Kunst im Kapitalismus:
„Ist nicht seit Beginn des imperialistischen Zeitalters ausgemachte Sache, daß alles in den letzten hundert Jahren, was ein Künstler hervorbringt, Kunst ist, und daß es ausreicht, wenn er selber und ein paar Koryphäen ihn zum Künstler bestellen, damit aus einem x-beliebigen Menschen (!) ein Künstler wird?“ (Peter O. Chotjewitz, in Kunst und Medien) Daß es im Belieben des Betrachters läge, ob ein Kunstwerk ein solches ist oder nicht, pflegen die Künstler allerdings praktisch zu widerlegen. Seit Marcel DUCHAMP ein Pissoir auf einem Podest ausstellte, macht nicht nur die Vitrine, die Absperrung oder eben das Podest das Exponat als Kunstwerk kenntlich, sondern vor allen Dingen die mühsame Bearbeitung des Gegenstands mit Leim, Fett, Dreck usw., die seinen Gebrauchswert zerstört und ihn so zum „ästhetischen Objekt“ umfunktioniert. Und diejenigen, die das bestreiten – wie die BILD-Zeitung in ihrer Kampagne gegen das Loch von Kassel –, sind auch keine Anhänger der Rezeptionsästhetik, sondern verlangen mit dem Urteil, was zum Beispiel auf der documenta geboten wird, sei überhaupt keine Kunst, eine Kunst nach ihren Vorstellungen.
Daß ihre Werke schön anzuschauen seien, wäre für die modernen Künstler wahrhaftig ein vernichtender Vorwurf, den sie nach Möglichkeit zu entkräften suchen, denn: „Schönheit allein ... kann jede tiefere Bedeutung, jeden Sinn verdrängen.“ (Doris Schmidt in der SZ)Geht es ihnen doch um die „Überwindung traditioneller Konsumhaltungen“ wie der, an der Kunst Gefallen zu finden, und um eine „bewußtseinsverändernde Sensibilisierung“ des Betrachters, die seine „Wahrnehmungsgewohnheiten“ in Frage stellen soll – weshalb die Ähnlichkeit ihrer Machwerke zu Gegenständen des Alltags durchaus beabsichtigt ist, nämlich „irritierend“ wirken soll.
Dementsprechend fand sich auf der documenta VI eine Ansammlung von Werken, die angeblich die Wahrnehmung des Betrachters ausbilden sollen. Die Arbeitsgruppe HAUS-RUCKER-Co. stellte zwei Stahlrahmen in die Kasseler Landschaft, die nach dem Willen der Konstrukteure den Blick in die Gegend nicht etwa verstellen, sondern freimachen sollten: „Für manche Besucher wird erst mit diesem »Instrument« die schon immer (!) sichtbar gewesene Landschaft zu einem Wahrnehmungsfeld gemacht.“ (Aus dem offiziellen Katalog der documenta VI, wird i. folg. zit. als „Doc“) Natürlich war das Arrangement nicht für Blinde gedacht; was die Rahmen veranschaulichten, wurde in dem Ausschnitt „sichtbar“, den sie aus der Aussicht abteilten: „Es liegt eine kritische Ironie darin, daß bei der »Feineinstellung« – beim Blick durch den kleineren Rahmen – die in das Landschaftsbild hineinragenden und den Horizont durchschneidenden Industriekamine plötzlich (!) in enge Nachbarschaft mit den Barockstatuen treten“ (oh das wohl ein Zufall ist?), „welche die Dachbalustrade der Orangerie krönen.“ (Doc) Und die passen doch bekanntlich nicht zusammen! Womit die HAUS-RUCKER-Co. weder gegen die Schornsteine noch gegen die Barockstatuen Einwände erheben wollten: ihre „kritische Ironie“ richtet sich gegen die Menschen auf der Aussichtsterasse, denen die „Nachbarschaft“ beider gleichgültig ist. Das Gleiche hat Stephan ANTONAKOS im Sinn, wenn er sein „Unvollständiges Neonquadrat“ nämlich einen riesigen rechten Winkel aus grellroten Neonröhren, schräg vor das Fridericianum montiert. Mit der Feststellung der geometrischen Gemeinsamkeit soll der Unterschied zwischen dem schrägen Winkel und der Fassade geleugnet werden, so daß die Collage dieses monströsen Winkels mit der Struktur des Hauses, die in Fenstern, Türen usw. viele rechte Winkel enthält, einen Vergleich provoziert, als dessen Resultat einem das Gebäude, „dessen klassizistischer Stil Inbegriff gehobener Baukunst ist“ (Doc), ebenso deplaziert vorzukommen hat wie die Neonröhren. Auch hier, wie bei der Vorführung der bedeutungsvoll gerahmten Landschaft, soll dem Betrachter das selbstverständliche Gefallen an Landschaft oder Gebäude ausgetrieben werden, und das ausgerechnet durch die Konfrontation mit der Häßlichkeit der künstlerischen „Ergänzung irdischer Umwelt“ – ein Kontrast, der den unbefangenen Besucher meist verständnislos die Entfernung des Kunstwerks aus der Landschaft fordern ließ, statt daß er respektvoll die Nichtigkeit seines Gefallens zugegeben hätte. Einfacher, obwohl mit gewöhnlich noch“ größerem Arbeitsaufwand, demonstriert der notorische Bulgarokünstler CHRISTO das Prinzip solcher land art: er verpackt Menschen, Häuser und Felsen, verhängt Täler und zieht Stoffzäune, um dem Betrachter eine Weile einen Anblick vorzuenthalten, den er nach abschließender „Decouvrierung mit neuen Augen erleben“ soll.
Das Verschandeln von Natur und Architektur ist bei weitem nicht das einzige Mittel, daß der modernen Kunst für den Angriff auf das zur Verfügung steht, was sie „Wahrnehmungsgewohnheiten“ nennt. Auf der documenta wurde demonstriert, daß sich auch die gegenständliche Malerei für diese Didaktik eignet. Chuck CLOSE zeigt exemplarisch mit seinem Porträt „Linda“, was der Hyperrealismus gegen den Glauben ausrichtet, daß die Wahrnehmung die Realität wiedergibt. Er fertigt zunächst ein Foto einer Frau an, welches extra starke Schärfenkontraste enthält, „indem er anstelle der üblichen 160-mm-Linse eine 190-mm- Linse verwendet, die verzerrt und Raumdifferenzen betont“ (Doc). Er vergrößert es auf das Riesenformat 273,5 x 212,5 cm, damit die Unschärfen noch besser herauskommen, und malt das Ganze in minuziöser Genauigkeit ab. Das Mißverständnis, daß sein Bild die fotografierte Frau charakterisieren soll, räumt er also dadurch aus, daß er, deutlich sichtbar, ein Foto abmalt (also darauf verzichtet, zum Beispiel durch die Betonung einzelner Gesichtszüge die Individualität der Porträtierten zu veranschaulichen); daß es ihm um die technischen Eigenschaften der Fotografie ginge, widerlegt er, indem er ein Foto abmalt (weswegen es gelogen ist, zu behaupten, es komme ihm auf eine „Demonstration der (!) fotografischen Optik“ (Doc) an, wie einem Lehrbuch der Fotografie). Mit dem Nachpinseln einer trickreich unscharf gemachten Fotografie lenkt er die Aufmerksamkeit auf die technische Unvollkommenheit dieser Reproduktion, um sich zu ihr zu bekennen und das genaue Abbild als „illusionistische Sehgewohnheit“ zu denunzieren. Schön, daß es so viele Möglichkeiten der Wahrnehmung gibt! Der „Nachweis“, daß man nicht realitätsgetreu wahrnehmen könne – im Katalog mit Hinweisen auf die Beschränktheit der Fotografie und des menschlichen Auges kommentiert, welche beide in einem bestimmten Augenblick nur einen bestimmten Punkt anvisieren könnten, was auf die Trivialität hinausläuft, daß man nicht alles zugleich anschauen kann –, scheitert allerdings daran, daß er auf der Wahrnehmung des Unterschieds zwischen den scharf bzw. unscharf wiedergegebenen Partien des Porträts beruht. CLOSE nützt also die Leistungen des Auges und des Hirns aus, um glauben zu machen, daß beide nicht verläßlich seien – keiner soll sich einbilden, was er sieht, sei die Wirklichkeit!
Wie die Erfahrung zeigt, wächst sich dieser Widerspruch in der Praxis zu einem lästigen Hindernis für die solcherart vorgetragene Kritik an der Urteilsfähigkeit des Betrachters aus: Der unbedarfte Ausstellungsbesucher, soweit er nicht selbst schon ein kleiner CLOSE ist, hält nämlich derart stur an seinen „Wahrnehmungsgewohnheiten“ fest, daß er absurderweise die porträtierte Linda betrachtet, die doch nur Material für die Polemik gegen die Zuverlässigkeit der Sinnesorgane vorstellt, und gar nicht darauf kommt, daß Lindas verwischte Halsgegend ihm klarmachen soll, daß er seinen Augen nicht trauen darf. Dagegen hat abstrakte Kunst den Vorteil, daß sie keinen Gegenstand mehr abbildet, der vom Zweck der Bilder ablenken könnte, daß also das Interesse an der Relativierung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit nicht mehr von dem an der Darstellung von bestimmten Gegenständen gestört wird – nur unglücklicherweise mit dem Resultat, daß die leidige „Wahrnehmungsgewohnheit“ urteilt, daß auf dem Bild „gar nichts drauf“ ist. Dabei strengen sich zum Beispiel die monochromen Maler sehr an, um zu zeigen, daß eine einzige Farbe schon auf einem einzigen Bild ganz verschieden aussehen kann. Ein Ulrich ERBEN etwa bemalt eine fast vier Quadratmeter große Leinwand mit brauner Ölfarbe – aber nicht gleichmäßig, darauf kommt's an. Links oben ist die Tönung gelblich, rechts unten rötlich, in der Mitte ist das Braun dunkler als am Rand, und vor allen Dingen zeigt uns ein mit feinem schwarzen Strich gezogenes Rechteck, dessen Seiten parallel zu den Rändern der Leinwand liegen, daß die ineinander übergehenden Schattierungen der Farbfläche auch als scharf abgegrenzte Partien „wahrgenommen“ werden können, auch wenn die schwarze Linie nichts abgrenzt, sondern die Farbe auf beiden Seiten exakt die gleiche ist. Kann da jemand noch behaupten, das Bild sei braun, wenn ERBEN ihm zeigt, daß es viele Schattierungen von Braun gibt? Oder, daß Farbunterschiede die Identifizierung verschiedener Flächen ermöglichen, wenn man doch auch einen Strich mitten durch die gleiche Farbe ziehen kann, und das – eben weil der Strich schwarz ist, also eine andere Farbe hat – auch eine Form ergibt? Die herkömmliche Verwendung künstlerischer Mittel, bei der Farben zur Darstellung eines Gegenstands dienen, wird hier also als unzulässige Festlegung angegriffen; die moderne Kunst setzt malerische Techniken ein, um sie in Frage zu stellen und ihre methodische Polemik gegen die angeblich von der klassischen Kunst ausgebildeten „Sehgewohnheiten“ loszuwerden. Eine Farbe ist nicht eine Farbe, sondern je nachdem, wie man gerade will, null bis unendlich Farben, deren „flächige Körperhaftigkeit neue sinnliche Erfahrungen“ bieten soll. Der Betrachter solcher „Farbraumkörper“ ist somit nicht nur aufgefordert, sich von seiner „abgestumpften Sehweise“ zu distanzieren, die ihm diktieren will, die Bilder seien einfarbig, sondern muß sie als „differenzierte Monochromie“ auf sich wirken lassen, in die er möglichst phantasievoll sinnliche Seinserfahrungen hineinzugeheimnissen hat. Die Lehre, die er aus dieser Meditation zu ziehen hat, lautet nämlich, daß es nur darauf ankommt, wie er die Dinge sehen will, nicht darauf, wie sie tatsächlich aussehen; und wenn die Sinne solcher Lehre widersprechen, sind sie eben untauglich. Und da die eigenen zum Zweck dieser bewußten Spinnerei hergestellten Kunstwerke die Phantasie doch immer wieder beschränken, indem sie den Sinnen konkretes Material bieten, das sich unzweckmäßigerweise als abgemaltes Paßfoto oder braune Leinwand identifizieren läßt, gibt es neuerdings unsichtbare Kunst. Walter DE MARIA bewies mit seinem „vertikalen Erdkilometer“ seine Kompetenz in Fragen der „Durchbrechung der Form, des herkömmlichen Kunstkonsums“ und machte klar, daß ein künstlerisches Gemüt imstande sein muß, auch ohne ästhetische Anschauung der höheren Sinnhaftigkeit der neuen Ästhetik teilhaftig zu werden. „Der senkrechte Erdkilometer soll die Menschen dazu anregen, über die Erde und ihren Ort im Universum nachzudenken.“ (DE MARIA, Doc) Wobei DE MARIA der Vorwurf einer gewissen Rückständigkeit nicht zu ersparen ist – er will nämlich nicht auf die kostspielige und daher vom Banausenvolk heftig kritisierte Realisierung seiner „earth works“ verzichten, während die Brüder von der conceptual art sich von vornherein auf die Anfertigung von Plänen und Skizzen beschränken (mit deren Verkauf sich durchaus gutes Geld machen läßt).
Wer diese Grundrisse verstanden hat und bereit ist zu glauben, daß erstens die „traditionellen Sehweisen“ unbegründet sind, weil man zweitens die Realität nicht objektiv wahrnehmen kann, weswegen es drittens sowieso nicht darauf ankommt, sondern auf das Bekenntnis zur eigenen, subjektiven Weltsicht, dem werden auch die klassischen Werke der abstrakten Malerei zugänglich, auf denen die Übungen über die Irrelevanz der Wahrnehmung beruhen. Dort herrscht die Ungebundenheit der ästhetischen Betrachtungsweise, die abstrakt ist,' weil sie von der koketten Distanzierung von den Tatsachen lebt und originelle Farbzusammenstellungen, Kritzeleien und Schmieragen der Welt als ihre kritische Widerspiegelung vorhält. Altmeister Piet MONDRIAN wußte seine karierten Grundfarbenbilder schon auf die gleiche Weise als Darstellungen mythischer Seinsgesetzlichkeiten vorzuführen, wie es heute seine Epigonen mit millimeterpapierartigen Leinwänden pflegen: ,,Vertikale und Horizontale sind der Ausdruck zweier entgegengesetzter Kräfte; dieses Gleichgewicht von Gegensätzen existiert überall und beherrscht alles.“ (MONDRIAN, in: Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei.) „Malerei ist verstanden als ein der ungeordneten Naturerscheinung entgegengestellter idealer Ordnungsentwurf.“ (Kommentar zu Gerhard MERZ: Ohne Titel. Doc) Die Meinung, diese Künstler hielten die Absurditäten für Wahrheit, die sie mit philosophischem Pathos verbreiten und unter Einsatz modernster technischer Mittel „sinnlich erfahrbar“ machen möchten, stellt eine Verharmlosung, dar. Es kommt ihnen gerade auf den Widerspruch ihrer angeblichen Wiedergabe geheimnisvoller Weltordnungen gegen die sichtbaren Tatsachen an: nicht, daß die Welt kariert sei, lautet ihre Botschaft, sondern, daß jeder das Recht hat, sie für kariert anzusehen, wenn er will (und, wenn er Lust hat, dies auch noch mit einer inneren, idealen oder sonstwie höheren, auf jeden Fall aber verborgenen, also eben nicht sichtbaren Kariertheit zu rechtfertigen). Während MONDRIAN seine Farbkasten-Kompositionen nach dem Goldenen Schnitt strukturierte, bedeckt der fortschrittlichere MERZ seine Leinwand gleichmäßig mit winzigen Kästchen und zeigt damit, worin die Weiterentwicklung der modernen Kunst besteht – darin, alle Bestimmtheit loszuwerden. Heutzutage bezieht man sich methodisch auf den Gegensatz zur gegenständlichen Kunst, in den sich die Altmeister der Moderne begaben, indem sie ihr ihre abstrakten Alternativen gegenüberstellten, und malt Bilder, die die bloße Möglichkeit solcher Alternativen darstellen wollen. Daher geht es nicht mehr nur um die Reduktion des Kunstwerks auf die angeblich reine Schönheit seiner Färb- und Formkombinationen, sondern um eine Vorführung von Form und Farbe, die immer nur das Gleiche erkennen läßt: daß der Maler in Anspruch nimmt, eigenwillig sein zu dürfen und sich weder durch Ästhetik, noch durch die künstlerischen Mittel leiten zu lassen. Die Objektivität ist für solche Leute ein einziger Zwang, dem man durch den Mut zur Irrationalität entgehen muß – weshalb ihre Kunstwerke auch kritisch, emanzipatorisch oder mindestens bewußtseinserweiternd sind. Daß diese Distanzierung von allem, was nicht der eigenen Willkür entspringt, um ihrer selbst willen geübt wird und nicht dazu dient, in der unästhetischen Wirklichkeit praktisch zurechtzukommen, ist offensichtlich, weil sie nicht dazu taugt: als ein weitabgewandter Schizophrener mit emanzipatorischen Visionen durch die Gegend zu laufen, bringt nur dann etwas ein, wenn man dies als künstlerischen Akt exekutiert. Dann heißt es Happening oder Performance, und jede Schweinerei ist gern gesehen. Was der Künstler oder sein performer bei einer solchen Veranstaltung treibt, soll schließlich bewußt davon abstrahieren, daß er ein vernunftbegabtes Individuum ist – weshalb man vorzugsweise nackt posiert, in der „natürlichen, unschuldigen Körperlichkeit“ die den adäquaten Anzug für die hemmungslose Betätigung subjektiver Willkür vorstellen soll. Die pseudowissenschaftliche Präsentation solch systematisch durchgeführten Unsinns leistet dabei gute Dienste für die Mystifizierung der „Performance“ zur rituellen „Erkenntnisleistung“. Helmut SCHOBER z.B. „führt“ ein primitives Messer „in den Mund des Künstlers ein“ und vollführt dann „eine vollständige Umdrehung mit Objekt im Mund“. Der Kommentar der Kenner: „Erreicht wird eine Dialektik zwischen dem Körper, der beseelt ist, und dem anonymen Objekt – eine Konfrontation des Menschen mit dem emotional geladenen, schmerzhaft aggressiven oder zuweilen kühlen und versachlichenden Gerät. ACHILLE BONITO OLIVA definiert Schobers Konstruktionen als »Geräte der Abweichung, die ununterbrochen die Libido verändern und verschieben, vom Subjekt zum Objekt oder vom Objekt zum Subjekt«.“ (Doc) Das Ganze geht natürlich auch mit Farbe und Leinwand. Willem de KOONING hängte auf der documenta eine Schmierage des Titels „ ... dessen Name im Wasser geschrieben stand:“ (!) auf, auf der angeblich das „Malen als sichtbar gemachter Prozeß“ (Doc) festgehalten sein soll. Es besteht aus mehreren Schichten verschiedenfarbiger Pinselwischer, die „den Eindruck des noch Unfertigen erwecken“, weil der Maler so endlos hätte weitermachen können, ohne jemals „fertig“ zu werden – was also ganz offensichtlich der Zweck der Übung nicht war. KOONING malt nicht, um irgendeine Komposition oder gar Darstellung anzufertigen, sondern, um im Malen als absolut sinnloser Tätigkeit zu schwelgen. Sein Bild besteht aus Spuren dieser Tätigkeit, die das vergegenständlichte Bekenntnis zur Freiheit von zweckgerichteter Malerei vorstellen. Seine moralische Feier der Freiheit der Kunst duldet somit auch innerhalb der Kunst keine Zwecksetzung – wer mit einem Plan, einer Vorstellung vom Resultat, malt, ist ja nicht frei!
Man sieht, die moderne Kunst ist so radikal, daß sie sogar gegen jeden praktischen Vorsatz ist. Sie bekämpft unsere heruntergekommene Welt als durch und durch zweckmäßig organisiert und vernünftig und setzt ihr die Kraft des entschlossenen Antiintellektualismus entgegen: man möge sich auf seine transzendentale Phantasie, auf die Möglichkeit schöpferischer Alternativen, besinnen und erkennen, daß man einfach alles nicht so furchtbar ernst zu nehmen braucht, und schon sieht alles viel freundlicher aus. Die Betätigung dieser verrückten Subjektivität hat jedoch nicht im stillen Kämmerlein stattzufinden, sondern öffentlich: es gilt die Freiheit des Unsinns öffentlich zu demonstrieren, also als allgemeine Moral zu propagieren. Dies ist die Freiheit, die die Kunst heute predigt: die Erlaubnis, das Reich der Notwendigkeit zu leugnen. Jedes Kunstwerk auf der documenta ist die sorgfältig modellierte Versicherung, daß es nur auf das Subjekt ankomme, ob es den praktischen, Notwendigkeiten gehorchen muß oder nicht – wird ihm doch in der ästhetischen Betrachtungsweise die abstrakte Negation dieser Notwendigkeiten als individuelle Selbstverwirklichung vorgeführt. Wenn Roy LIECHTENSTEIN Comic strips so weit vergrößert, daß die Raster zu sehen sind, mit deren Hilfe die Bildchen gedruckt werden, und so den großen Durchblick durch das „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ eröffnet, wenn Andy WARHOL mit seiner Serie von „Still Lifes“ den längst überfälligen Nachweis erbringt, daß das kommunistische Emblem Hammer und Sichel aus zwei Werkzeugen besteht, die man durchaus auch anders anordnen kann, – dann stellt sich für den Ästheten die befriedigende Gewißheit ein, daß er im Prinzip über den Dingen steht und sich im Gegensatz zu den banausischen Konsumenten von Comic strips oder denen, die das politische Symbol ernstnehmen, durch die Originalität seiner Konsumhaltung aus der ganzen Sache heraushalten kann. Die radikale Kritik, die die moderne Kunst führt, läuft also auf eine radikale Parteinahme für die Gesellschaft hinaus, die sie angreift. Der oberprogressive Professor BEUYS hat auch in dieser Grundsatzfrage richtungsweisende Aktivitäten in Gang gesetzt: Er gründete eine „Freie Internationale Hochschule für Kreativität und Interdisziplinäre Forschung“, deren Manifest ein schönes Vorbild für die Sorgen ist, die sich ein aufgeschlossener Ästhet heute zu machen hat: „Die Freie Universität, die von einem Künstler gegründet wurde, hat sich aufgrund einer allgemeinen Sorge über den anwachsenden Mißbrauch von Macht, über legalisierte Gewalt und über das Wachstum und die Weiterentwicklung inhumaner Technologien entwickelt. Dazu kommt die Sorge, über totalitäre Techniken die Gesellschaft zu organisieren und dabei grundlegende Menschenrechte zu negieren. Wir klagen das Nichtvorhandensein von kreativem Denken in ökonomischen, politischen und sozialen Bereichen, welche alle betreffen, an. Der spontaneistische Topos, die Ausbeutung als Sozialproblem der unterdrückten Kreativität hinzustellen, dient BEUYS dazu, die Umwandlung eines jeden Bürgers in einen Künstler seines Schlages zu fordern – als ob die mangelnde Rücksicht auf den Einfallsreichtum der Lohnarbeiter an ihrem Elend schuld wäre. In diesem Sinne mit den Möglichkeiten ihrer Kreativität konfrontiert soll sich die Gesellschaft nach BEUYS schämen, daß sie keine „soziale Wärmeplastik“ ist, in der die Negation sämtlicher praktischen Zwecke endlich realisiert ist und der faschistische Traum von der Einheit der Erdenwürmer im allumfassenden „Lebensstrom“ in Erfüllung geht: „Und da kommt schon zum Ausdruck, was mich interessiert hat an den Skulpturen: der allgemeine Wärmecharakter. Ich habe später eine plastische Theorie, wo der Wärmecharakter, die Wärmeskulptur eine große Rolle spielt, ausgebildet, die sich schließlich auf das ganze Soziale ausdehnt, also als politischer Begriff, sogar sich ausdehnen läßt. Und in diesen ganzen Zusammenhängen muß man das sehen mit der Biene. Der Wärmecharakter liegt im Honig ... Und das Oben ist bei der Biene ganz genau der Bienenstock.“ (eine schöpferische Weiterentwicklung der Bienenstaat Theorie von FRISCH!), über die „Honigpumpe am Arbeitsplatz“, (Doc) Wonach natürlich klar ist, daß sich Künstler wie BEUYS nur an die Leute wenden, die es sich leisten können, sich um die Nutzbarmachung ihrer kreativen Überlegenheit über den bornierten Rest der Welt für die Bewältigung der Sozialprobleme des demokratischen Staates zu sorgen. Es sind diejenigen, die von Berufs wegen keine anderen Sorgen haben: Intellektuelle.
Damit erklärt sich erstens, wieso die heutigen ästhetischen Objekte keinem verständlich sind und schon gar keinen überzeugen, der nicht schon die Bereitschaft zur ästhetischen Feier seiner abstrakten Freiheit mitbringt. Ihre Konsumenten haben sich schon in ihrer Eigenschaft als Funktionäre von Staat und Kapital das kritische Einverständnis mit der Gesellschaft angeeignet – kritisch, um bei der Lösung der anstehenden staatlichen Probleme ihren Mann stehen zu können, und Einverständnis sowieso –, das sie sich in der Kunstausstellung noch einmal in verrückter Form vorführen lassen. Sie kommen nicht, um sich agitieren, sondern um sich die eigene Moral, mit der sie recht gut fahren, kokett bestätigen zu lassen: Vernissagen sind bekanntlich eine Domäne der städtischen Schickeria. Und zweitens löst sich das Rätsel, wieso das Ganze eine so langweilige und ungenießbare Angelegenheit ist: es sind „Kunstobjekte“, die nur dazu da sind, an ihnen die immer gleiche Moral wiederzuerkennen, und in denen deswegen sowohl Schönheit wie Wahrheit verpönt sind, im Gegensatz zu der Proletarierkultur, die Arbeitermoral in unterhaltsamer Form unter die Leute bringt. Daß die Massenkultur das Unterhaltungsbedürfnis der Massen befriedigt, gilt der modernen Kunst als fauler Kompromiß mit der schnöden Welt der Zwecke, Sie verachtet die von ihr so genannte U-Kunst, weil sie ihre moralische Lektion unterhaltsam an den Mann bringt und so den in der . Arbeitswelt erlittenen Verschleiß kompensiert. In dem alten Spruch von Schiller: „Ernst ist das Leben, heiter die Kunst“ sieht sie einen Slogan der Borniertheit der Massen: „Der Bürger wünscht sich die Kunst üppig und das Leben asketisch (Mein Gott, sind die Bürger dumm!); umgekehrt wäre es besser.“ (ADORNO) Der modernen Kunst ist die Moral also eine viel zu heilige Sache, als daß man sie für einen so profanen Zweck wie die Kompensation für das alltägliche Kaputtsein verwenden dürfte. In diesem Sinne wirft ein Apologet der modernen Kunst dem „Typus des Unterhaltungshörers“ vor, daß er nicht in seiner moralischen Existenz aufgeht: „Wer Kunstwerke konkretistisch genießt, ist ein Banause; Worte wie Ohrenschmaus überführen ihn ... Tatsächlich werden Kunstwerke desto weniger genossen, je mehr einer davon versteht.“ (ADORNO: Ästhetische Theorie) Deshalb ist die moderne Kunst nicht nur ungenießbar, sondern ein Genuß eigener Art für Leute, denen die negative Freiheit des bürgerlichen Individuums ein Grund zum Feiern ist. Wer sich den Konsum versüßt, indem er ihn durch die Selbstbesinnung gegen sich als „Konsument“ ergänzt, wer „neue Erfahrungen“ von den „Möglichkeiten, die in ihm und der Gesellschaft sind“, genießt, der hat ein Bedürfnis, dessen einziger Inhalt die Abstraktion von Bedürfnissen ist. Es ist das gemeine Bedürfnis nach Angriff auf alle Bedürfnisse. Wahrend das Unterhaltungsbedürfnis alle besonderen Weisen der Betätigung von Individualität dem ihnen ganz äußeren Zweck der Kompensation für den Verschleiß der Arbeitskraft aufopfert, opfert die moderne Kunst die Kompensation der moralischen Erbauung, weil diejenigen, die sie genießen, sich ihre Kompensation anderswo holen können. Diese Sphäre des höheren Blödsinns propagiert die Staatsbürgerweisheit, daß man alles tun und treiben kann, was keinem anderen schadet, in der verrückten Form, daß man alles tun und treiben kann, was kein Bedürfnis befriedigt. Die Freiheit des modernen Staatsbürgers ist der modernen Kunst so lieb und teuer, daß sie keinen anderen Zweck duldet. Sie ist bei ihrer Feier der abstrakten Freiheit des Staatsbürgers so konsequent, daß sie das Geheimnis der bürgerlichen Freiheit ausplaudert: ihre Gegnerschaft gegen die Bedürfnisbefriedigung. Daß die moderne Kunst irgend etwas gegen Entfremdung hat, ist also ein Gerücht, das von Leuten in die Welt gesetzt wird, die – wie die moderne Kunst – Materialismus mit Entfremdung gleichsetzen, weil sie die bürgerliche Freiheit für die Verwirklichung des menschlichen Grundbedürfnisses überhaupt halten. Daß die freie Betätigung der Individualität heutzutage nur als Spinnerei vorkommt, bestätigt die Wahrheit des Satzes vom alten Marx, daß der Ausgangspunkt der bürgerlichen Gesellschaft eben nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist.
Die Verrenkungen, in denen heutige Künstler eine „... -Art“ nach der anderen hervorbringen,, sind die immergleiche fanatische Anstrengung, in Gestalt von eigens für die Sinne produzierten „Objekten“ der Welt den Sinn fürs Höhere, „die bloßen Fakten Transzendierende“ beizubringen. Die „Objekte“ in denen die Künstler die Moral der freudigen Distanzierung von den banalen Alltäglichkeiten inkarniert haben, halten sie polemisch der Welt als ihr Spiegelbild entgegen – was nur bei denjenigen auf Gegenliebe stößt, die die Verwandlung der Wirklichkeit in die souverän-distanzierte Einstellung zu ihr längst als die Verwirklichung ihres Selbst praktizieren. Künstler sind daher stets mit ihren Produkten unzufrieden und verfassen Kommentare zu ihren Bildern, in denen sie versichern, daß sie wirklich nichts anderes tun als der Welt einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie wohl oder übel nur sich selbst wiedererkennen kann. In dieser schönen Anwendung der Widerspiegelungstheorie propagieren sie als den Vorzug der Kunst ausgerechnet, daß es sich dabei keineswegs um das Resultat subjektiver Tätigkeit handle: „Im obersten Kreis beginnt das Geheimnisvolle und der Intellekt erlischt kläglich. Meine Hand ist ganz Werkzeug einer ferneren Sphäre. Mein Kopf ist es auch nicht, was da funktioniert, sondern etwas anderes, ein höheres, ferneres Irgendwo. Ich muß da große Freude haben (Hallo Partner!), helle, aber auch dunkle. Das ist gleich, ich finde sie alle von großer Güte. Diesseits bin ich gar nicht faßbar (!?) ... Wir haben noch nicht die letzte Kraft, denn: uns trägt kein Volk.“ (Paul KLEE) „Der Grund dafür, daß ich so male, ist der: Ich möchte eine Maschine sein. Ich meine, es wäre fabelhaft, wenn alle Menschen gleich wären.“ (Andy WARHOL) Während der Hersteller raffinierter Kinderzeichnungen die Feier der eigenen Partikularität damit rechtfertigt, daß er sie zum Walten eines höheren Genius verklärt, schenkt sich der moderne Abstrakte, der Konservendosen vergrössert, gleich jeden Beitrag zum Thema „Kunst und Wahrheit“. Statt sich wortgewaltig als praktizierenden Philosoph des Seins vorzuführen, das seinen unergründlichen Sinn durch ihn exekutiert, kultiviert der Ami die Kunst, sich ein Maschinengesicht aufzusetzen. Der Fortschritt, von dem die Künstler mit ihren Versicherungen, sie seien gar nicht am Werk gewesen, Zeugnis ablegen, besteht also lediglich darin, daß heutigentags der Weltgeist „out“ und die Lüge vom Maschinenzeitalter, das den Menschen in den Klauen hat, „in“ ist, weshalb ein modernes Atelier „factory“ heißt. Daß sie einer geheimnisvollen Notwendigkeit, einem „inneren Diktat“ ausgeliefert seien, behaupten alle modernen Künstler. Sie setzen daher alles daran, durch die Tragik ihres Lebensschicksals eine Demo zu inszenieren – weshalb jede Interpretation van Goghs mit seinem abgeschnittenen Ohr und dem Thema „Genie und Wahnsinn“ beginnt –, die dem Beweis dient, wie rücksichtslos gegen sich selbst Künstler ihrer „inneren Berufung“ folgen. So hätten sie eigentlich mehr Verständnis von Seiten der Kunstbanausen verdient: das Volk soll sie tragen oder sich, modern radikaldemokratisch, ihnen gleichmachen. Die Künstler, die „Werkzeuge“ oder „Maschinen“ sein wollen, haben also gar nicht auf einen bekannten Frankfurter modernen Ideologen der Kunst gewartet, um auf ihre Weise zu entdecken, daß die Demonstration ihrer Partikular! - tät dem Erfolg dieser moralischen Propaganda andererseits auch im Wege steht. Besagtem Ästhetiker gefällt an der Kunst, daß sie „das herrschende Prinzip der Realität herausfordert“, die bekanntlich deshalb so ungemütlich ist, weil die Leute in ihr praktische Zwecke verfolgen: „Ist in der Realität alles fungibel geworden, so streckt dem Alles für ein Anderes die Kunst Bilder dessen entgegen, was es selber wäre, emanzipiert von den Schemata auferlegter Identifikation.“ Kunst sei „tendenzielle Kritik der naturbeherrschenden ratio“ (ADORNO, Ästhetische Theorie), weshalb er selbst der modernen Kunst den harten Vorwurf nicht ersparen kann, noch nicht konsequent genug Moral zu sein. Schließlich ist die künstlerische Form, an der dem Frankfurter Soziologen „ihr Sprachähnliches“ gefällt, trotz aller gegenteiligen Versicherungen der Künstler selbst wieder Resultat „zweckmäßiger Anstrengungen, weshalb der Philosoph sie keineswegs freisprechen kann: „ ... künstlerische Arbeit des Formens, die immer auch auswählt, wegschneidet, verzichtet: keine Form ohne Refus. Darin verlängert sich das schuldhaft Herrschende in die Kunstwerke hinein; Form ist ihre Amoralität.“
Diese Unverschämtheit, mit der der Philosoph sein gemeines Interesse an der Kunst zusammenfaßt – schwarze Bilder schätzt er deshalb am meisten – brauchen Künstler keinesfalls als Vorwurf auf sich sitzen lassen: Schließlich versicherten schon die Altmeister der Moderne mit ihrer Verherrlichung von Kindern, Schizophrenen und Negern – die ihrerseits wieder einige Arts und Ismen hervorgebracht hat – daß sie sich die „ungetrübte Fähigkeit, ... jedes Ding mit ungewohnten Augen“ anzuschauen und sich ganz unzweckmäßig zu verhalten, zum Vorbild genommen und daher durch und durch „moralische Flächen“ (KANDINSKY, Über das Geistige in der Kunst) gemalt haben. Ein moderner Kunstdemokrat hat freilich die Berufung auf den angeblichen Irrationalismus von Untermenschen gar nicht mehr nötig. Heute lenkt nämlich der Pinsel die Hand: „Die Art der Bewegung wird teilweise durch meinen anfänglichen Willen bestimmt, mehr aber durch die verwendeten Mittel: Pinsel ...“ (Carmengloria MORALES (?!), Doc) Da es den Künstlern mit ihren Bekundungen, sich nicht ins Spiel gebracht zu haben, darum geht, die Moral ihrer Werke als die der Welt zu beweisen, haben sie auch eigenartige Probleme mit dem Gelingen: „Wenn ein Bild gelingt, bekommt es Dingcharakter, wird eine Tatsache für sich.“ (ERBEN, Doc) Die naive Frage, ob ein mißlungenes Bild etwa kein Ding sei, ist hier gänzlich unangebracht; dem Monochrommaler geht es vielmehr darum, mit der Abstraktion der „Tatsache“ jeden Unterschied „gelungener Werke“ zu anderen „Tatsachen", mithin die Abgetrenntheit der Kunst vom Ernst des Lebens, zu leugnen: moderne Kunstwerke heißen daher „Objekte“, um zu bezeichnen, daß mit ihnen Tatsachen in die Welt gesetzt worden sind, und um damit die Anwendung der Künstlermoral auf alles zur Selbstverständlichkeit zu deklarieren. Thema dieser Sorte von Äußerungen ist also die interessante Frage, ob die Kunst Leben oder vielleicht das Leben Kunst oder vielleicht beides alles oder gar nichts sei – weswegen die Kunst auch nicht ins Museum gehört, sondern ins alltägliche Leben –, die der Ami, der eine Maschine sein will, längst unmißverständlich mit „all is pretty" beantwortet hat.
Schließlich tilgen Künstler, die auf der Höhe der angeblich wissenschaftsgläubigen Zeit sein wollen, den Gegensatz ihrer moralischen Urteile zum Augenschein durch die weitere faustdicke Lüge, in ihrem Antiintellektualismus wären sie eigentlich Wissenschaftler. Ihre Werke heißen daher „Opalka 1965/1 ∞ Detail 2074917–2094292“ oder auch schlicht „Alu 11“, wenn sie nicht gleich der „Stilrichtung“ der „subjektiven Wissenschaft“ angehören, die unsystematische Gesteinssammlungen anlegt. Ein Hersteller grünlichbraunschillernder Flächen verkündet, er habe es sich „zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, was Malerei eigentlich ist“ (Doc) – offensichtlich ein grünbraunes Geheimnis – und bewährt sich so als genuiner Verwandter der Philosophen. Die Fotorealisten sind da viel bescheidener und nehmen für sich nur die Leistungen eines Fotolehrbuchs in Anspruch, über Tiefenschärfeprobleme aufzuklären, was freilich ohne einen falschen Gegensatz nicht abgeht: „Meine Gesichter haben mit der Art zu tun, wie die Kamera sieht – und das im Gegensatz zur Sehweise des Auges.“ Chuck CLOSE, Doc) Und die Action-Schmierer wollen immerhin „Prozesse sichtbar machen“, die sonst leider der Menschheit verborgen geblieben wären.
Die den höheren Blödsinn der bürgerlichen Gesellschaft exekutieren, bleiben also auch in den erklärenden Kommentaren, die sie ihm nachliefern, ihrer Berufung treu. Da sie sich als unverstandene Genies aufführen und es selber verstehen, ihren interessierten Lügen die Form des falschen Arguments zu geben, haben sich museumsdidaktische Helfer ihres Anliegens angenommen: Die Besucherschule der documenta „hat strikt von dem Anspruch des Ausstellungspublikums auszugehen, die Vielfalt der Ausstellungsobjekte unter einem einheitlichen Gesichtspunkt verstehen zu können“, (Doc) was aber bei der langweiligen Vielfalt von Varianten ein und derselben abstrakten Moral nicht schwerfallen dürfte. Da es hier aber gar nicht um eine Erklärung der heutigen Kunstscheiße geht, sondern um die Propaganda der universellen Anwendung ihres Prinzips, machen die documenta-Macher aus der modernsten aller Künstlerlügen gleich ein Ausstellungsprinzip und veranstalten eine „Mediendocumenta“, die in den Spinnereien der Künstler den „Geist der Aufklärung“ – nämlich über Medien – walten gesehen haben will (die vorletzte documenta hatte es dagegen mehr auf den Beweis abgesehen, daß insbesondere der Gartenzwerg und überhaupt das Leben Kunst sei): Erstens erfährt der Teilnehmer der Besucherschule, daß er anzuerkennen hat, daß alle ausgestellten Objekte unter dem „einheitlichen Gesichtspunkt“ zu verstehen sind, daß sich hier Künstler „über Gegebenheiten ihrer Tätigkeit Klarheit zu verschaffen“ suchen, was ihn aber zweitens nicht zu der Frage verleiten darf, warum er etwas lernen soll, „was man anscheinend (!) gebrauchen kann, wenn man seinerseits künstlerisch zu arbeiten beabsichtigt.“ (Doc) Der Schein ist trügerisch, da es ja auch in der Kunst nicht um diese, sondern um „Gedankenstrukturen“ geht, was eine schöne Umschreibung für moralische Vorschriften zur Selbstrelativierung als Verwirklichung individueller Freiheit ist: „Das Publikum muß langsam bereit werden zu akzeptieren, daß von ihm selbst ähnlich tätige Hervorbringungen von Aussagen gefordert sind, wie sie die Aussagen der Künstler darstellen. Das heißt nicht, daß das Publikum nun etwa auch zu malen oder zu bauen hätte wie die Künstler; nicht äußerliche Ähnlichkeit der Hervorbringung von Publikum und Künstlern ist gefordert, sondern Entsprechungen in der Struktur der Gedankenführung, in der Verbindlichkeit eingeführter Spielregeln, im Zwang zur Äußerung ...“ (Doc)
Wer es mit der Kunst auf sein Vergnügen abgesehen hat und deshalb von unsichtbarer Kunst sich verarscht fühlt (bei Kasseler Banausen hielt sich hartnäckig das Gerücht, der Aufzug zur unterirdischen Besichtigung des Bohrloches wäre noch im Bau) wird beschimpft, sich nicht wie ein „guter Gast“, sondern wie der sprichwörtliche Bauer aufzuführen, der „nur frißt, was er kennt“. Die Kartoffeln entstehen nämlich erst beim Fressen: „Dazu muß man zunächst einmal sich von der Alltagsmeinung befreien, die Bedeutungen, nach denen man angesichts der Objekte fragt, lägen in den Objekten selber, und man habe sie nur gehörig herauszuholen wie den Keks aus der Schachtel. Objekte, selbst wenn es sich um Leonardos Gemälde mit der Darstellung der »Mona Lisa« handelt“ (vor der Bürger wegen ihres „Unergründlichen“ Schlange stehen), „sind nichts weiter als totes Material...“ (Doc) Der auf sein idealistisches Prinzip reduzierte Fehler der Rezeptionsästhetik, die die Kunstwerke sich aus ihrer Rezeption heraus „konstituieren“ läßt, kommt den Museumsleuten gerade recht, um dem unwilligen Publikum sein Unvermögen zu derlei Wundertaten um die Ohren zu hauen. Für schlichtere Gemüter ist allerdings der Hinweis schon eher einleuchtend, daß große Kunstwerke immer schon unsichtbar waren: Weil man nämlich auch die „geometrischen Figuren“ des Kasseler Schloßparks beim Spazierengehen nicht alle auf einmal wahrnehmen kann, muß man „diese Gestalten erst in der Vorstellung erschaffen (!) ... Damals (genauer in »zwei europäischen Kulturjahrhunderten«) wäre kein Mensch darauf verfallen, diese Künstler für Verrückte zu erklären ...“ (Doc) Und überhaupt soll das banausische Erdenwürmchen lieber in sich gehen und aus gotischen Kathedralen, die es doch sicher schätzt, eine falsche Lehre ziehen: „Weiß denn Frau Leimbach, wen die Maria möglicherweise als nichtmenschlichen Adressaten vorgesehen hat?“ Bei derartigen Verweisen auf die künstlerische Tradition geht es also darum, diese für die Propaganda der heutigen Kunstscheiße zu vereinnahmen. Daher werden heute auch die Gemälde eines Rembrandt trotz ihrer nachgedunkelten Firnisse nicht restauriert. Man hält ihm vielmehr zugute, bei ihm sei die „Form“ besonders „geistig“, da „nur Zeichen, schattenhaft aus dem Dunkel auftauchend und wieder in ihm versinkend.“ (Meyer, Europ. Kunstgeschichte). Er habe sich also um leider noch unvollkommene Vorformen der „schwarzen Bilder“ verdient gemacht. Wie wäre es mit einem Säureattentat?
Alle Lügen über die Kunst, die der Agitation des Publikums für ihre schöne „Botschaft“ dienen, kommen nochmal bei den Profis der bürgerlichen Öffentlichkeit vor – die ihrer Berufsbezeichnung alle Ehre machen –, hier allerdings ergänzt um die Sorge, ob sie auch glaubhaft vorgebracht werden. Das Geschäft der Kunstkritiker besteht darin, am Resultat der moralischen Propaganda, die sich in der Kunstszene abspielt, vom Standpunkt ihrer Effizienz aus wohlwollend herumzunörgeln und sich als die besseren Künstler aufzuführen, weshalb Feuilletons gelegentlich absurden Sprachkunstwerken ähneln. Wo die Kunst vom Standpunkt des Staates aus beurteilt wird, streiten sich in Gestalt ihrer Kritiker die Parteien. Während der progressive Intellektuelle den Fotorealisten zugute hält, daß sie die Frage „was soll das?“ angeblich nicht beantworten und daher als seine Interpretation die Antwort, die die Künstler längst praktisch gegeben haben, wiederholt – „Diese realistischen Werke waschen uns die Augen aus; sie lehren uns unsere Umwelt wieder sehen ...“ (Stern) – (bekanntlich laufen wir meist ungewaschenen Auges blind durch die Umwelt) – wendet die FAZ einen anderen Kunstwissenschaftler an, den seit langem der „Verlust der Mitte“ quält: „Wie sind doch die Autos aus dem Ei gepellt und wie elegant die Spiegelung rechts unten. Das ist alles nach den besten Doktrinen gemalt, Pedanterie ersetzt Genie ... Sie malen einige Seiten aus dem Lexikon der Realität ab; sie ästhetisieren das Faktische, statt es zu interpretieren.“ (FAZ, 8.7.1972) „... der Trend geht offensichtlich auf ein nichtinterpretierbares geistig funktionsloses Faksimile.“ (FAZ, 19.2.1972) Die Konservativen entdecken also an der negativen Freiheit der Modernen den von Sedlmayr als „Krankheit“ diagnostizierten „Zustand der Zeit“, der den Künstlern erlaubt, sich als "geistiger Nährboden“ zu betätigen, statt das Reich der Freiheit unmißverständlich und unmittelbar für die Feier des Staatsbürgers in die Pflicht zu nehmen. Die Künstler sollen doch mehr „interpretieren“, statt ,,zu akzeptieren“, das heißt sich in Form eines positiven Menschenbildes zum Staat bekennen: „Wo man aber soweit ist, da gibt es die Möglichkeit einer gegenmenschlichen und im Extrem einer diabolischen (Pfui Teufel!) oder nihilistischen Kunst ... Diese außermenschliche Kunst hat eine gefährliche Faszination für die Geister unserer Zeit.“ (Sedlmayr, Verlust der Mitte) Was alle Kritiker so oder so quält, ist die Sorge, ob die Leute denn auch merken, was ihnen die Kunst „eigentlich“ zu sagen hat. Jeder ihrer in Form von Kunstkritik vorgetragenen Verbesserungsvorschläge mündet deshalb in die Forderung, die Erziehung zur Kunst zu perfektionieren, was offensichtlich mit der Ausbildung der Sinne zwecks Kunstgenuß nur negativ zu tun hat.
Der Unterschied der Kunsterziehung zur Besucherschule der documenta liegt darin, daß der Schule keiner auskommt. Hier lernt der angehende Intellektuelle in Kinderjahren, daß das Schöne an der Kunst darin besteht, daß man viele freie Meinungen über sie haben kann, weshalb man sie alle als relativierte anerkennen und „Konflikttoleranz" üben muß: „überlegt doch mal: Wie lächelt Mona Lisa? Süß – bitter – weich – bissig – aufmerksam – sicher – ironisch – still – verschlossen ... frech? Vielleicht findet Ihr noch mehr? Und: Seid Ihr alle einer Meinung gewesen?" (Schülerarbeitsbogen aus: Kunst und Unterricht Nr. 34/1975) Gemalt wird freilich auch noch, da die Auflösung der Kunst in die Meinungen über sie wunderbare „Handlungsfelder erschließt", in welchen „die jeweilige gesellschaftliche Bedingtheit der Rezeption von Kunst für den Schüler in seiner (!) eigenen Rezeption erfahrbar (!) gemacht werden“ kann. Das Mona-Lisa-Poster, das neben einer saumäßigen Reproduktion des Originalbilds die Lisa mit Schnurrbärten etc. versehen zeigt, enthält auch Abbildungen, wo das Gesicht etc. zum Weitermalen freigelassen ist. Neben diesem „offenen Medium“ die Gebrauchsanweisung: „Im Museum bleibt einem nichts anderes übrig als stumme Bewunderung, angucken, nicht anfassen! (Schon wieder ein Säureattentäter?) Deshalb haben wir die Mona Lisa aufs Poster geholt ... Einer hat ihr einen Schnurrbart gemalt, der andere machte aus der Mona Lisa eine Katze. Wenn du dem Bundeskanzler in der Illustrierten einen Hut aufsetzt (Lustig!) oder eine Feder an seine Mütze steckst, ist das nichts anderes ... Bei derartigen Malereien ist das praktische Bekenntnis zur eigenen Stellung zur Welt als mögliche Alternative verlangt: es geht darum, „individuelle Kontexte an das Bild heranzutragen“ und gefälligst zu merken, daß andere „andere Kontexte mitbringen", welche „zum Nachdenken anregen“. Letzteres hat daher nur ein „mögliches“ Ergebnis. Da das Bild also als gleichgültiges Material für die Propaganda der Akademikermoral fungiert (ob die den Kleinen nicht vielleicht doch noch zu hoch ist?), fängt die mit Hilfe der Studentenbewegung reformierte Kunsterziehung meist gleich erst gar nicht mit der Kunst, sondern mit „Lebenssituationen“ an und läßt aus Werbeanzeigen die abstrakte Distanzierung davon zusammenpappen. Wobei es darauf ankommt, die angeblich „heile Welt“ der Werbung durch möglichst originelle Kombinationen mit Versatzstücken aus dem „Ernst des Lebens“ zu „entlarven" Zum Ausgleich müssen die Kleinen gelegentlich auch sinnlos schmieren, was „freies Thema“ heißt und auch im Zeugnis vorkommt. Mit derartigen „Schritten zur Sensibilisierung gegenüber der optischen Umwelt“ praktizieren moderne Kunsterzieher das Ideal der Kreativität, die darin besteht, nichts als das zu nehmen, was es ist, sondern sich als moralisch gefestigter Mensch von den verführerischen Sinnesreizen der simplen Weit nicht entfremden zu lassen: „Kreative Individuen bevorzugen Komplexität ... sind in ihrer Psychodynamik differenzierter und komplexer ... unabhängiger in ihrem Urteil.“ (Daucher/Seitz: Didaktik der bildenden Kunst) Wer erst genügend „komplex“ geworden ist und seine Urteile über die Welt von dieser „unabhängig“ gemacht hat, dem wird es in den höheren Klassen mühelos gelingen, mittels „Verfremdung“ „die stark emotionalisierte und manchmal nur affektive Beschäftigung mit dem Thema Auto zu versachlichen“ und am „Prestige- und Kultobjekt“ Auto „Vorschläge zu dessen Entzauberung mittels ästhetischer Praxis“ (Kunst und Unterricht Nr. 45/1977) vorzuführen. Den ersten Preis bekommt ein aus Ton gebautes grasfressendes Auto, das sich vermittels seines zähnefletschend aufgerissenen Motorraumdeckels zweifellos stark „entzaubert“.
In der theoretischen Agitation, die dieser „bildnerischen Praxis“ in „ausgewogenem Verhältnis“ parallelläuft, kommen alle Sauereien der Besucherschule „altersstufenspezifisch“ vor. Ein progressiver Kunsterzieher „gewinnt“ dabei aus der hauptsächlichen Verwendung von Kunstabbildungen die für die Propaganda der Kunst als exemplarisches Seinsrätsel „didaktisch wertvolle Fragestellung", ob man anhand eines Kunstdias denn nun über ein Kunstwerk oder nur über ein Dia labere – und das im „Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Die in Bayern betriebene „Aufwertung des Faches“ radikalisiert die Auflösung der Kunst in falsche erkenntnistheoretische Fragestellungen gleich so, daß die Kunst darin gar nicht mehr vorkommt: In einem „Kunst-Leistungskurs“ heißt das Thema „Wahrnehmung“ wobei mit Hilfe der Gestaltpsychologie der Beweis geführt wird, daß die Welt eine Wahrnehmungstäuschung ist – und das Lernziel „allgemeine Studierfähigkeit“. Hier ist die traditionelle Funktion der Kunsterziehung, den schulischen Streß zu kompensieren, restlos zugunsten einer Ergänzung des Deutsch- und Sozialkundeunterrichts eliminiert. Der falsche Vorwurf der Studentenbewegung, im Kunstunterricht würde „bloß unverbindliche Kompensation ohne gesellschaftliche Relevanz" betrieben, ist also heute für die höheren Ränge der schulischen Hierarchie gänzlich hinfällig geworden. Daß die Neuerer in der Volksschule mit der Politisierung des Kunstunterrichts weniger erfolgreich waren, zeigt, daß zukünftige Proleten mit dem Basteln von Strohsternen für den Weihnachtsbaum und sonstigem nützlichen Zierat, bei dem ein Gymnasiumslehrer heute ein schlechtes Gewissen hat, genau richtig liegen. Von wem nicht engagiert-kritisches Parteigängertum für den Staat, sondern der Wille, sich schlicht in der eigenen Scheiße zu bewähren, verlangt ist, der darf sich manche schöne Kompensationen leisten. Was also auch eine ungemütliche Sache ist: Der Volksschul-Kunstlehrer klopft den Opfern der schulischen Selektion beim Malen auf die Schulter, weil sie so schön demonstrieren, daß sie den Typus der „praktischen Intelligenz" verkörpern – die sich auch im realitätsnäheren Werkunterricht betätigen darf –, und folglich am Fließband genau den Platz finden, der ihre Individualität am besten verwirklicht. In der Volksschule kann man daher wegen Kunst nicht durchfallen.
Der Staat läßt sein feines Gespür für Sinn und Zweck der modernen Kunst walten, wenn er sie in der Ausbildung nur seiner künftigen Elite verordnet. Daß Politiker zweckentfremdete Badewannen zweckentfremden, heißt eben noch lange nicht, daß sie nicht wüßten, was sie an der modernen Kunst haben. Schließlich gewährt das Grundgesetz nicht ohne Grund die Freiheit der Kunst als Grundrecht. Daß die Kunst nicht um der Kunst willen frei ist, verdeutlicht Kanzler Schmidt mit der Legende, die Kunst sei deshalb eine so schwierige Angelegenheit, weil man in ihr tun und lassen kann, was man will: „Wir bejahen die volle, grenzenlose Autonomie der Kunst – auch wenn das neuartige Probleme bringt, auch wenn die Kunst, autonom geworden, Schwierigkeiten mit sich selbst hat. In dem Maße, wie die Kunst nicht mehr eingebunden ist in einen Auftrag, mag sie mit sich selbst zerfallen sein. ...
Sein Flirt mit der Gängelung der Kunst bleibt deshalb ein Flirt, weil die Kunst aus freien Stücken den „Auftrag“ erfüllt, den der Kanzler ihr zugedacht hat und der „die neuartigen Probleme bringt.“ „Künstler müssen die Menschen bewußter machen für die Möglichkeiten, die in ihnen und der Gesellschaft sind.“ Daß diese „Bewußtseinsschärfung“ nur für Leute da ist, die bereits ein scharfes Bewußtsein haben, reibt der Kanzler den Künstlern höflich als Zukunftsbild unter die Nase: „Dann mag Kunst heute zu einer Angelegenheit von Kennern und Liebhabern werden, während sich in der Öffentlichkeit das Bild eines Künstlers festsetzt, der in chaotischen Verhältnissen lebt und arbeitet, verrückte Ideen hat und Unverständliches macht, das man entweder verlacht oder bewundert.“ Dies ist keine Drohung, die moderne Kunst nicht weiter zu fördern. Der Kanzler weiß im Gegenteil, daß die moderne Kunst dem modernen Staat als „Angelegenheit von Kennern und Liebhabern“ nützt, was er unnachahmlich auf den Begriff bring: „Die moderne Kunst ist kein überflüssiger Luxus.“ Sie erfüllt also ihre soziale Funktion, indem sie das durchaus luxuriöse Geschäft betreibt, Leute für die demokratische Freiheit zu sensibilisieren, die sich ihr schon mit Haut und Haaren verschrieben haben. Weshalb der Kanzler auch nicht lügt, wenn er den Staat als Voraussetzung der Integrität des modernen Künstlers feiert: „Ich habe keinen Zweifel, daß nicht nur der Staat die Kunst braucht, sondern auch die Kunst den Staat braucht. Der Künstler braucht den Politiker als Garanten seiner Freiheit, als jemanden, der ihm die Grundlage für seine Integrität schaffen und erhalten muß“.
Weil die moderne Kunst als „Lehrmeister in der Kunst der Freiheit“ die in ihrem maßvollen Gebrauch besteht, eine für die Demokratie nützliche Nebensache ist, behandelt der Staat sie auch dementsprechend. Er denkt nicht daran, die Heuchelei des Bundespräsidenten zu verwirklichen, derzufolge um der Demokratie willen die Kunst der „Lehrmeister in der Kunst der Freiheit“ für alle Bürger sein soll. Die Mehrheit seiner Bürger verschont er von den „Objekten“ modernen Kulturschaffens und läßt sich davon auch nicht durch die Mahnungen der Kulturapostel in den Nachtstunden 3. Fernsehprogramme abhalten. Da diejenigen seiner Bürger, die die moderne Kunst als „Lehrmeister“ genießen, diesen Unterricht aus ihrer eigenen Tasche finanzieren, langt der Staat nur zu Repräsentationszwecken in seine eigene. So leistet sich der Staat ein paar Prozent Kunst am Bau und finanziert Kunsthallen, wenn er in der Hochkonjunktur eine üppige Selbstdarstellung als Kulturnation wünscht, und entläßt die Künstler aus ihren Verträgen, wenn sie in der Krise asketisch ausfallen soll. Auf den freien Markt verwiesen, neigen die Künstler dazu, ihre „Masche“ zu pflegen. Und weil sie angeblich ihre Freiheits-Botschaft unglaubwürdig vertreten, wenn sie bei großer Nachfrage nicht ihre Distanzierung vom freien Markt zur Schau stellen, sondern ihr Angebot erhöhen, schreibt der Bundespräsident ihnen ins Stammbuch, sie sollten lieber arm und Künstler bleiben: „Die Künstler warnte Scheel, sich nicht von modischen Richtungen oder Marktchancen bestimmen zu lassen. Ein Künstler könne nur dann ein Beispiel wahrer Freiheit geben, wenn er seinem eigenen Gesetz folge.“ Wer sich an die staatlichen Gesetze hält und in ihrem Rahmen die Freiheit der „offenen Gesellschaft“ feiert, hat während seines Erdendaseins die Chance (oh du schöne Freiheit!), seine Werke an private Sammler, Galerien, staatliche Museen, Banken und andere Kapitalgesellschaften zu verkaufen, wobei letztere in ihren Foyers und Privatmuseen vor allem junge Künstler ausstellen. So demonstrieren sie ihre finanzielle Bonität und Kreditwürdigkeit und ihre progressive Gemeinnützigkeit mit den ideellen und wenig gemeinnützigen Werten der Kunst. Nach seinem Ableben eröffnet sich dem Künstler gar die Möglichkeit, zum Spekulations-Objekt von Kunst-Investment-Gesellschaften zu werden. Einem echten modernen Künstler macht der mangelnde Nutzen im Diesseits jedoch nichts aus, er ist ihm vielmehr Ansporn zu neuer Verherrlichung des immateriellen Nutzens der Freiheit. Zumal ihn das Beispiel der als Modekünstler geschmähten Kollegen lehrt, daß sich dieser bei geschicktem Erspähen einer Marktlücke aufs Angenehmste materialisieren läßt.
Sie verharmlosen die moderne Kunst zum Bluff, weil sie sie als Alternative zum harten Einsatz des Lohnarbeiterdaseins bewundernd verdammen. Weil der kleine Mann seine Knochen hinhalten muß, um zu leben, stellt er sich gern vor, auch er könne von so etwas wie der modernen Kunst leben, und widerlegt dies gleich damit, daß er die Alternative als Betrug kennzeichnet.
Praktisch wird sie nur in gar nicht massenhaften Aktionen wie der Zerstörung des „Nürnberger Fingers“ oder der Behinderung der Arbeiten am „Loch von Kassel", die die eingefleischten Antifaschisten vom „Roten Morgen“ als „immer größere Empörung vieler Werktätiger“ feiern. Die Antifaschisten, die am anderen Ufer des Ussuri ihre politische Heimat haben, haben es nicht nötig, moderne Kunstwerke zu zerstören, sie verfügen über „ein echtes (!) Gegenkunstwerk: ein »vertikaler Luftkilometer« (im Gegensatz zum »Erdkilometer«) von der SDAJ mit dem Hinweis aufgestellt, daß dieses Kunstwerk eine Einsparung von 750 000 DM bedeute und damit fehlende Lehrstellen in Kassel eingerichtet werden könnten. Mit diesem Gegenkunstwerk wurde einleuchtend (?) die gesamte Konzeption der documenta im Sinne von »des Kaisers neue Kleider« entlarvt und damit zugleich ein wirkliches (!) Politikum in die Diskussion gebracht: Wie werden in unserem Land Steuergelder verbraucht und in wessen Interesse?“ Womit auch klar ist, daß in Kassel nur deshalb noch Lehrstellen fehlen, weil der Kasseler Bürgermeister nicht der Devise folgt: „Bei der Bildung beginnt eine an den arbeitenden Menschen orientierte Kultur.“ So führt der MSB Spartakus alle Argumente des redlichen Staatsbürgers von der Irrationalität über den Bluff bis zu den vergeudeten Steuergeldern an, weil er sich eine andere „gesellschaftliche Funktion“ der Kunst und daher auch eine andere Kunst wünscht. Damit die moderne Kunst nicht weiterhin ihr Unwesen treibt und ohne Inhalt verdummend wirkt: „Bilder, die uns nichts zu sagen haben, außer daß sie eine bestimmte Funktion in dieser Gesellschaft erfüllen.“ „So ist die diesem Konzept folgende Kunst zwar ohne Inhalt – aber keineswegs ohne Funktion.“ (alle Zitate aus „rote blätter“), startet er auf dem UZ-Pressefest zur documenta eine „Kulturelle Offensive“. Das Heilmittel gegen den „geistigen Bankrott“ ist die Vorschrift an die Kunst, in ihr sollten sich die Künstler als „Genossen Kulturschaffende“ verwirklichen, indem sie sich „parteilich“ auf den „Bitterfelder Weg“ machen, jede „Bedeutungslosigkeit“ ausmerzen, und nur noch Bilder malen, wo die optimistische Monochromie alles Graue aus dem Staatsalltag raus und das leuchtende Rot der sozialistischen Menschheitsperspektive reinzwingt: Sozialistischer Realismus.
aus: MSZ 20 – Dezember 1977 |