Die Justiz und ihre Kritiker:

Plädoyers für ein gerechteres Recht


Die Justiz wird in der Öffentlichkeit meist nur dann registriert, wenn ein Justizskandal Empörung hervorruft oder ein Prozeßbericht das prickelnde Erlebnis abscheulicher Taten oder pikanter Details aus dem Privatleben von Straftätern vermittelt. So unterschiedliche Berufszweige wie Juristen, Journalisten und Soziologen finden in der Kritik der Justiz ein Betätigungsfeld. Hauptangriffspunkt ist dabei die Strafjustiz, an der man beständig den Widerspruch zwischen Freiheit und Beschränkung des Bürgers durch den Staat problematisieren kann. Gegenwärtig wird wieder einmal die Funktion der lebenslangen Freiheitsstrafe angezweifelt mit dem Argument, human sei eine Strafe nur dann, wenn sie gerade noch auszuhalten und d. h. auch als Strafe noch empfunden werden könne. Die lebenslange Freiheitsstrafe lasse vom Täter und seinem möglichen Besserungswillen nichts mehr übrig. Ein liberaler deutscher Strafrechtsprofessor hat unlängst entdeckt, daß ein Delinquent nach längstens 15 Jahren als Strafobjekt untauglich wird. (vgl. Arthur Kaufmann, Eine Chance für den Schuldigen, in „Süddeutsche Zeitung“ vom 15./16. Mai 1976). Die Differenz des Rechts zum Willen der von ihm Betroffenen liegt so zwar der Kritik am Recht zugrunde, ist aber nicht Gegenstand ihres Angriffs. Dem Kritiker reicht es, jemandem, der 15 Jahre gesessen hat, weitere zehn oder mehr Jahre zu ersparen, um dadurch den Erhalt der Persönlichkeit und ihrer möglichen Nützlichkeit für die Gesellschaft zu erhalten. Leider ist Kaufmann kein Einzelfall. Noch jeder hat am Recht etwas auszusetzen und will doch auf Recht nicht verzichten. Wie nicht anders zu erwarten, beweisen alle – vom Staranwalt bis zum Faschisten – daß wir in einem Rechtsstaat leben.


Ein Anwalt der Herr Bossi hieß

Ein bekannter Münchener Strafverteidiger – die Bezeichnung „Staranwalt“ behagt ihm nicht, obwohl die schauspielerischen Qualitäten wie sein Verkehr in Michael Graeters Kolumnenkreisen mit zum Geheimnis seines Erfolgs gehören – hat ein Buch geschrieben, in dem er vorführt, wie man auf einträgliche Weise der Justiz den Pelz waschen kann, ohne ihn naß zu machen.

Die Tatsache, daß täglich Leute zu ihm kommen, die mit dem Recht in Konflikt geraten sind und nun einen Anwalt brauchen, um ihre Interessen zu wahren, registriert er als deren mangelnde Kenntnis vom Recht. Der Bürger weiß nichts von seinen Rechten, „viel zu wenig jedenfalls, um – für den Fall, daß er in eine entsprechende Situation gerät – seine Rechte ausschöpfen und für sein Recht kämpfen zu können“. Die Differenz des Rechts zum Tun und Lassen der von ihm Betroffenen ist dem Anwalt so selbstverständlich, daß er seinen Lesern empfehlen kann, aus seinem Buch zu lernen, ohne zu befürchten, dadurch seine Existenzgrundlage zu verlieren. Da man ihn brauchen wird, kann er vom Charakter des Konflikts, dem er sein Auskommen verdankt, abstrahieren und sein Anliegen als Hilfe für die Menschen präsentieren. Vor die Wahl gestellt, wen er verteidigen soll, würde er „immer den Menschen verteidigen, dessen seelische Not mir am ehesten ins Auge springt, dessen Not noch größer ist als die des anderen“.
Dasselbe findet man auch andernorts:

„There is a poor devil in trouble and that suffices“. (Der Anwalt des Kennedy-Attentäters Sirhan)

Verschwendet der Anwalt schon keinen Gedanken darauf, was es mit dem Konflikt auf sich hat, dem sich die „Not“ seines Mandanten v erdankt, so zeigt sich die Eigenart dieser menschlichen Notlage doch daran, daß ihm der Anwalt keineswegs mit karitativem Zuspruch begegnet. Nachdem das Finanzielle geklärt ist – die Standesrichtlinien verbieten es, „einen Mandanten „umsonst“ zu verteidigen“ (11) –- besinnt er sich darauf, daß die etwas spirituelle „seelische Not“ ganz handfeste Grundlagen in dem drohenden längeren oder kürzeren Aufenthalt in einem Gefängnis hat. Und wie dem zu begegnen ist. weiß er als Jurist, der seine Paragraphen kennt und sich darüber im Klaren ist. daß Strafe sein muß. Es gilt, so Bossi, „für einen straffällig, einen im Zweifelsfall entsetzlich straffällig gewordenen Menschen Verständnis zu erwecken: im Idealfall Verständnis zu erwecken, das unter anderem auch in einem überzeugenden Gerichtsurteil seinen Niederschlag findet“. Es ist sein Job als Anwalt, der sich hinter der moralischen Phrase verbirgt, geht es doch darum, daß sich das „Verständnis“ rechtlich auszahlt. Das „Überzeugende“ des Urteils besteht deshalb auch darin, daß seine Überzeugungskraft als Verteidiger seinen Mandanten glimpflich davonkommen ließ.


Prozeßkunst

„Rechtlich war die Tat … zweifellos als Mord anzusehen … Rechtlich war darüberhinaus allenfalls noch die Frage der Schuldfähigkeit des Täters von Interesse.“ (194).

Die mit moralischer Empörung vorgetragene Schilderung der Tat, die liebevolle Darstellung der Tatumstände, der besonderen Brutalität des Verbrechens hat ihren Sinn, denn sie dient dem Anwalt dazu, seinen Mandanten vor der Strafe zu retten. „Wer so etwas getan hat, kann nicht normal sein und ist deshalb schuldunfähig i. S. S 20 StGB“ Wenn er einverständnisheischend vor Gericht die schwere Jugend des Angeklagten ausbreitet und die miesen Verhältnisse beschreibt, in denen dieser lebt, dann rechtfertigt er damit die Zumessung einer bestimmten Strafe. Die Verwandlung des notleidenden Menschen, seines Mandanten, in ein Rechtssubjekt, das rechtlich nicht zurechnungsfähig ist, bereitet ihm keine Schwierigkeit, womit er zeigt, daß sein Geschäft den Gegensatz von Recht und persönlichem Interesse nicht aus der Welt schaffen will, sondern sich in ihm bewegt. Um das Gericht, dessen Strafgewalt er akzeptiert und durch sein Tun unterstützt, von seiner rechtlichen Ansicht das Sachverhalts, die durchaus nicht seine wahre Auffassung zu sein braucht (was zuzugeben er sich freilich hütet), zu überzeugen, benutzt der Anwalt alle Tricks, womit die andere Seite rechnet und sich durch entsprechende Gegenzüge präpariert. In all seinen Überlegungen macht Bossi klar, was es heißt, vor Gericht Verständnis zu erwecken: Es geht darum, den Richter zu beeinflussen, bei dem die Entscheidung liegt, und dazu kann es sogar notwendig sein, die unterschiedliche Redefertigkeit der auftretenden Personen in die Überlegungen zur Prozeßstrategie miteinzubeziehen:

„Die besten Argumente sind nutzlos, wenn sie – schlecht vorgetragen ~ das Gericht nicht zu überzeugen vermögen“.

Soll er einen Richter wegen Befangenheit ablehnen oder lieber doch nicht, weil sich dadurch die Fronten verhärten, das Gericht seinen weiteren Anregungen weniger geneigt gegenüberstehen könnte? Sein Versuch, durch entsprechende Auslegung der §§ und unter Ausnutzung der Verfahrensvorschriften eine Anwendung des Gesetzes durchzusetzen, die seinem Mandanten günstig ist, bringt ihn in Gegensatz zum Staatsanwalt, der auf der gleichen Grundlage den „staatlichen Strafanspruch“ verwirklicht sehen will, weswegen bei Bossi die ganze Veranstaltung die Form eines besonderen Boxkampfes annimmt, bei dem der Richter die Punkte verteilt: „Ein Punkt für mich in diesem Kampf, in dem es schließlich nicht um Sieg oder Niederlage ging, sondern ausschließlich um eine vernünftige und gerechte Antwort auf die Frage, ob dieser Gerald M. Werner ein verabscheuungs- würdiger Lustmörder oder ein kranker, nicht zurechnungsfähiger Mensch war“, womit klargestellt ist, daß es um W. nur geht, soweit es für die rechtliche Alternative lebenslänglicher Freiheitsentzug im Gefängnis oder in der Klapsmühle wichtig ist.

Während der Anwalt daher alles zu verheimlichen sucht, was sich für seinen Mandanten ungünstig auswirken könnte, ist umgekehrt der Staatsanwalt bemüht, ein möglichst finsteres Licht auf den Täter fallen zu lassen. Die Rollenverteilung dieses „Ringens von Menschen um Wahrheit und Gerechtigkeit“ offenbart, daß die Wahrheit darin besteht, im Gegeneinander der Interessen gemeinsam das Recht gegenüber dem Betroffenen durchzusetzen. Alle raffiniert herzergreifenden Schilderungen, die der Anwalt vorträgt und die beim Publikum den Vorwurf hervorrufen, er sei auch nicht besser als der Täter, dienen allein dazu, Anknüpfungspunkte zu finden, die das Urteil „schuldunfähig“ ermöglichen. Seine Manöver, seinen Mandanten zu ihrem Recht zu verhelfen, zeigen. daß auch er sich an der Durchsetzung des Rechts gegen die von diesem Betroffenen beteiligt. Und da er dies Geschäft vom Standpunkt der Verteidigung aus betreibt, bereitet es ihm auch keine Schwierigkeit, die gelungene Unterwerfung seines Mandanten unter das Recht als Erfolg zu feiern: statt des Gefängnisses die Klapsmühle.

„Es war ein Erfolg, ein Erfolg der Verteidigung, die nichts unversucht gelassen hatte, das Gericht über das Entsetzen der zur Verurteilung stehenden Taten hinauszuführen und zu einer sachlichen und vielleicht sogar wissenschaftlichen Beurteilung zu bringen.“


Prozeßhilfen

Seine Fähigkeit, als Anwalt zur sachlichen Beurteilung beizutragen, tritt darin zutage, daß er es besser als andere versteht, die Vieldeutigkeit des Sachverhaltes, die den Streit darüber erlaubt, ob dieser oder jener Paragraph noch auf ihn anwendbar ist, zugunsten seiner Mandanten dahin auszunutzen,  daß er alle Umstände auspackt, die deren „Schuldfähigkeit“ relativieren können. Da sein Erfolg von der Geschicklichkeit abhängt, mit der er seine Zweifel anbringt, verwundert es nicht, daß er

„nahezu körperlich unter der Ahnung leidet, daß ich letztlich nicht erfolgreich sein könnte, wenn ich nicht außer der Juristerei auch noch wenigstens die Umrisse und Grundlagen der Gerichtsmedizin, Psychiatrie, Psychologie und vergleichenden Soziologie kennen würde.“

Diesem Mangel kann durch den Aufmarsch der entsprechenden Gutachter abgeholfen werden, wobei er sich aber bei aller Bewunderung für die Größen der Psychiatrie einer gewissen Kritik nicht enthalten kann: denen ist es nämlich oftmals gleichgültig, welche Folgen ihr Gutachten hat:

„ … für ihn hat es niemals eine Rolle gespielt, daß die Erörterung seelischer Zustände und Krankheiten vor Gericht selten ärztlich-therapeutische, sondern vor allem juristische Konsequenzen für den zu begutachtenden Angeklagten hatte.“

Die Klage über den fehlenden Nutzen eines Gutachters, dem es zu sehr um seine Wissenschaft ging, offenbart den Witz des ganzen Gutachterzirkus. Wie bei allem vor Gericht, geht auch hier eine Verwandlung vor sich: seine Aussagen dienen als Material der Rechtssprechung.

Der Richter beurteilt, ob die ausgebreiteten Ergebnisse wissenschaftlichen Bemühens genügend Umstände hergeben, dem Angeklagten verminderte Zurechnungsfähigkeit zuzubilligen,

„Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“ (§261 StPO).

Bossi weiß, daß man hier (wie überall) sich von der Wissenschaft nichts vorschreiben läßt, sondern sie als Mittel für die rechtliche Entscheidung nutzt. Und er weiß den Pluralismus der Wissenschaft zu schätzen, bietet er ihm doch die Möglichkeit, jedem Gerichtsgutachten ein anderes beizugesellen, welches mehr oder weniger für seinen Mandanten Partei ergreift.

Das Verhältnis des Gerichts zu den vorgetragenen Gutachten – es beurteilt sie – gibt dem Anwalt Gelegenheit, gegen das Recht die Wissenschaft aufzufahren und eine stärkere Berücksichtigung des psychologischen und soziologischen Quarks zu fordern:

„Ich fordere Recht. Es gibt, meine ich, in meiner beruflichen Praxis bisher wenige Situationen, in denen der Sinn dieses Titels so deutlich wird, wo er mit der Forderung nach Anerkennung der Psychologie und letztlich auch der Psychoanalyse noch über das für den jeweiligen Mandanten geforderte Recht hinausgeht.“

Indem er die Justiz daran mißt, „wie schnell (sie) in diesem Bereich auf die jeweils neuen Anstöße der Wissenschaft reagiert“, will er sie darauf festlegen, zum Prinzip ihres Urteils die Relativierung des Täterwillens zu machen.

Da die Schuldunfähigkeit jedoch die Ausnahme im Recht ist, das durchzusetzen er gemeinsam mit Gericht und Staatsanwalt angetreten ist, bringt er sich in einen Gegensatz zu den Hütern der Ordnung, die von ihrem Standpunkt aus zumeist daran festhalten wollen, daß der Täter mit freiem Willen gehandelt hat, was dem Anwalt Anlaß für manchen Lob und Tadel bietet.

Im Lob des „modernen“ Richters, der seinen Mandanten ins Irrenhaus statt ins Gefängnis schickt, als vorurteilsloser Wahrer des Rechts, plaudert der Anwalt aus, daß sich hinter seinen Sprüchen von der Gerechtigkeit und der verbesserungsbedürftigen Justiz sein Interesse als Verteidiger verbirgt, seinen Standpunkt bei der „Rechtsfindung“ durchzusetzen.

Unter der Parole der „Verwissenschaftlichung“ des Rechts propagiert er den systematischen Ausbau seiner Strategie als anerkanntem Rechtsinteresse. Wenn er prügelnde Polizisten „auf das Vorhandensein etwa eines „progressiven Daueraffekts“ untersuchen lassen (will), wie beispielsweise einen Eifersuchtstäter“, andererseits Strafverfahren gegen Polizisten im Interesse seiner Mandanten in Gang bringt, offenbart er damit nicht nur, daß er am Gewaltcharakter der Polizei allenfalls etwas auszusetzen hat, wenn diese über die Stränge schlägt, sondern auch den Zynismus des Juristen. der als Gerechtigkeit immer das vertreten kann, was seinem jeweiligen Mandanten nützt.

Die Notwendigkeit von Recht und Strafe ist ihm kein Problem, lebt er doch davon, was seine feindlichen Brüder im Gerichtssaal manchmal vergessen, so daß der genüßliche Hinweis auf das „Problematische“ ihres Tuns die Art und Weise ist, wie er die Justiz anerkennt: in dubio pro reo – für alle Mandanten, auch wenn's nichts mehr zu zweifeln gibt:

„Dieses Wirken (der Justiz) ist allenfalls dann noch moralisch legitim, wenn die Organe der Rechtspflege sich ständig darüber im Klaren sind, welche natürlichen Grenzen ihrer Erkenntnis und Urteilsfähigkeit gesetzt sind.“

Da alle Kontrahenten am Prinzip des Rechts – „Strafe setzt Schuld voraus“ nicht rütteln wollen, können sie sich munter streiten, wer von ihnen mehr für die Gerechtigkeit tut.

Der Anwalt gewinnt dabei einen uneinholbaren Vorsprung, da – wie er bedauernd verrät – unter seinem Streben nach Gerechtigkeit sogar sein Privatleben, die Barbesuche und das Tennisspielen, leiden, wo doch beide für seinen Ruf als Staranwalt notwendig sind. Und daß sein Standpunkt als Verteidiger zum Recht dazugehört, gibt ihm Gelegenheit, seinen Unmut über einen Mißerfolg als Eintreten für die Gerechtigkeit zu präsentieren:

„Ich werde niemals aufhören, für meine drei „Lebenslänglichen“ zu kämpfen. Im Sinne des Rechts, um es nochmals zu sagen, das ich für wichtiger halte als meine Existenz.“

Ein Bekenntnis, das die glückliche Situation eines Verteidigers feiert, der davon lebt, daß seine Mandanten vom Staat eins auf's Haupt bekommen und der seine Beteiligung an diesem Geschäft als Eintreten für ihre und des Rechts Interessen verkaufen kann.

Über der Gewißheit, daß es immer Unrecht und damit „hilfesuchende“ Mandanten geben wird, kann er die Entgeltlichkeit seines Geschäfts getrost vergessen und sich bei seinen Sensationsprozessen als „Sucher nach Wahrheit und Gerechtigkeit“ präsentieren, die es – wie alles in dieser Welt – nicht umsonst zu haben gibt:

„Das Ende jeder Verteidigung ist in jedem Fall in jedem Idealfall der Anfang einer neuen, wenn auch so strapaziösen humanitären Aufgabe. Oder auch, mit weniger aufwendigen Worten, das Ende ist immer der Anfang der nächsten Verteidigung.“


Strafjustiz bis zum jüngsten Gericht?

Während der Anwalt sich der Kontinuität seines Rechtsgeschäfts erfreut, beziehen andere ihr Einkommen aus der kritischen Beobachtung des Rechts, die bei manchen in einem „Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts“ gipfelt.

„Es muß nicht bis zum Ende aller Tage angeklagt und verurteilt werden.“

Solche Justizkritiker stellen sich auf den Standpunkt der mit der Justiz in Konflikt gekommenen, um die Justiz mit der Enthüllung zu konfrontieren, daß Paragraphen ungeeignete Instrumente sind, den Beweggründen einer Tat und den Problemen eines Straftäters zu Leibe zu rücken.

„Zwei Opfer sind zu beklagen: die junge Frau, die getötet wurde und der junge Mann, der sie getötet hat.,“
–  leitet der Gerichtsreporter des „Spiegel“ einen Bericht über einen Prozeß ein, und er spricht in der Rede von „Opfer“ – er meint im zweiten Fall einen Verurteilten – gleich aus, daß er den „jungen Mann“ einzig zu dem Zweck vorführt, um der Justiz ihr Versagen auszumalen: sie hat es kläglicherweise nur dahin gebracht, einem Opfer ein zweites hinzuzufügen. Konfrontiert mit einer Justiz, die in Ausführung der von allen anerkannten Gesetze die dem Recht unterworfenen Personen zerstört, fällt solchen Kommentatoren nichts anderes ein, als vorweg die willentliche Grundlage des Rechts aus der Welt zu schaffen, sodaß die von der Justiz Betroffenen dieser nicht anders gegenüberstehen als jemand, dem ein Baum auf den Kopf gefallen ist. Der Grund, warum ein Täter zugleich Opfer sein muß, wird gleich ausgesprochen: Er ist für sein Handeln nicht verantwortlich, sondern die Gesellschaft, die Familie, das Gefängnis. Wenn Personen bestraft werden, so hat es demnach immer die falschen getroffen, womit der kritische Beobachter als nächstes ausspricht, daß er keinen Angriff auf die von ihm angeführten Einrichtungen der Gesellschaft vorhat, sondern diese als bedauerliche Umstände anführt, um aus jedem Verurteilten ein Justizopfer zu machen.

Auf den Schuldvorwurf, den das Recht dem Rechtsbrecher entgegenhält, antwortet der Justizkommentator daher mit einer detaillierten Schilderung der „Umwelteinflüsse“, die jemand zum Verbrecher gemacht haben und erklärt mit ihnen die Schuld als Zwang, dem sich der Betroffene nicht entziehen konnte. Weil im Schuldvorwurf enthalten ist, daß sich der Schuldige bewußt, mit freiem Willen, gegen das Gesetz gestellt hat, kommt es solchen Gegnern des Strafurteils nur darauf an, die Schuld des Täters zu bestreiten. Solche Kommentatoren haben keine Skrupel, den Individuen ihren freien Willen abzusprechen, um dem Recht den Boden unter den Füßen zu entziehen. Sie werden nicht müde aufzuzählen, welche asozialen Familienverhältnisse den Angeklagten zum Verbrecher prädestinierten, um mit der Unausweichlichkeit gesetzeswidrigen Verhaltens zu belegen, daß der Schuldvorwurf immer ins Leere geht:

„ … wer trotz einer schweren Kindheit und Jugend nicht an das Strafgesetz gerät, der wird allzu oft nur auf andere Weise unglücklich: der trägt die Schäden, die er erlitten hat, nur anders aus. Die Zahl der von ihrer Biographie her Verkrüppelten ist unendlich größer als die Zahl derer, die in die Kriminalstatistik einziehen.“

Womit bewiesen wäre, daß die Justiz irrt, wenn sie meint, jemandem kriminelles Verhalten vorwerfen zu können, denn die Welt ist voll von Verhaltensgeschädigten. So endet solche Justizkritik dabei, die Forderung nach Abschaffung der Strafjustiz um Vorschläge zur Verbrechensverhütung als Ergänzung zur Strafe zu bereichern und die Leugnung des freien Willens durch die Forderung nach seiner frühzeitigen sozialförderlichen Anpassung zu komplettieren.

„Verbrechensverhütung, die tief genug ansetzt, darf sich nicht darauf beschränken, nur die vom jeweils geltenden Strafrecht verbotenen Handlungen zu verhindern: sie muß vielmehr darauf ausgehen, sozialschädliche Neigungen in den Menschen gar nicht erst entstehen zu lassen.“

So betont der Kritiker noch einmal, daß er nichts mit den Gründen des Unrechts zu schaffen haben will, sondern den potentiellen Straftätern das von den Rechtsnormen geforderte Verhalten anerziehen will, damit sich diese freiwillig gemäß den Zwängen der Gesellschaft aufführen und sich erst garnicht mit der Justiz anlegen, die ihnen ja doch nur Schäden zufügt. Daher gibt es eine ganze Palette von Vorschlägen, von der Wandlung der Kleinkindererziehung bis zur Therapie bereits entstandener „sozialschädlicher Neigungen“, verbunden mit der Hoffnung, daß auf diese Weise der Justiz eines Tages die Opfer fehlen. Kurz: wenn jeder sich freiwillig an die Gesetze hält, wird niemand unter die Räder der Justiz kommen ...


Muß die Justiz etwas weltoffener werden?

Das Eingeständnis, daß man die Justiz nicht so einfach abschaffen kann, macht diese umgekehrt zur Grundlage ihrer Antwort auf solche Überlegungen. Sie hat es hier leicht, denn der Vorwurf, daß die Strafe das Verbrechen nicht aus der Welt schaffen kann, trifft sie nicht: kein Richter, der einen Dieb bestraft, meint so den Diebstahl abzuschaffen. Wird die Verantwortung des Täters für sein Tun mit dem Argument bestritten, die Gesellschaft sei schuld, antwortet die Justiz mit dem Hinweis auf den notwendigen Schutz „der Gesellschaft“ vor Gewaltakten einzelner und zieht diese aus dem Verkehr. Im Vorwurf der schuldhaften Verletzung einer staatlich gesetzten Rechtsnorm drücken die Juristen mit einer Tautologie aus, daß der Zustand der Rechtmäßigkeit ebenso wie der der Rechtsverletzung auf dem freien Willen beruht. Und in ihrer Praxis verfahren sie dementsprechend: Um festzustellen, wieweit man der Person Rechtsbruch anlasten kann, werden demnach im Prozeß die bei einer Tat den freien Willen beeinträchtigenden Faktoren „berücksichtigt“: „Strafmildernd (oder auch straferschwerend) hat das Gericht berücksichtigt, daß ...“ Freilich ist dies den Kritikern nur Anlaß zu dem Einwand, die Person werde nicht genügend berücksichtigt, der in den Vorwurf mündet, eigentlich müsse die Gesellschaft angeklagt werden und nicht eine Person. Anklagend zitiert der Reporter ein Gericht, das eine Kindsmörderin verurteilte:

„Die Frage, »wer etwa außer der Angeklagten verantwortlich gewesen sein könnte“ für den Tod Angelikas, war nicht Sache des Schwurgerichts. »Hier war nur Frau Maier angeklagt.«“

– statt der Stadtverwaltung, die es versäumte, ihre Slums zu sanieren. Unfähig, zu begreifen, daß die Justiz auch nicht im allerletzten Prozeß, den sie führen wird, die „sozialen Verhältnisse“ zu einer Geldstrafe oder zu Gefängnis verurteilt, halten solche Beobachter das Recht der sozial Benachteiligten gegen das Recht fest und stellen empört die Frage nach den Verantwortlichen solch unmenschlicher Rechtsanwendung.


Die Justiz als Schmierentheater

Jemand, der die Justiz für ungerecht hält, weil sie dem Gestrauchelten nicht auf die Beine hilft, dem wird jedes Urteil zum Beleg dafür, daß die Rechtsanwender hier keine rechtlichen Zwecke verfolgen, sondern ein verwerfliches Anliegen. Die Tatsache, daß zur Rechtssprechung der Streit derjenigen gehört, die die verschiedenen rechtlichen Standpunkte gegeneinander geltend machen – Verteidiger. Richter und Staatsanwalt haben ihre rechtlich vorgeschriebenen Funktionen bei diesem Geschäft – wird von den Kommentatoren in die Betätigung zweifelhafter Charaktere verkehrt, die, statt Recht zu sprechen, sich nur produzieren. Der Prozeß wird zum Rollenspiel, Richter, Staatsanwalt und Verteidiger zu Akteuren im Rampenlicht, zu Schauspielern, die ihren Beruf als gut einstudierte Rolle präsentieren.

„Der Staatsanwalt trug das Plädoyer vor, als sänge er Guiseppe Verdis Stretta »Lodert zum Himmel« ...“

„Ankläger Howard führt Nervenkrieg vor: wie zermürbe ich einen Zeugen.“

„Ankläger Howard hat den Zeugen Schorr endlich in die Ringecke gestellt.“

Feiert die Boulevardpresse in diesem Jargon die Sensationsprozesse, so formuliert der naserümpfende Beobachter solche Sätze zum Beleg dafür, daß die ganze Veranstaltung auf Kosten des Angeklagten gehe, weil sein Fall nur Mittel sei, damit sich solche Justiz-Figuren ordentlich in Szene setzen könnten. Warum endet ein Prozeß dann aber mit einem Urteil und nicht mit Vorhang und Applaus?


Nazis und andere finstere Gesellen

Die Verharmlosung der Justiz durch die Verwandlung von Leuten, die Gewalt als Beruf ausüben in solche, die eine Art Showgeschäft betreiben, wird vervollständigt durch die Entlarvung des Interesses derer, die bei Gericht das letzte Wort haben. Der Urteilsspruch verdankt sich der reaktionären Gesinnung der Richter:

„Zu Fehlbeurteilungen des Verhaltens der Unterschicht kommt es nicht zuletzt deshalb, weil die Richterschaft den »harten Kern« der oberen Mittelschicht bildet. Der Richter hat die Mittelschichtkultur und -moral stärker internalisiert als z. B. ein Kassenarzt oder Rechtsanwalt.“

Mit seinen soziologisierenden und psychologisierenden Beweisführungen erklärt er gerade nicht, warum es unter den Juristen Leute gibt, die mit einem Bewußtsein ausgestattet sind, das auch anderswo recht häufig anzutreffen ist und warum eifrige Parteigänger der Staatsgewalt bei Juristen besonders häufig anzutreffen sind. Er leugnet schlicht die Objektivität des Strafurteils als Recht, verwandelt er es doch in eine Ausgeburt der Willkür, die angeblich die Durchsetzung des Rechts gerade verhindert. So werden Klassenzugehörigkeit, NS-Vergangenheit etc. der Richter zum Beleg ihres Interesses, nicht Recht zu sprechen, sondern Recht in Unrecht zu verwandeln.

Einer Justiz, die „überwunden werden muß“, weil sie ,,Opfer“ nicht verhindert. sondern diese produziert, halten solche Rechtsapologeten der Rechtsanwendung ihr Ideal von Gerechtigkeit entgegen und verleihen der Justiz die höheren Weihen einer Institution, die der Welt Harmonie beschert. wenn nur die Menschen zwar nicht freien, aber guten Willens sind:

„Es muß nicht bis zum Ende aller Tage angeklagt und verurteilt werden. Über die Verstöße gegen unsere Vereinbarungen (!!). die wir Gesetze nennen, als hätten wir sie wie Moses vom Berge herabgebracht, kann auch solidarisch verhandelt. sie können auch leidenschaftslos ausgetragen werden ...“

Der Gegensatz zwischen Recht und freier Person, so ist dies also das Werk der daran interessierten Juristen, und wenn die Gewaltmenschen durch volksfreundliche Richter ersetzt werden, ist das Strafurteil die friedliche Einigung zwischen freundlichen Bürgern. So wird das Recht als ungerechtfertigte Gewalt zu einer Vereinbarung, die nicht beschränken darf – zur Forderung nach der Erziehung rechtsbewußter Personen kommt hier die Forderung nach einem anständigen Prozeß.


Die Paragraphen, von den Füßen auf den Kopf gestellt

Wenn diese Leute also die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ dafür verantwortlich machen, daß es im Recht nicht rechtens zugeht, und die Advokaten das Recht dann als eine gerechte Sache akzeptieren, wenn ihr eigener Rechtsstandpunkt nur genügend berücksichtigt wird, so ist es nicht verwunderlich, daß sich die Justiz darüber hinaus noch einer Sorte von Kritikern erfreut, die sich beide Standpunkte zugleich zueigen macht: die politischen Rechtsanwälte. Die Identifikation mit den politischen Vorstellungen ihrer Mandanten hat vor allem die Verteidiger der RAF als politische Gegner der Justiz ins Kreuzfeuer der Öffentlichkeit geraten lassen, für den Staat sind sie Rechtsanwälte in Anführungsstrichen. Im Prozeß gilt eben nur der Rechtsstandpunkt, und dem Richter ist es gleichgültig, ob der Verteidiger sich für einen Gegner des bürgerlichen Rechts hält, solange dieser die Spielregeln beachtet. Ein politischer Angriff auf das Recht ist umgekehrt kein Geschäft eines Rechtsanwalts, weshalb der ,,politische Anwalt“ eine contradictio in adjecto ist.

Die politischen Verteidiger verfolgen so die Chimäre, ihr Anliegen als Rechtsstandpunkt geltend zu machen, die politische Gegnerschaft zum Recht juristisch auszutragen, die juristische Anerkennung der Gegnerschaft zum Recht ist ihre Forderung. Wenn die Interessen ihrer Mandanten berechtigte politische Anliegen sind und das Recht die Durchsetzung solcher Interessen sanktioniert, dann ist der Angriff auf die Justiz Recht. Der politische Anwalt wird so nicht müde, Politik als Recht vorzutragen, das trostlose Resultat sind Anträge im Prozeß von der Art, die angeklagten Terroristen sollten den Status von Kriegsgefangenen erhalten, da sie sich mit dem bürgerlichen Staat im Kriegszustand befänden, daß also der Staat die seiner Gewalt unterworfenen Bürger als Repräsentanten einer souveränen Macht anerkennen und einen anarchistischen Staat im Staat dulden solle. Warum dann nicht gleich der Vorschlag, das Recht auf Abschaffung des Rechts gesetzlich zu garantieren?


Im Namen des Volkes?

Auf alle diese Kritiken des Rechts reagiert das gängige Rechtsempfinden mit Empörung, denn es weiß gerade die Gewalt des Rechts als Vorzug zu feiern – solange man nicht selbst von ihr getroffen wird. Und daher hat diese Moral gerade dann ein Problem mit dem Recht, wenn das Gesetz nicht scharf genug sanktioniert. Jemand, der sich den Beschränkungen, denen alle ausgesetzt sind, nicht unterwirft, den trifft nicht nur die Strafe, sondern auch die Empörung der Scharfrichter – Fans, denn er ist ihnen ein gesellschaftlicher Schädling, dem Recht geschieht, wenn mit ihm kurzer Prozeß gemacht wird. Im Haß auf denjenigen, der sich gegen die Schranken des Rechts auflehnt, bringt das gesunde Volksempfinden zum Ausdruck, daß die Selbstbeschränkung ein Zwang ist, den er von anderen ebenso verlangt, wie er ihn selbst zu umgehen sucht. Er will am Rechtsbrecher rächen, daß das Recht ihn nicht so läßt, wie er gerne möchte. Seine Gelüste nach Rache und Vergeltung sind einerseits öffentlich-rechtlich anerkannt („Aktenzeichen XY“) und treffen andererseits auf den entschiedenen Widerstand des Rechts, das daran festhält, daß zur Aburteilung der Person deren kodifizierte Berücksichtigung gehört.


Wer braucht die Justiz?

Man sieht, jede Auseinandersetzung mit der Justiz liegt im Gewaltcharakter des Rechts begründet, ob man ihn feiert, ihn als zu inhuman beklagt oder ihn zu seinen Gunsten ausnutzen will. Stets bemüht sich derjenige, der an der Justiz etwas auszusetzen hat, sein Interesse als Recht dem geltenden Gesetz entgegenzuhalten, also das eigene Anliegen im Recht gebührend berücksichtigt zu sehen. Auf diese Weise will jeder die Beschränkungen des Rechts loswerden und sei es im Ruf nach Gewalt, ohne nach deren rechtlicher Legitimation zu fragen und hängt dennoch am Recht. Die Justiz fällt ihre Urteile unbeirrt und widerlegt ihre Kritiker, die ihre Argumente als Standpunkte der Gerechtigkeit vortragen und so der rechtlichen Gewalt ihre Unterwerfung demonstrieren, durch ihre Praxis. Die Justiz als staatlich legitimierte Gewalt ist sich der Notwendigkeit einer Ordnung im allgemeinen Interesse sicher. Und im Namen des Volkes zwingt sie selbst ihre hartnäckigsten Kritiker in die Schranken des Gesetzes. Schließlich ist die Justiz nicht zuletzt dafür da zu verhindern, daß man dem Staat ungestraft an den Karren fährt.

„Strafe ist Repression“ sagt der Rechtsprofessor Maurach aus München kurz und bündig, und Repression muß sein, hätte er noch hinzufügen können und unterrichtet seine Studenten in deren Gebrauch. So geht ein ganzer Berufsstand mit dem achselzuckenden Verweis auf die Schlechtigkeit in der Welt dem Geschäft nach, diese mit Gewalt am Leben zu halten, wobei ein solcher Job ganz und gar nicht mehr zu bedauernde Voraussetzungen hat, wenn das Geschäft damit sich auszahlt.

XXDie Zitate stammen aus:

XXRolf Bossi, Ich fordere Recht
XXGerhard Mauz, Das Spiel von Schuld und Sühne
XXArno Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts
XXTheo Rasehorn, Recht und Klassen, zur Klassenjustiz in der Bundesrepublik

aus: MSZ 11 – Juni 1976

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