von den gesellschaftlichen Beschränkungen. Dort bedeuten diese Ideale das sich frei an andere Verkaufen-Müssen, um leben zu können, der Zwang zur solidarischen Entrichtung von Beiträgen fürs Ganze und sich selbst für den Fall, daß man von der Freiheit nicht mehr leben kann, und die Gerechtigkeit im Ertragen ungleicher Lasten je nach dem unterschiedlichen Stand. Diese Ideale werden hier aber gleich so zu Papier gebracht, daß ihre ungemütliche Realität in Gestalt der diversen Verpflichtungen der Menschennatur mitgeliefert wird: Verantwortung, Zuwendung zum anderen, Dasein fürs Ganze, viel Leistung neben viel Verzicht; und wer für sich selbst etwas will, verfehlt das, wozu er angelegt ist, denn schließlich ist auch „jeder Mensch Irrtum und Schuld ausgesetzt“.

Dieses Grundsatzprogramm, in dem die CDU ja schließlich all die Bekenntnisse zusammenfaßt, mit denen sie bei den wählenden Bürgern dieses Landes auf die verschiedensten Anlässe bezogen Sympathien erwerben will, hält es für absolut überflüssig, irgendwelche Versprechungen zu machen. Nicht einmal Worte wie Glück oder Lebensqualität hat man verwenden wollen, nicht der geringste Appell ans materielle Interesse findet statt – stattdessen wird ohne Umweg mitgeteilt, daß sich im Ertragen von Abhängigkeitsverhältnissen und im tatkräftigen Einsatz für deren Aufrechterhaltung das Menschsein zu erfüllen hat, und daß die CDU die Regierungsgewalt zu diesem Zweck zu benützen gedenkt. Daß nach sorgfältigem Auskalkulieren und Abwägen, welches momentan die günstigsten Sprüche sind, das Grundsatzprogramm in dieser Form verabschiedet worden ist, verrät die Sicherheit unserer Politiker, mit einem Klima rechnen zu können, in dem die Abstraktion vom eigenen Interesse beim zahlenmäßig relevanten Teil des Volkes, dessen Leben sich „in Zuwendung zum anderen“ erfüllt, längst Gewohnheit geworden ist.

Und in dieser Sicherheit werden sie offensiv und legen diese Einstellung der von ihnen Beherrschten in Gestalt von Idealen, gereinigt von jeder Beziehung auf irgendwelchen materiellen“ Nutzen, als den politischen Kurs fest, mit dem sie auf Stimmenfang gehen wollen. Mit der programmatischen Ankündigung, daß Arbeit, Verzicht und Fügsamkeit das Schönste auf der Welt sind, inzwischen renommieren zu können – das ist eine Leistung, zu der sich der freiheitlichste Staat, den wir je hatten, beglückwünschen kann. Die Handschrift gewisser in die Politik übergewechselter Professoren ist unverkennbar. Aus sozio-, polito- und sonstologischen Einführungsvorlesungen ist ein Programm geworden, das der Lektüre der mit ihm Beherrschten nicht bedarf. Die Unterwerfung, von der hier gehandelt wird, bedarf keiner theoretischen Einsichten. Kohl und Geißler sind Theoretiker der Herrschaft und die Herrschaft braucht keine Theorie, sondern Typen, die wie Fußballtrainer aussehen, wie Pfaffen, heucheln und Schiebermentalität philosophisch präsentieren. Handwerkliches Können ist nicht erforderlich, weil das Handwerk der Herrschaft von einem „Apparat“ verrichtet wird.


Anweisungen zum weniger seligen Leben

Auch in den konkreten Anliegen, die das CDU-Programm an die Bürger heranträgt, läßt sie keine Unklarheiten bestehen.

In Sachen Ausbildung befreit man sich kurzerhand vom mißlichen Beigeschmack des Begriffs „Chancengleichheit“, nämlich von der damit verknüpften Illusion, die Chancen ließen sich für den eigenen Erfolg benützen – stattdessen sorgt der neu erfundene Begriff „Chancengerechtigkeit“ für Klarheit.

„Chancengerechtigkeit schließt den Versuch aus, die menschlichen Existenzen als solche gleichzumachen ... Gerechtigkeit verlangt, gleiches gleich und ungleiches ungleich zu behandeln.“

Die Bewahrung der Ungleichheit ist also der Zweck der Gerechtigkeit und wer mit der Aussicht auf gewisse Vorteile die Konkurrenz in den Bildungsanstalten anregen will, macht sich strafbar, weil er Verwirrung stiftet darüber, daß den „menschlichen Existenzen“, die Unterschiede des Wissens, des Einkommens und der Notwendigkeit, sich zu ruinieren, angeboren sind. Es gehört also wieder jeder an seinen Platz, für den er geschaffen ist – Anklänge an Parolen des tausendjährigen Deutschland sind auch hier rein zufällig. Davon, daß die Ungleichheit zwischen einem studierten Kohl und einem ungebildeten, aber flinken und ehrlichen Hilfsarbeiter einen Gegensatz darstellt, ist nicht mehr die Rede – in der Präambel und in den Auslassungen zur Menschennatur ist nämlich über alle Gegensätze und ihre Unverzichtbarkeit entschieden worden.

Auch zu Fragen des Arbeitslebens hat man in Ludwigshafen deutlich Auskunft gegeben.

„Die Schäden der Arbeitslosigkeit gehen weit über den Produktionsausfall hinaus, die menschlichen sind noch größer.“

Wodurch man sich billig der Pflicht zur Anteilnahme entledigt, ohne Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß die Politik sich dem Florieren jenes Bereichs zu widmen hat, der die genannten Schäden verursacht. Obwohl die Wirtschaft auf vollen Touren läuft und Arbeitslose produziert, rationalisiert, um Lohnkosten zu sparen und die verbliebenen Arbeitskräfte zu mehr Arbeit heranzuziehen, ist sie auch unter die Notleidenden geraten und muß „Produktionsausfälle“ verkraften. Mit Hilfe der volkswirtschaftlichen Lehre von den Produktionsfaktoren, die im Zusammenwirken das Wachstum schaffen, wird das Wachstum, das sich momentan gerade dadurch vollzieht, daß es teilweise aufs Zusammenwirken verzichtet, selbst zum Leidtragenden erklärt. Neben der geheuchelten Betroffenheit angesichts der „menschlichen Schäden“ müssen die Geschädigten also erfahren, daß es auf sie als solche ankommt, die der Produktion nützlich sind. Was momentan eben so aussieht, daß sie sich außerhalb der Fabriktore als praktisches Argument gegen ihre beschäftigten Kollegen zur Verfügung zu halten haben.

Auch die andere Seite des Arbeiterlebens, der Lohn, wird nationalökonomisch abgehandelt:

„Die Stabilität des Geldwerts ist eine entscheidende Voraussetzung für dauerhafte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Erst Geldwertstabilität macht einen leistungsgerechten Lohn für die reale Arbeit möglich.“

Der beliebte Gedanke der VWL, daß sich das Geld durch die vielerlei nützlichen Dienste erklärt, die es zu verrichten gestattet, bewährt sich hier am Lohn, versehen mit dem Zusatz, daß es dabei besonders auf seine Stabilität ankommt. Also: ohne Geldwertstabilität kein leistungsgerechter Lohn ... Der Lohn liegt der CDU also sehr am Herzen – aber nicht einfach so, daß sie verlangt, daß kein ordentlicher gezahlt wird. Sie läßt sich vielmehr angebliche Bedingungen einer gerechten Zahlung einfallen, um mit Hilfe dieser Bedingungen, um die es momentan offensichtlich schlecht bestellt ist – der Dollar sinkt und die Markt ist auch nicht stabil, sondern laufend zuviel wert – zu verstehen zu geben, daß der leistungsgerechte Lohn eine sehr problematische Angelegenheit darstellt, die, will man sie korrekt bewältigen, vorrangig ganz andere Sorgen, nämlich die um den Geldwert, verursacht.

Auch noch eine letzte Seite des normalen Lebens, das in der Familie, wird gewürdigt.

„Ehe und Familie haben sich als die beständigsten Formen menschlichen Zusammenlebens erwiesen.“

Eine „Einsicht“ der Familiensoziologie, (den einzigen Gedanken der Soziologie, daß alles, was Ordnung stiftet, Institution ist, in seiner Beständigkeit zu loben und gegen alle Anfechtungen verteidigt werden muß, die die unangenehmen Seiten des Ordnungsstiftens mit sich bringen,) – sie wird an der Einrichtung exemplifiziert, in der der Mensch bekanntlich seine schönsten Stunden verbringen soll. Die soziologisch verbrämte Wertschätzung der Familie hält mit den Gründen ihres Respekts auch nicht hinter dem Berg. Es folgen lauter konkrete Maßnahmen der Familienpolitik, also die „Hilfestellungen“ für die gesellschaftlichen Pflichten, die die Menschheit in dem, was die Mitte ihres Lebens bilden soll, für den Staat zur erledigen hat. Sicherung des Bevölkerungswachstums lautet der Auftrag und daraus ergeben sich teils agitatorische, teils finanzielle Druckmittel, damit die Familie auch als Keimzelle des Staates funktioniert in der Produktion und Aufzucht kommender Generationen gebrauchsfähiger Staatsbürger, wie man es von früher kennt. Mit drei Sentenzen der bürgerlichen Wissenschaft sind die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung festgeschrieben, so wie sie die Christlich-Sozialen „gestalten“ wollen: stets einsatzbereit für die Erfordernisse des Wachstums, bescheiden in Fragen des materiellen Entgelts, eifrig und auf das Fortkommen der Nation bedacht bei der Zeugung der zukünftigen Ersatzmänner.

Eine solche Perspektive entwickelt die stärkste Partei unseres Landes als programmatische Abgrenzung gegenüber ihrer Konkurrenz und demonstriert damit, welch solide Grundlage sich die Politik hierzulande geschaffen hat: als staatstragende Partei hat man kein Problem mit der Glaubwürdigkeit, keinen Anlaß, mit Versprechungen werben zu gehen. Die Gewißheit, daß es Kritik allenfalls an der Regierung gibt, weil sie als Ursache für die verschiedenen Ungemütlichkeiten erscheint, die der normale Mensch zur Zeit zu verspüren bekommt, verbunden mit einer realistischen Einschätzung, daß gleichwohl der regierende Kanzler als der beste Sachwalter deutscher Interessen dasteht, den wir je hatten, prägen das Parteiprogramm der CDU. Die Absetzung von der SPD verzichtet darauf, sich als Partei zu präsentieren, die mehr zu bieten hat. Genau umgekehrt: die Offensive erfolgt in der noch konsequenteren Propagierung der Werte, die das Abstandnehmen vom Bedürfnis als Erfüllung des Menschseins behaupten. Es wäre also falsch (in Anlehnung an die Thesen des Programms) Helmut Kohl zu fragen, ob er auf irgendetwas (Gehalt, Auto, Bedienstete, Rasierwasser usw.) verzichten wolle. Die CDU-Politiker haben in Ludwigshafen nie von sich geredet. Im Dafürsein für Staat, Selbstbescheidung und Aufopferung, alles von den Wählern zu erledigen, will man die Politik der SPD übertreffen, weshalb auch gleich zu Anfang die Einheit der deutschen Nation als Standpunkt der CDU reklamiert wird.

„Die Menschen in Deutschland haben verstanden, daß die Zeit der Klassenkampfe und Gesinnungskriege vorbei ist.“

Beides ist falsch: das gesamte Programm ist ein einziger Streit, um Gesinnung und ein Streit mit der anderen Parteien über die wechselnden Gesinnungen bezüglich der Form der praktischen Austragung des Klassenkampfs, der staatlichen Verwaltung der Gegensätze, die zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Gewerkschaft und Unternehmerverbänden verhandelt werden. Daß aber von der einen Seite dieser Streit mit der Berufung auf die Einheit aller Deutschen geführt werden kann, zeigt, wie es um die Austragung der Gegensätze steht. Dazu nur ein Slogan seitens der Vertretung der anderen Seite, die momentan in Karlsruhe um die Mitbestimmung als „Schule der Partnerschaft“ kämpft.


Alternative, leicht verspätet

Aber es gibt noch Gegner der offiziellen Politik. Die DKP hat sich, wie die anderen Parteien, ein neues Programm zugelegt, in dem sie den Massen gleich auf der ersten Seite mitteilen zu müssen glaubt:

„Die DKP teilt den Stolz der arbeitenden Menschen unseres Landes auf ihre großen Aufbauleistungen.“

Nicht nur, daß es einer Arbeiterpartei vielleicht anstünde, den arbeitenden Menschen ihren ruinösen Stolz durch den Verweis auf die von ihnen getragenen Kosten des Aufbaus auszutreiben – in einer Phase der ökonomischen Entwicklung, die durch zügigen Reallohnabbau, Arbeitsintensivierung und gleichzeitige Entlassungen das Lebensniveau der arbeitenden Menschen kräftig herunterdrückt, hält es die DKP für passend, mit der Zufriedenheit darüber, wie weit man es gebracht hat, agitieren zu gehen. Eine staatstragende Partei verkündet öffentlich, daß das Zurechtkommen mit einer Lebenslage ansteht, die allen Grund zur Unzufriedenheit bietet, und ihre Gegner bescheinigen den Massen, daß es jetzt darauf ankäme, all die schönen Errungenschaften, mit denen sie ihr Leben ausschmücken, zu erhalten. Eine Agitation, die die bürgerlichen Parteien zu Zeiten des Wirtschaftswunders betrieben haben und mit der die DKP jetzt, 20 Jahre zu spät, sich bemüht, am Nationalismus ihrer Adressaten zu partizipieren.

Deshalb auch folgende bestechende Analyse der Weltlage:

„Die ökonomische Instabilität (man beachte die Wachstumsraten), die politische Labilität (abzulesen an den Popularitätskurven unseres Helmut), sowie der Verfall von Kultur und Moral in der Welt des Kapitals werden immer offensichtlicher.“

In einer Zeit, in der der radiohörende, zeitungslesende, fernsehende Mensch pausenlos mit dem tragischen Tod des I. Johannes Paul und dem Glück, einen 2. gefunden zu haben, mit der penetranten Erinnerung an die schlechten Zeiten, die gesünder waren als die jetzige „Edelfreßwelle“, mit dem Vorwurf an die potentiellen Mütter der Nation, daß sie sich die Frage Kind oder Auto überhaupt vorzulegen wagen, belästigt wird, in einer solchen Zeit diagnostiziert eine kommunistische Partei einen „Niedergangsprozeß bürgerlicher Kultur und Moral.“

Auch dies ist ein Indiz für die geistige Lage der Nation. Diejenigen, die die Macht in Händen haben, verfassen ein mit aller Sorgfalt, einschließlich der konjunkturgerechten Benützung des Glaubens, durchkalkuliertes Programm, um die für einen ökonomischen Aufschwung, der sich von aller Rücksichtnahme auf die Arbeitenden befreit hat, erforderliche Moral an anderen Leuten durchzusetzen. Die Gegner, die sich als Fürsprecher der unterdrückten Massen begreifen, haben keine andere Sorge, als einen ausser in ihrem Hirn nirgends feststellbaren Verfall der Moral zu beklagen. Nicht Gott ist tot, sondern offensichtlich der Kommunismus.


Der freie Geist tut seine Pflicht

Eine letzte Weisheit des DKP-Programms, „die Monopole mißbrauchen die Schöpferkraft der Intelligenz“, sei hier nur zitiert als Motto zur Einstimmung auf das Programm der geistigen Leistungen, die die wissenschaftlichen Hilfstruppen der Staatsgewalt im freiwilligen Gebrauch ihrer Schöpferkraft heute zustandebringen.

Die älteste bürgerliche Wissenschaft, die Nationalökonomie, betätigt sich als Lieferant von Krisenideologien. Die ökonomische Metaphorik, die ihre Sympathie fürs Wirtschaftsgeschehen immer schon in vermenschlichenden Termini zum Ausdruck gebracht hat, ergeht sich in Krankheitsbegriffen, in denen die Wirtschaft zum Patienten erklärt wird. In einer Gesellschaft, in der die Abhängigkeit und der Gegensatz ihrer Mitglieder als Konkurrenz um den vergegenständlichten Reichtum, das Kapital, ausgetragen, in der die Bedürfnisse mit Wachstums- und Inflationsraten, Exportstatistiken und Lohnstückkosten zurückgewiesen werden, in einer solchen Gesellschaft liefert die Ökonomie ein metaphorisches Lexikon, das mit Bildern wie dem kranken Dollar, dahinsiechenden Werften und Stahlunternehmen, der Konjunktur als Fieberkurve, auf Identifikation mit dem Befinden des Geldes, des Kapitals, der Konjunktur drängt. Der Reichtum, dessen Gesetzmäßigkeiten seine Produzenten am eigenen Leibe zu verspüren bekommen und mit ihren Krankheiten bezahlen, wird ,,medizinisch“ so zugerichtet, daß sich jeder persönlich durch wachsenden Einsatz um dessen „Gesundung“ zu kümmern hat.

Die Philosophie, die ihre Rolle als Königin der Wissenschaft zeitgemäß zu der der obersten Polizeibehörde modifiziert hat, zieht das allgemeine Fazit über die Unzuverlässigkeit des Denkens und die daraus entspringende gehörige Einstellung zur Welt:

„Was zunächst wie ein Versuch einer Quadratur des Kreises anmutet, das Zusammendenken von Skeptizismus als einer negativen Haltung und Ethik als einer positiven, Werte setzenden Haltung, zeigt sich im Verlauf der philosophischen Untersuchungen Weischedels als durchaus gangbarer Weg; das Positive einer Ethik wird nicht notwendig durch eine skeptische Haltung liquidiert. Beide, Skeptizismus wie Ethik, sind unabdingbare Elemente des gegenwärtigen Philosophierens, und zwar deshalb, weil sie beide notwendige Momente des heutigen Menschseins sind. Der Mensch kann nicht, ohne sich selber aufzugeben, auf die ethische Problematik verzichten. Er kann aber auch nicht aus der ihm in seiner geschichtlichen Situation auferlegten skeptischen Haltung herausspringen.“

Die Jahrtausendleistung, die hier als Quadratur des Kreises angepriesen wird, stellt alles andere dar, nämlich das geradlinige Credo bürgerlicher Wissenschaft. Skeptizismus = die mit Gewißheit vorgetragene Überzeugung, daß es Gewißheit niemals geben kann (darf), woraus mit untrüglicher Gewißheit folgt, daß man zur Anleitung seines praktischen Handelns sich anderen Instanzen zu überantworten hat.

Auf dieser per Skeptizismus gesicherten Grundlage, daß man sich um Wahrheit nicht kümmern braucht, weil sie sowieso nie erreicht werden kann, widmet sich die Wissenschaftlerzunft ungehindert ihrem demokratischen Auftrag, der phantasievoll ausgestalteten Verbreitung der Dogmen, die in der Welt zu gelten haben.

Obsolet geworden, obwohl auf ihre Weise durchaus auch dem Zeitgeist verpflichtet, sind daher Wissenschaftler der folgenden Art: In einem Aufsatzband unter dem Titel „Vernünftiges Denken“ veröffentlicht ein korrespondierendes Mitglied der Frankfurter Schule, Karl Otto Apel, die Beantwortung folgender Frage:

„Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung?“

Natürlich ist er eine und bekräftigt damit, daß unser Sein eines zum Tode, der Mensch ein Erdenwurm ist und folglich bescheiden zu sein hat, womit sich die Philosophie als moderne Theologie bekennt. Wirklich nicht zeitgemäß aber in einem Klima, in dem sich Weltanschauungspredigten gar nicht mehr besonders als Wissenschaft zu verkleiden brauchen, ist die umständliche Herleitung dieser Weisheiten. Da werden erst die gesammelten Fehler der Sprachphilosophie bemüht – wenn wir miteinander reden, was macht das möglich, was geht je schon der Sprache voraus, so daß mit ihr Sinn in die Welt kommen kann – und mit der Existenzphilosophie verkuppelt, um das einfache Resultat zu Papier bringen zu können, daß der Mensch, weil sterblich, vorsichtig und seines Interesses unsicher zu sein hat. Dies der Beitrag einer als fortschrittlich-kritisch geltenden Schule bürgerlicher Wissenschaft, deren gesamte Leistung sich darin erschöpft, aus der fleißigen Verarbeitung sämtlicher moderner Fehler eine hochgestochene methodische Apparatur zur Bekräftigung der Staatsbürgermoral gebastelt zu haben.

Ohne derlei überflüssige Anstrengungen kommt ein Kölner Jurist zur Sache: Mit Hilfe der Berechnung, daß der Mensch durchschnittlich 408.000 DM wert ist, ein dreijähriges Kind 26.308 DM (wegen der Bildungskosten, die es noch verschlingt), eine verheiratete Frau immer noch 250.000, wird dargelegt, daß es sich durchaus lohnt, in Großstädten 5-6 Polizeihubschrauber mehr zur Lebensrettung von Schwerverletzten einzusetzen. Die Fragestellung war also ganz einfach: welchen Nutzen hat die Gesellschaft von Verkehrssicherheitsmaßnahmen, von ein paar Toten weniger, und ebenso einfach läßt sich das berechnen. Moralische Entrüstung, daß man das Leben eines Menschen doch nicht in Geld berechnen könne, blamiert sich angesichts der Offenkundigkeit, daß man es kann, was im übrigen nicht nur in dieser Studie, sondern tagtäglich getan wird. Theoretisch im Beweis des Nutzens der Neutronenbombe, praktisch in den Verhandlungen der Tarifpartner darüber, mit wieviel Geld ein Leben heute bestritten zu werden hat. Ein Minister, der diese Rechnung so offen zweckmäßig aufmachte – wie sie praktisch gemacht wird – , müßte mit der Aufforderung zum Rücktritt rechnen, wegen der Vernachlässigung des Ansehens, um das sich eine glaubwürdige Politik bemühen muß. Die freie Wissenschaft aber kann es sich gestatten, ohne moralische Skrupel, ob es nicht vielleicht doch etwas zu deutlich ist, mitzuteilen, worauf es ankommt.

Der Vorteil schließlich, den sie genießt, als unabhängige Instanz in dieser Gesellschaft, die nicht für die praktischen Entscheidungen verantwortlich ist, im Besprechen der Möglichkeiten um einiges weitergehen und so ihr Teil zur Politik beitragen zu können, hat sie nicht mehr an den Stätten des Geistes verharren lassen. Immer mehr Repräsentanten des Geisteslebens folgen dem Ruf ihres Gewissens und beteiligen sich an der direkten Agitation in den Medien, um die Absicht ihrer parteilichen Gedanken den Adressaten möglichst hautnah anzutragen.


Machen Jens, Steinbuch und Sontheimer unzufrieden?

Am moralischer Erbauung und Einweisung traditionsgemäß gewidmeten Sonntagvormittag läßt das ZDF die Geistesgrößen – ganz ohne Mißbrauch ihrer schöpferischen Intelligenz – von ihnen selbst in den Raum gestellte Fragen zur Zeit selbst beantworten.
So Walter Jens, der Tübinger Rhetoriker, ob es noch eine Kunst des Lesens gibt. Nein, sie muß wieder gelernt werden. Worin sie besteht: während der schweren Zeiten im Krieg das erste Mal Dostojewski gelesen. Das hat die deutsche Arbeiterbewegung auch gewußt, daß es das Schlimmste ist, den Arbeitern Schiller vorzuenthalten, Also: schwere Zeiten sind gut, sie machen besonders empfänglich für die Moral, die die Literatur abgeben soll, wenn man die Kunst, sie zu lesen, beherrscht, nämlich die, daß der gebeutelte Mensch die „Würde des Subjekts“ gewinnt, das „sich selbst versteht und (!) beherrscht“. So, von den äußeren Gewalten ordentlich hergenommen und fürs Lesen im Jens-schen Sinn weichgemacht, erfährt der Leser „was mir innerhalb der Welt meinen Platz gibt“. Was also wieder gelernt sein will, ist die rechte Einstellung, sich in schweren Tagen durch Literatur die „Abhilfe“ zu verschaffen, „würdiges Subjekt an seinem Platz in der Welt“ zu sein und zu bleiben.
Ein Kollege, Steinbuch, der seinen Ruf als Naturwissenschaftler schon ein Jahrzehnt zum Zweck der politischen Agitation benützt, vertritt die „These“, daß die „Information am Fernseher die Zuschauer überflutet, manipuliert“. Der Beweis wird durchgeführt mit Hilfe der Informationstheorie, die den menschlichen Geist aufgrund der hilfreichen Gleichsetzung mit Rechenmaschinen daraufhin besichtigt, wieviel er verdauen kann und wo es für ihn zuviel wird. Aufs Fernsehen übertragen ergibt dies die „Information“, daß dort immer nur über das Neue berichtet wird, über das vom Normalfall Abweichende, weil es mehr Informationswert hat, wodurch die Zuschauer zu der Meinung veranlaßt werden, es stünde wahrhaftig schlecht auf der Welt. Jemand also, der seinem eigenen Hirn durchaus die Leistung zutraut, den Überblick übers Weltgeschehen zu speichern und zu dem Schluß zu gelangen, daß Zufriedenheit am Platz ist und die überflüssige Beunruhigung der Fernsehzuschauer durch Nachrichten gebremst werden muß, hetzt mit naturwissenschaftlich aufgemöbelten Pseudoargumenten gegen die Berichterstattung der Demokratie als Quelle von Unzufriedenheit. Besser also, man unterrichtet die Öffentlichkeit nicht so ausführlich, könnte sie doch auf falsche = gegen die Zustände sich kehrende Gedanken verfallen.

Das Bemerkenswerte an dieser Einlassung ist nicht die Idiotie der Argumente, sondern die Unverschämtheit, mit der so getan wird, als herrschte unter der Bevölkerung eine enorme Empörung über das, was per Nachricht bekannt wird, als sei sie kurz davor, sich zum Marsch auf Bonn zusammenzurotten. Es ist die gleiche Unverfrorenheit wie das Gerede über die Staatsverdrossenheit: obwohl die Bürger friedlich ihre Steuern zahlen, massenhaft zu den Urnen eilen und, auf ihre Meinung zu protestierenden Ausländern, Studenten usw. befragt, die nötigen Faschistereien schon parat haben, wird öffentlich über ihre Staatsunlust räsonniert, eine angebliche Gefahr heraufbeschworen, um die dringliche Aufforderung loszuwerden, sich noch mehr und ohne jede Spur von Distanz hinter den eigenen Staat zu stellen, um ihn vor seinem sicheren Untergang zu bewahren.

Ein letztes Beispiel für diese Anstrengungen, der Öffentlichkeit den letzten Schliff zu geben, ist die Frage des Münchner Politologen Sontheimer „Macht Wohlstand unzufrieden?“ Daß es Wohlstand gibt, weiß jeder, der Fachmann der Politik aber weiß, daß es ihn gerade bei den Unzufriedenen gibt, und daß er dort höchstpersönlich den Grund für die Unzufriedenheit abgibt. Die Volksweisheit, arm aber glücklich, die volkstümliche Akkomodation an Verhältnisse, unter denen das Einkommen nicht zum Leben reicht, genügt der politisierten Wissenschaft nicht mehr, sie rückt durch das verräterische „aber“ in gefährliche Nähe zu anarchistischer Hetze. Die Umkehrung, weil Wohlstand, deshalb unzufrieden, ist eine Kritik am „aber“, das durch ein „weil“ ersetzt gehört. Auch hier wäre es wiederum falsch zu fragen, ob Sontheimer sein Wohlstand lästig ist; zwar macht er ihn unzufrieden, aber über ganz andere Leute.


Austreibung böser Worte und falscher Bedürfnisse

Eine Wissenschaft, der die Volksweisheiten noch nicht Volk genug sind, die ihm zusätzlich zu seinen Methoden der Abfindung noch pausenlos Lektionen des richtigen Verhaltens verabreicht, begnügt sich selbstverständlich nicht mit Fernsehauftritten, denen man sich ja immerhin noch per Knopfdruck entziehen kann. Sie entwickelt Trainingsmethoden für den Nachwuchs, um der Jugend für ihren Lebensweg gleich die richtigen Regeln einzubleuen. Der übliche Weg ist der über die Schulbücher, abgehandelt in der letzten MSZ, aber in unserem erfinderischen Land gibt es auch in diesem Bereich immer wieder Neues. Die fortschrittliche Uni Bremen läßt ihre Neuankömmlinge spielend die Moral der bürgerlichen Wissenschaft erwerben. Diskutieren soll geübt werden und, da in Diskussionen immer noch solche Untugenden anzutreffen sind, daß, um anderen „seine Meinung aufzuzwingen“, Worte verwendet werden, wie „muß“, „soll“, „darf nicht“ etc., gibt es das „Hütchenspiel“. Man diskutiere ein beliebiges Thema – darauf kommt es ja auch wirklich nicht an – und jeder Spieler, der eines der diskriminierten Worte benutzt, zahlt zur Strafe ein Bonbon in den Hut. Solche Praktiken zur Abgewöhnung anachronistischer Bestrebungen, jemanden durch Argumente überzeugen zu wollen, statt auf Grundlage des Wertekonsens sich und andere aufs bloße Meinen zu relativieren, solche Praktiken werden von den Studenten nicht nur geduldet – sie werden fröhlich praktiziert und als Hilfe zum Fortkommen in der Welt der Wissenschaft in Anspruch genommen, an deren Regeln man sich nur allzu gerne und bereitwillig anpassen will.

Eine andere Abteilung, die mehr Wert auf die Moral des Alltagslebens legt, ist die inzwischen in allen Schulen praktizierte Kritik an der Werbung, ironischerweise eine Erfindung der Linken, die sich den mangelnden Zuspruch der Arbeiterklasse einmal durch deren Befangenheit in Konsumideologien erklären wollte. Dort geht es natürlich nicht um die Erklärung dessen, was Werbung ist – daß sie ihre Grundlage darin hat, daß der Käufer im Normalfall nicht genug Geld hat, um sich all das zu kaufen, was er braucht, so daß er sich entscheiden muß zwischen verschiedenen Produkten, weshalb ihm diese jeweils als besonders gut und billig, eben preiswert vorgestellt werden, um seine Entscheidung zu beeinflussen –, die Werbungskritik macht sich an die Aufdeckung finsterer Manipulationsmachenschaften. Den Käufern werden Bedürfnisse eingeredet, die sie im Grunde gar nicht haben, die Werbung – nicht die Not – führt sie ins Unglück, indem sie die Leute unzufrieden macht. Also besser die Konsumenten verzichten auf ihre Wünsche, dann kehrt endlich Frieden ein. Wie man sieht, allenthalben ein enormer Verfall von Werten.

Dabei ist die bürgerliche Kultur nicht nur überaus emsig bei der Wiederentdeckung zwischenzeitlich angestaubter Werte – das Christentum macht sich breit in der Politik und die Philosophie fragt endlich wieder nach den letzten Dingen –, sie macht sich auch erfinderisch und geschickt solche zu eigen, die einmal in Gegensatz zu ihr vertreten wurden, eliminiert die Momente von Kritik an Staat und Gesellschaft und baut sie konstruktiv in die Erziehung der Bürger ein.

 

Grüne und Emma bei Fuß

Die Umweltbewegung, in der einmal ein gewisses Bewußtsein davon vorhanden war, daß das Kapital in seiner Verwendung der Natur einiges an Zerstörung hervorbringt, hat sich unter Anleitung des Club of Rome und naturwissenschaftlicher Moralapostel wie Robert Jungk zur Ökologiedebatte entwickelt. Dort beschäftigt man sich mit der Herstellung und Bekräftigung moderner Weltuntergangsvisionen, daß das Öl knapp wird, das Uran und alle sonstigen Bodenschätze einschließlich der Luft und des genießbaren Wassers. Bewiesen wird diese Perspektive mit Zukunftsberechnungen, die die gegebene Benutzung der Natur durchs Kapital als Selbstverständlichkeit unterstellen bis ins Jahr 2000, um damit der Menschheit zu verstehen zu geben, daß sie sich bescheiden muß, soll nicht die Welt in Scherben gehen. Im Begriff Ökologie liegt die ganze agitatorische Verdrehung, mit der man es bewerkstelligt, den Grund für die Zerstörung der Natur auszuklammern und die Betroffenen aufzufordern, bei gleichbleibenden ökonomischen Verhältnissen anders zu leben, Verantwortung zu üben.

Auch die Frauenbewegung hat inzwischen Eingang in die Normalwelt gefunden. Ihre Themen werden zu Kulturgut verarbeitet, das von der Emanzipationsbewegung propagierte neue Selbstbewußtsein der Frau zum Bestandteil ihrer Lebensbewältigung umgemodelt. So beginnt eine moderne Liebeserklärung im Schlager mit dem üblichen „ich liebe dich, weil ich weiß, daß du klug und zärtlich bist“, um dann mit einem „doch das ist es nicht allein“ den Clou einzuführen, „du zeigst mir endlich, daß es möglich ist, ganz Frau und trotzdem frei zu sein“. Man hat es also geschafft, dasjenige, wogegen der Protest sich einmal gewendet hatte – die Funktionalisierung der Frau durch Ehe und Familie, die Benützung der Liebesbeziehung für ein lebenslanges preiswertes Dienstleistungsverhältnis –, mit Hilfe des Fehlers der Feministinnen, im Elend der Frau den besseren, weiblichen Menschen zu entdecken, mit dem Ideal in eins fallen zu lassen, von den Beschränkungen frei zu sein. Besungen wird also die Genugtuung, Frau bleiben zu dürfen und sich darin frei und als etwas Besonderes fühlen zu können. Die Menschenwürde der Frau garantiert im übrigen Heiner Geißler lässig. Und auch die inzwischen in Gestalt diverser Zeitungen etablierte Frauenbewegung läßt keinen Zweifel daran, daß sich ihr Widerstand gegen die Benützung der Frau in eine Propaganda für eine Erweiterung der bisherigen Grenzen dieser Benützung verwandelt hat. Im Zuge der Gleichberechtigung fordert Emma den Wehrdienst für Frauen. Volle Rechtsgleichheit, auch an der Front!


Gelungene Disziplinierung studentischen Geistes ...

Damit soll aber nicht gesagt sein, daß es in unserer demokratischen Öffentlichkeit keinen Protest mehr gibt. An den Hochschulen sammelt sich der Unmut – ein Unmut über überfüllte Seminare, zu wenig Hochschullehrer, Aufnahmeprüfungen, Erschwerung der Leistungsnachweise usw. Was sich dort an Widerstand gegen den Staat regt, machtvoll und von Tag zu Tag bedrohlicher, schenkt man den revisionistischen Wortführern Glauben, ist die Empörung über Bedingungen, die der Staat ordentlichen und braven, gesetzes- und auch sonst noch treuen Studenten vorschreibt, weshalb sich die Protestler ihren Widerstand am liebsten auch gleich von den linken Vereinen abnehmen und stellvertretend organisieren lassen. Mehr könnte schließlich das Studium behindern.

Diese Form der Anpassung reicht jedoch nicht aus. Die regelmäßige Beschimpfung als Duckmäuser, die das bornierte Berufsinteresse der Studenten darin angreift, daß man als Elite auch ein bißchen Staatsengagement an den Tag zu legen hat, hat das Allensbacher Institut um eine öffentliche Prüfung studentischen Bewußtseins ergänzt. Die Frage „Halten Sie die Idee des Kommunismus für gut?“ hat die Mehrheit zwar anständig beantwortet mit der pflichtgemäßen Unterscheidung, die Idee schon, aber die Praxis nicht. Daß man als Demokrat Ideale haben muß, wie Gerechtigkeit und Gleichheit und was sonst noch alles dem Kommunismus als Idee untergeschoben wird, daß man aber zugleich immer wissen muß, daß Ideale eben Ideale sind, die leider nicht zu verwirklichen gehen oder dann, wenn man es probiert, zu Mord und Totschlag führen, weil nämlich der Mensch im Grunde unvollkommen und zur Verwirklichung der Ideale nichts taugt (siehe CDU-Programm), diese ordentlichen demokratischen Überzeugungen haben die Befragten zu 62 % von sich gegeben, woraufhin zu ihrer Überraschung große Teile der Öffentlichkeit über sie herfielen mit dem Schluß, daß 62 % unserer Studenten Kommunisten sind, und die Hochschulen jetzt endlich von jeglicher Indoktrination – mit Ausnahme der bürgerlichen natürlich – gesäubert zu werden haben.

Was diese Befragung und ihre öffentliche Auswertung auszeichnet, ist der Angriff auf das Staatsbürgerbewußtsein, daß sich neben der praktischen Zustimmung, säuberlich davon getrennt, auch noch seine Vorstellungen davon hält, was besser sein könnte. Ein Ideal anstelle der umstandslosen Verhimmelung des Geltenden gilt bereits als Heraufkunft des Willens, dagegen zu sein. Die Gewißheit im Rücken, daß sich nirgends praktischer Widerstand regt, gehen die Instanzen des öffentlichen Lebens also dazu über, auch noch jene Bereiche zu säubern, in denen, in Gestalt der urdemokratischen Trennung von Meinung und Handeln, sich im Feld der Meinung noch gewisse Elemente von Distanz auffinden lassen. Wenn du, Student, schon praktisch zum Ausdruck bringst, daß dir nichts außer deinem Vorwärtskommen im Studium am Herzen liegt, du also einverstanden bist, so wird ihm aus Allensbach bedeutet, dann spar' dir auch die Flausen mit einem Kommunismus als Idee. Sich etwas Besseres denken zu wollen, als was es gibt, ist der Anfang allen Übels.

Die Reaktion seitens der Betroffenen war vorbildlich. Für alle spricht der Bonner AStA:

„Es ist in höchstem Maße unverantwortlich, eine Gruppe der Gesellschaft, die eines Tages eine führende Rolle im Staat spielen soll, ständig an den Rand desselben zu stellen und mit Dreck zu bewerfen.“

Protest, studentischen zumal, gibt es also dennoch in diesem unserem Lande, immer dann, wenn der vorhandenen Einstellung, ein braver Akademiker zu werden, mißtraut wird.


... und proletarischer Bedürfnisse

Es ist auch nicht so, daß nicht eingestanden würde, daß einiges noch im Argen liegt, und die Verantwortlichen nicht Maßnahmen zur Lösung dieser Probleme in Betracht ziehen würden. So wird zur Zeit ein dringliches Bedürfnis der Arbeiterklasse, Arbeitszeitverkürzung, unter öffentlicher Anteilnahme verhandelt. Allerdings nicht von denen, die es haben, sondern von denen, die solche Interessen verwalten, und den Gegnern in den Unternehmerverbänden und Wirtschaftsministerien. Dementsprechend wird auch diskutiert: Arbeitszeitverkürzung nicht als Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit, sondern zur Lösung gesamtwirtschaftlicher Probleme, zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Daß man gegen Arbeitslosigkeit gar nichts unternehmen will – dann wäre der Angriffspunkt nämlich ein ganz anderer: die laufende Einsparung von Arbeitskräften durch die Rationalisierungen, die den Verbliebenen die Mehrarbeit aufbürdet –, ist die eine Seite, und, daß man auch die Arbeitszeit nicht verkürzen will, die andere. Diskutiert werden nämlich die Grenzen von Arbeitszeitverkürzung. Warum sie sich kaum, oder nur ganz langsam, oder in manchen Bereichen erst einmal gar nicht machen läßt. Der Chef der Gewerkschaft, die gerade einen Streik angezettelt hat, angeblich zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche – in einem Bereich übrigens, in dem bis zu 56 Stunden pro Woche gearbeitet werden –, Eugen Loderer, beim Streikbesuch vor den Fabriktoren dazu befragt, wann es denn die 35-Stunden-Woche geben werde, antwortet nicht, demnächst, dafür streiken wir nämlich, sondern „ich bin kein Prophet“.


Der Geisteszustand der Nation hat seine Tugendprobe bestanden

Es steht also ausgezeichnet ums Modell Deutschland. Alle tun ihre Pflicht. Die Studenten studieren und bereiten sich auf ihre Führungsposten vor, beschweren sich allenfalls darüber, daß man sie nicht richtig läßt. Die Arbeiter arbeiten und überlassen ihre Sorgen ihrer Organisation. Die Tarifautonomie funktioniert blendend und die Gewerkschaften führen die nötigen Scheingefechte, die ihrer Anhängerschaft das Gefühl vermitteln, daß für sie gesorgt wird, und beweisen in allen Sachfragen volkswirtschaftliches Verantwortungsgefühl. Der Aufschwung ist in vollem Gang und die Öffentlichkeit leistet die notwendige Schützenhilfe in der moralischen Einschwörung der Nation auf die Werte, die in Deutschland gelten.

Zu alledem bieten die Vorgänge in Persien gleich noch einen Testfall, an dem das geschulte staatsbürgerliche Bewußtsein endgültig seine Bewährungsprobe ablegen kann. Das Material wird täglich zur Verfügung gestellt. Nicht nur, daß es offensichtlich zum normalen Gang der Dinge gehört, wenn in Persien pro Tag ein paar Tote zu verzeichnen sind, auch daß dies so sein muß, weil es unsere Ölinteressen sind, die der Schah dort unten vertritt, und daß deshalb alles mit voller Billigung und Unterstützung seitens unserer Politiker geschieht – dies wird jedem tagtäglich zur Kenntnis gebracht und die Reaktion verläuft zur vollsten Zufriedenheit. Nicht nur, daß niemand auf den Gedanken verfällt, hiesige Politiker auf ihre Verantwortung für die Ereignisse im Iran aufmerksam machen zu wollen, nicht einmal der Gedanke daran, daß die doch sonst überall angebrachten Menschenrechtssprüche auch auf den Iran anwendbar wären, nicht einmal Betroffenheit über die doch zugegebenermaßen unschönen Fernsehbilder schießender Militärs. Außer öffentlichen Erwägungen über die Risiken, die eine Übernahme der Regierungsgewalt durch eine „reaktionäre islamische Opposition“ mit sich bringen würde, – totale Funkstille.


Die Fühllosigkeit, mit der das öffentliche Bewußtsein an Persien seine sittliche Reife beweist, indem niemand mehr über das erschrickt, was in seinem Namen, von seinen Politikern in anderen Gegenden der Welt angerichtet wird, diese Fühllosigkeit geschaffen zu haben, ist das schönste Kompliment, das unser Staat sich machen darf. Es ist Gewohnheit geworden, sich im praktischen Zurechtkommen, jeder an seinem Platz, den vorfindlichen Zwängen zu beugen, so daß sich niemand mehr auch nur die geistige Abweichung leisten mag, sich um etwas zu kümmern, außer dem, was für das eigene Vorwärtskommen zweckmäßig zu sein scheint.

Persien interessiert einfach nicht, weil das eigene Interesse in den akzeptierten Schwierigkeiten des eigenen Zurechtfindens so befangen ist, daß es nicht einmal mehr feststellen will, daß es unter der Regie unserer Staatsmänner noch einiges mehr an zu bewältigenden Schwierigkeiten zu erwarten hat. Was dagegen interessiert, ist der Massenselbstmord in Guyana, wo die Verrücktheit einiger Sektenmitglieder, die falsche Werte auch noch leben wollten, den handfesten Beweis geliefert hat, daß man selbst nichts Besseres tun kann, als normal zu bleiben. Normal zu sein, bedarf es aber nicht wenig. Heutzutage heißt das nicht nur, sich fügen. Nicht nur den Ideologien der bürgerlichen Wissenschaft und ihrer Entwicklung lauschen, sie lernen und mit zunehmendem Alter merken, daß man immer schon ihnen gemäß gelebt hat. Normal sein heißt, umstandslos ihren Zweck propagieren und offensiv vertreten gegenüber jedem, der anders verfährt. Das beste Übungsgerät sind Flugblattverteiler und Agitatoren von links. Statt Befolgung des Rats, selbständige Tat. Intelligenz heute, das heißt, sie nur soweit benützen, wie sie zu einem wohlgeformten Bekenntnis taugt.

 

aus: MSZ 26 – Dezember 1978

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