Was macht der Kommissar in Marburg
Der Rechtsstreit eines CDU-Studenten namens Wolf mit dem AStA um Unterlassung „der Wahrnehmung eines ihm nicht zustehenden Mandats“ führt zu dem expliziten Verbot des politischen Mandats durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof am 18.11.74. Neben Kläger Wolfs Beweismaterial (Zeitungen, Flugblätter und Beschlüsse) liegt dem Gericht ein Geständnis des AStA vor, der sich ausdrücklich zu seinem politischen Mandat bekennt, sein Recht darauf einerseits aus den geltenden Gesetzen abzuleiten versucht, andererseits sicherheitshalber aber auch noch die „gesetzliche Verankerung des politischen Mandats“ fordert.
Der Marburger Universitätspräsident Zingel stellt dem AStA (MSB/ SHB) ein kurzfristiges Ultimatum, innerhalb dessen er einen öffentlichen, schriftlich an ihn zu richtenden politischen Offenbarungseid zu leisten habe, widrigenfalls er den AStA leider absetzen müsse. Zingel kann nicht länger mit ansehen, daß (a) der AStA sich ständig über ein Gerichtsurteil hinwegsetzte und (b) die pekuniären Folgen (bis dato über DM 20 000) aus studentischen Geldern bezahlt würden. Der AStA ist zu Recht erbittert, haben doch MSB und SHB-Stimmen zur Wahl Zingels beigetragen und ist „Rudi“ doch Parteifreund vieler SHBler.
Nachdem der AStA trotz Konzessionen des Erpressers (Verlängerung des Ultimatums) darauf nicht in gewünschter Form eingeht, setzt Zingel am 1. 11. zu, d. h. den AStA ab und Herrn Rudolf Naumann als Staatskommissar ein.
Die Amtsräume des AStA werden vom AStA und seinen Freunden bewacht. (Die Nachtwache vor allem ist sehr begehrt: insbesondere Liedermacher und anderes fahrendes Volk meldet sich freiwillig). Zingel allerdings hat Heizung, Strom und anderes abgeschaltet, die AStA-Druckerei ist dicht: kurz, der AStA ist von allen Produktionsmitteln abgeschlossen.
1. Der „demokratisch gewählte AStA“ stellt sich seiner Verantwortung Dem abgesetzten AStA fällt es leicht, seine Politik auch ohne seine Portefeuilles fortzuführen: von dem AStA, der die demokratische Interessenvertretung qua Amt vorantrieb, ist immerhin die historische Tatsache übriggeblieben, daß er demokratisch gewählt wurde (wobei er vornehm verschweigt, daß es sich bei dieser Wahl um die staatlich verordnete Einsetzung eines studentischen Selbstvertretungsorgans mit bestimmten Aufgaben handelt.) So begann mit seiner Absetzung die Stunde der Bewährung und damit die Chance, letzte noch vorhandene antikommunistische Ressentiments gegen die ihn tragenden Gruppen abzubauen. Nichtkenner der Materie hatten vermutet, der AStA würde nun seine Wähler mobilisieren und Zingel nebst Kommissar zeigen, daß seine Maßnahme, per Gewalt die Studentenschaft zu entpolitisieren, das Gegenteil bewirkt. Damit hätten MSB/ SHB jedoch ihre Politik im AStA revidiert, nur weil der Staat mal zuschlug. Der abgesetzte AStA blieb jedoch standhaft: Er rief erst mal zu einer Demonstration aller demokratischen Kräfte gegen die „undemokratischen Umtriebe des Staates“ auf und sorgte überall dafür, daß niemand über die Stränge schlug. Wie der AStA dies programmatisch und staatsmännisch formulierte: „Die Marburger Studenten haben jetzt, wo die Herrschenden überall versuchen, das politische Klima nach rechts zu entwickeln, eine große Verantwortung für die gesamte demokratische Studentenbewegung. Die Amtsenthebung des Marburger AStA soll ein Exempel statuieren. Machen wir daraus ein Exempel für einen breiten demokratischen Kampf und lassen uns nicht durch spontaneistische Aktionen davon ablenken.“ Nach der Demonstration unter der Losung „Weg mit dem Staatskommissar“ verhängte der AStA am 6. 11. einen „Aktionstag“ in 5 Arbeitsgruppen mit Kultusminister Krollmann. Dieser Versuch, mit dem Staat ins Gespräch zu kommen, scheiterte allerdings bedauerlicherweise am Starrsinn des Ministers, der der Einladung nicht Folge leistete. Nichtsdestotrotz hat die verantwortungsbewußte Haltung des AStA auch reiche Früchte getragen: Abgesehen von dem Umstand, daß der Staatskommissar immer noch im AStA residiert, haben „insgesamt ihre Solidarität mit dem Marburger AStA ausgesprochen: 580 Gewerkschaftler, 132 Organisationen, 140 Einzelpersönlichkeiten, 190 ASten, Fachschaften, Studentenschaftsvollversammlungen.“ (asta-info vom 11.11. 75) Ein Beispiel soll hier für viele stehen: „Die Bundesjugendleitung der Naturfreundejugend Deutschlands protestiert schärfstens gegen die Versuche, den Marburger AStA als quasi-gewerkschaftliche materielle und politische Interessenvertretung der Studenten mundtot zu machen. Berg frei! Und solidarische Grüße“ (asta-info vom 30. 10.) Der demokratisch gewählte AStA gibt sich jedoch mit kurzfristigen, wenn auch spektakulären Erfolgen nicht zufrieden: „ ... es kommt darauf an, von der Empörung zur Kenntnis einer langfristigen Strategie und Taktik überzugehen.“ (MSB-Flugblatt vom 11. 11.) Hierzu wird sehr weit vorausgeplant. Zum Beispiel Höhepunkt und Abschluß des Kampfes gegen den Staat um sein gutes Recht ist natürlich ganz in der Tradition und mit der Perspektive des von ihm repräsentierten Teils der Studentenbewegung – eine Urabstimmung! „Am Donnerstag kann's losgehen. Die von der SVV beschlossene Urabstimmung wurde vom Ältestenrat genehmigt (Gottseidank!) und läuft jetzt vom 13.–20.11.“ Und dabei läßt sich der Kommissar ganz schön entlarven: Wenn schon jetzt der Staatskommissar so tut, als sei er eigentlich der AStA, dann soll er sich gefälligst an Beschlüsse der SVV halten und konsequent die Urabstimmung gegen sich selbst durchführen. Jedoch der Kommissar weigert sich widerrechtlicherweise, „ … obwohl er laut Satzung anstelle des amtsenthobenen AStA-Vorstands dazu verpflichtet wäre, weigert er sich strikt, als Träger dieser Urabstimmung zu fungieren ...“ Klagt der AStA (in seinem info vom 11. 11.), beweist damit wieder einmal die Notwendigkeit einer „quasi gewerkschaftlichen“ Institution AStA, ohne die die Studenten nie zu ihrem Recht kommen können: „ ... ist es wie in allen zentralen politischen Fragen an dieser Universität notwendig, daß der demokratisch gewählte AStA die Sache in die Hand nimmt.“ Worum geht's diesmal bei der Urabstimmung? Etwa wieder um das gleiche, wie bei der letzten? Nein, dafür ist die Lage zu ernst: „Das Ziel dieser Urabstimmung ist keine positivistische Fliegenbeinchenzählerei, sondern ein massenhaftes politisches Votum der Marburger Studenten für die Streiktage am 25. und 26.11.“ Streiktage? Keine Angst, die „Streiktage“ sind nur ein etwas unglücklicher, weil mißverstandener Ausdruck für eine mehrtägige Kulturveranstaltung, zu der jeder beitragen kann und bei der jedermann auf seine Kosten kommen soll: „Initiativen zur attraktiven Durchführung des Streiks sind dabei herzlich willkommen, der AStA hat schon jetzt einige konkrete Vorschläge: Man sieht, der amtsenthobene, aber dafür demokratisch gewählte AStA ist der beste, aktivste und einfallsreichste AStA, der in Marburg je die studentischen Interessen vertreten hat. Was für ein Schlag gegen Zingel, Krollmann und Konsorten! Der MSB/SHB-AStA beweist ihnen und den Kommilitonen, daß seine Amtsenthebung ein Schlag ins Wasser war: in Marburg wird weiter gesungen, es gibt „viel Politik und noch mehr Kultur“ und der Staatskommissar wäre vielleicht schon in Vergessenheit geraten, würde er nicht gelegentlich die demonstrative kämpferische Fröhlichkeit durch Abschalten von Strom und Heizung dämpfen (freilich bleiben auch dann noch Freuden …)
Neben dem demokratisch gewählten AStA gibt es in Marburg noch einen anderen Gegner des Kommissars und seiner Auftraggeber. (vom KSV, der auch hier versucht, den Kampf gegen den Staatskommissar mit der „Aufdeckung der Machenschaften des Sozialimperialismus“ zu verbinden, einmal abgesehen). Dieser Gegner hat jedoch keine klaren Konturen und demonstriert sich deshalb mit einem Symbol: seine Flugblätter ziert ein Maulwurf und besagter M.A.Ulwurf (so signiert er) gibt regelmäßig den Studenten den „Diskussionsstand innerhalb der Basisgruppenbewegung („Aktionsbündnis“)“ bekannt, Er „gibt keine Empfehlungen, sondern stellt seine Diskussion zur Entscheidungshilfe“ kostenlos bereit. Am 10. November z. B. sah der Diskussionsstand folgendermaßen aus: „Gegenüber unserer, im Plenum vom 10.11. vorgetragen, massiven Kritik an der Urabstimmung haben wir uns dennoch entschlossen, an ihr teilzunehmen und mit ja zu stimmen.“ (Flugblatt vom 12.11.) Dies ist natürlich kein Widerspruch, sondern Ausdruck autonomer, basisnaher Politik, denn eine Urabstimmung ist immerhin eine Bewegung der Basis, die sich kein Sponti entgehen läßt, obgleich natürlich „aus dem oben gesagten klar hervor(geht), daß wir uns in unserer Praxis durch das Urabstimmungsergebnis, bei dem es lediglich um Zahlen geht (das hat der Maulwurf rausgekriegt!), nicht instrumentalisieren lassen werden.“ Wie sieht nun aber die Maulwurfpraxis aus: „Wir werden unsere Einschätzung der Entwicklung weitertreiben und solche Aktionen durchführen, die wir als sinnvoll erachten und das auch zu Zeitpunkten, die wir aufgrund eigener Erkenntnis für richtig halten.“
Auf Grund eigener Erkenntnis hielt es das Aktionsbündnis z. B. für richtig, an einem grauen Montag die Aktion „Politik an die Uni“ durchzuführen. Dabei gab es den ganzen Tag im „Foyer der Phil. Fak … Filme, Diskussionen, Musik ... Biermannlieder und organisatorische Perspektiven.“ Dazu ein Teach-In zur „Zusammenfassung aller kritischen Kräfte in neu zu bestimmenden Organisationsformen.“ Bei diesem Treffen der „kritischen Kräfte“ zu Ehren des Staatskommissars trat – angekündigt als „Special Guest“ – auch der Ex-Kommunist Michael Stamm auf, der die Diskussion um die Frage, „wo (!) die Perspektiven einer sozialistischen Hochschulpolitik bestimmt werden!“ (Flugblatt vom 31.10.) mit seinem bekannten und beliebten Beitrag über sein Verhältnis zu den Roten Zellen bereicherte. Auch ein Finger (SHI) aus Frankfurt konnte keinen überzeugenden Zeig geben, so daß das „Aktionsbündnis“ schon drei Tage später einräumen mußte: „Keine Einigung besteht im AB darüber, ob zum jetzigen Zeitpunkt innerhalb der Aktion weitere Kampfschritte für die Wahrnehmung des politischen Mandats entwickelt werden sollen.“ Zum Glück für die Freunde des politischen Happenings hat das AB daraus jedoch nicht die Konsequenz gezogen, sich aufzulösen, sondern aus dem „Spektrum der unterschiedlichen Vorschläge hat sich als ein Pol herauskristallisiert: in der jetzigen Auseinandersetzung muß der Schwerpunkt liegen in der langfristigen Unterstützung der bestehenden Basisgruppen oder ihrer Neubildung.“ Dabei passiert allerdings nichts Beunruhigendes, denn – ist ja klar – zunächst würde dies bedeuten: „Auflösung des AB in seiner jetzigen Form. Weitertreiben der Bestimmungen der politischen Inhalte und der Bedingungen zukünftiger Aktivitäten.“ Dennoch wird das AB immer noch nicht aufgelöst, denn „Der andere Pol setzt den Schwerpunkt: Weiterführung des AB mit dem Ziel: ... Vorbereitungen von Aktivitäten gegen den Staatskommissar.“ Mittlerweile wissen wir, daß Pol 2 zur konkreten Praxis weitergetrieben worden ist: In der Lahn treiben zwei Türen vom Audimax ... Im übrigen wird weiter diskutiert ... _______________
Marburg an der Lahn gilt als linke Universität, 6000 Studenten stehen hinter ihrem AStA, zweitausend davon hinter dem AStA und einem Bündnis, das die „Voraussetzungen der Bedingungen sozialistischer Hochschulpolitik“ kritisch diskutieren will. Der Kommissar kommt an diese Universität als Vorhut einer Offensive des Staats und seiner Zingels gegen eine Politik in den Organen der verfaßten Studentenschaft, die dem Staat nicht paßt. Die politischen Gruppen machen unter den Augen des Kommissars das gleiche, was sie immer schon gemacht haben: Sozialkampf, Kultur und Reden über Politik, gelegentlich auch eine Urabstimmung oder einen Sternmarsch. Am Tatort wird gesungen, das kann auch der Kommissar nicht verbieten ...
Kommissar gibt Fall ab! „Damit richtet sich die Urteilspraxis der Gerichte gegen die Studentenschaft. Der Charakter dieser Urteile ist schlicht antidemokratisch.“ (asta-info Marburg) Die gleiche Kammer, deren Rechtssprechung dies vernichtende Urteil des Marburger AStA galt, hat ihn nun am 28. 11. wieder ins Amt gesetzt mit einem Entscheid, den der MSB nicht ansteht, langanhaltig als Sieg zu feiern; zumindest solange, bis eben diese Kammer dem RCDS-Wolf bei seiner nächsten Klage Recht geben wird. Der MSB wird aber auch dann Grund zur Zufriedenheit haben: (1.) kommt sein Weltbild (siehe oben) wieder ins Lot und (2.) läßt sich erneut aufführen, was einem die letzten zwei Wochen soviel Spaß gemacht hat. Die ganze demokratische Entrüstung liegt noch in der Luft und auch der Kommissar verbleibt aus Berufsgründen am Tatort...
aus: MSZ 8 – 1975 |