Gesalzene Dummheiten eines dienstbaren Geistes

 

Norbert Leser, weltbekannter Politikwissenschaftler und Sozialphilosoph, legt mit diesem Buch „eine umfassende und tiefschürfende Analyse des österrei­chischen Sozialismus vor“, meldet der Klappentext dezent, und wenn der Autor selbst in den „persönlichen Nachbemerkungen“ auch noch lockt: „Diese Fragen sind nicht bloß historischer Natur, sondern existentielle Fragen, mit denen ich selbst ringe ... im Sinne des schönen Schlußverses aus einem Gedicht der deutschen Lyrikerin Ina Seidel: »Ich fahre unerlöst durch diese Fremdnis hin, Gott sagt es mir dereinst, wer ich gewesen bin«“, dann laufen wohl einige Mitmenschen Gefahr, unter dem Weihnachtsbaum statt eines Geschenkes diesen Ziegel auszuwickeln. Die WHZ will helfen.


Ein Bild von einem Wissenschafter

Wer den Klappentext nicht liest und auch nicht regelmäßig das Vorlesungsverzeichnis der Wiener Universität studiert, der mag sich zunächst fragen, was dieses Werk eigentlich von der zahlreichen Konkurrenz unterscheidet, die sich ebenfalls vom Treiben der heimischen Parteien inspirieren läßt. Und ihm wird geantwortet, spätestens auf Seite 9:

„ ... wobei sich meines Erachtens das Bild bzw. die Metapher des Salzes besonders eignet, um sowohl die positiven als auch die negativen Wirkungen des Sozialismus, seine Leistungen und die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu umschreiben und zu beschreiben.“

Natürlich – hier spricht ein Wissenschafter. Kein übergewichtiger Kolumnist, der in ein paar Tagen hinschmiert, wie sehr ihn der Kanzler berauscht, kein abgehalfterter Politiker, der es nicht verschmerzen kann, daß sein Ruf als Sonnenkönig ein wenig gelitten hat, auch kein Literat, dessen Gefühle für die Politik von ihren banalen Vertretern so verletzt werden, daß es ihn an die Schreibmaschine reißt – nichts von alledem. Die Art, wie der Gegenstand angepackt wird, verrät unmißverständlich den Wissenschafter, den Mann der Forschung und der gediegenen Analyse.

Die funktioniert nämlich so, daß man sich für den verhandelten Gegenstand erstmal ein Bild einfallen läßt, um dann die Behauptungen, auf die es einem ankommt, aus ihm herauszuleiern:

„THESE I
Salz und Sozialismus sind unentbehrliche Zutaten und Würze von Speise bzw. Gesellschaft, ja haben den Rang eines »Salzes der Erde« bzw. Gesellschaft im biblischen Sinn. Sie stellen aber selbst keine ausreichende Nahrung dar und eignen sich nur als Ergänzung, nicht aber als Ersatz für eine vorgegebene Grundsubstanz. Salz ist gut zum Brot als Hauptnahrungsmittel, aber nicht umgekehrt.“ (S. 11)

Der Mann hat was gegen zuviel Sozialismus, soviel hört man raus – den Rest erledigt dessen Verwandlung in der. Bestandteil eines Kochrezeptes. Warum ist zuviel Sozialismus schlecht? Denk doch an ein versalzenes Essen: Salz als Hauptgericht – das schmeckt ja nicht!

Mit der Einführung des Bildes hat man sich vom Gegenstand freigespielt und kann so richtig loslegen: mit der Metapher nämlich und immer weiter innerhalb der Metapher – LESER wird alles los, was ihm in Sachen Sozialismus am Herzen liegt und braucht dafür kein einziges Argument, solange ihm nur irgendetwas mit Salz drin einfällt:

„THESE V
Salz und Sozialismus sind nur in «entsprechender Dosis bekömmlich und erträglich, sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel schaden.“ (S. 11)

Ganz klar – das hab ich ja neulich in der Krone gelesen: Stellen Sie sich vor, ein Eßlöffel Salz bringt einen erwachsenen Menschen auf der Stelle um! Und von zuwenig kriegt man einen Kropf. Oder war das Jod? Egal, die Verstaatlichte ist jedenfalls auch schon am Zusperren. Manchmal muß man sich schon ein wenig verrenken, um im Bild zu bleiben, was natürlich überhaupt kein Grund sein darf, zur Abwechslung ein wenig am Sozialismus selbst weiterzudenken:

„THESE XI
Sozialismus tut gut daran, nach vorne und nicht in die Vergangenheit zu blicken und sich nicht an alle Traditionen zu klammern, damit es ihm nicht wie der Frau des biblischen Loth gehe, die durch Zurückblicken auf der Flucht zu einer Salzsäule erstarrt ist.“ (S. 13)

Salz ist geduldig! Auch wenn die Metapher schon am Zahnfleisch geht – ist der Sozialismus jetzt die Salzsäule oder Frau Loth? Oder beides? Vor wem flüchtet die SPÖ eigentlich? Oder ist sie erstarrt?

Wie dem auch sei, 300 Seiten später, wenn es nach einer „Serie von Einzeldarstellungen und partiellen Einblicken“ darum geht, „zu allgemeinen Schlußfolgerungen vorzudringen“, kann der Professor die Früchte dieser feinen Methode ernten: Er verbrät tief-tiefe Geheimnisse über den Sozialismus, indem er vom Salz schwätzt! Das Kapitel heißt gar nicht überraschend „Wenn aber das Salz schal wird, womit soll man salzen?“ und faßt zunächst die zentrale Aussage des Buches wie folgt zusammen:

„Das einer Gesellschaft zuträgliche Quantum an Sozialismus und sozialen Impulsen ist kein von vornherein gegebenes und fixiertes Maß, sondern schwankt von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Situation zu Situation. Die reine und volle Verwirklichung eines Prinzips auf Kosten aller anderen führt auf jeden Fall in gesellschaftliche Engpässe ... Der Versuch, die Ergiebigkeit einer Gesellschaft oder auch nur ihr subjektives Wohlbefinden dadurch zu steigern, indem man ihr eine immer stärkere Dosis an Sozialismus zuführt, ist zum Scheitern verurteilt.“ (S. 286f.)

Hier sind wohl endgültig auch die böswilligsten Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des Werkes zum Verstummen verurteilt: LESER legt abgrundtiefe Prinzipien gelungener Gesellschaftsordnung frei, die man außerhalb der Universität einfach nicht geboten bekommt, außer vielleicht im „Seniorenclub“, in der Straßenbahn, im Taxi und bei der Großmutter. Nur kriegt das die Oma nie im Leben hin, ihr unterwürfiges „Nix übertreiben, dann wird man alt“ als Harmonisierungsvorschrift an weltgeschichtlich waltende Kräfte abzuleiten. Obwohl sie die richtige Sekundärliteratur wahrscheinlich sogar zuhause stehen hat:

„Schlägt man im deutschen Sprichwörterlexikon nach, wird man gerade in diesem Zusammenhang fündig ... Da heißt es unter anderem: »Man muß nicht mehr Salz ans Fleisch tun als sich gebührt, sonst wird’s versalzen.« »Mit Salz und Spaß muß man nicht übertreiben.« ...“ (S. 286)

Sozialismus kommt hier endgültig nur noch vor als ein Problem seiner richtigen Dosierung in Rezepten, auf die LESER steht. Ganz selbstverständlich ist es einem Ordinarius für Gesellschaftsphilosophie, daß man seinen Gegenstand nicht erklärt, sondern für die beste aller möglichen Welten einspannt. Auf die „Steigerung“ der „Ergiebigkeit“ von „Gesellschaft“ kommt es LESER an, und der Sozialismus muß sich die Frage gefallen lassen, ob er dafür was taugt. Prinzipiell ja, ist die Antwort, aber man muß höllisch aufpassen: Zuviel darf es nicht sein, zuwenig wäre auch ganz schlecht! Was Sozialismus ist, wird man bei diesen „allgemeinen Schlußfolgerungen“ nicht mehr erfahren – es gibt halt nichts zu lernen, wo die Theorie einer Sache darin besteht, Ihr eine Aufgabe anzuhängen, sie dafür fest in die Pflicht zu nehmen und zu guter Letzt Noten zu verteilen. Dafür nämlich, ob sie den goldenen Mittelweg, den sich Gott und die Welt von LESER zeigen lassen dürfen, auch konsequent geht. Fehltritte können dabei gar nicht ausbleiben. Da wird der Philosoph fündig!

„Auch in der Tierwelt wird deutlich, welch hohe Bedeutung der richtigen Dosierung von Salz zukommt ... So magern Kühe und andere Tiere in salzarmen Gegenden ab und bieten in Ihrer Dürre ein Bild des Jammers, während Tiere, die ausreichend Salz in ihrer Nahrung haben, einen wohlgenährten Eindruck machen. Dieser Umstand hat manche dazu verführt, den Anteil des Salzes an der Nahrung in der Hoffnung zu steigern, damit auch das Wohlbefinden und die Fruchtbarkeit der Tiere zu erhöhen. Dies stellte sich jedoch, wo es versucht wurde, als Irrtum heraus.“ (S. 286)

Daß Salz läßt ihn einfach nicht im Stich und vor lauter Freude merkt LESER gar nicht. daß seine großartigen Auskünfte über den Salzialismus auf buchstäblich jeden Mist genausogut „zutreffen“. Die Beurteilung nach „zuviel“ und „zuwenig“ bleiben jeder Sache ganz prinzipiell äußerlich, insofern aber auch sehr universell einsetzbar. Sonne macht die Felder fruchtbar, zuviel Sonne macht sie zur Wüste. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not – aber Geld allein macht nicht glücklich. Scheißen muß der Mensch, aber zuviel stinken soll’s auch nicht. Und was nimmt man mit aus dem Salzbergwerk? Der Sozialismus ist, daß er sich gefälligst an seinen von LESER ermittelten Auftrag halten soll. Nämlich stets in der richtigen Dosierung segensreich zu wirken.


Die historische Mission des Sozialismus: Ausbeutung mit menschlichem Antlitz

Und genauso hat unser Professor den Sozialismus auch liebgewonnen – als den Erfüllungsgehilfen seiner Gesellschaftsphilosophie des „Nichts zu sehr“, eine Strömung, ohne die einfach nichts weitergegangen wäre in Richtung einer harmonischen und ordentlich ausgewogenen Gesellschaft. Denn was mußte der junge LESER bei seinem Blick in die Geschichte feststellen: Da wütete ein „Prinzip“ ganz selbstvergessen und wollte sich „rein verwirklichen“ – der Kapitalismus. So kam es, wie es kommen mußte. Anständige Menschen wurden in den Widerstand getrieben, Streiks wurden ausgerufen, viele kehrten der Kirche den Rücken, begannen schlecht vom Staat zu sprechen! Die Gesellschaft war in ihrem Funktionieren gefährdet, der Fäulnis ausgesetzt. Was braucht’s da? Salz natürlich!

Also nahm die SPÖ endlich ihre „historisch längst fällige“ Gründung vor und machte gleich alles falsch. Statt den Kapitalismus abzuschmecken und abzurunden, meinte sie tatsächlich, sich als alternatives „Prinzip“ inthronisieren zu müssen und brüllte Parolen wie „Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus heißt das Ziel.“

Was dieser Verein dann gemacht hat, nämlich die gerade noch verschmähte Demokratie Volldampf voraus nach seinen Vorstellungen zu „reformieren“, ist dem Professor gut bekannt.

Den daraus fälligen Schluß mag er allerdings nicht ziehen: Wer etwas abschaffen will, der denkt sich keine Verbesserungen aus, weil ihm nämlich genau das stinkt, daß der ganze Laden viel zu gut läuft. Selbst das staatstragende Programm der Sozialdemokratie, dem Proletariat zur Freiheit der Lohnarbeit die Gleichheit des Wahlbürgers zu verpassen, die Arbeiterklasse also politisch zu betreuen, stößt nicht auf ungeteilte Zustimmung LESERs: Als kompetente Stelle für die fachgemäße „Dosierung“ von „Gesellschaftsideen“ beäugt er eben jede Form von Kritik an einer Gesellschaft argwöhnisch vom Standpunkt des Funktionierens und Prosperierens der bestehenden Ordnung.

Dem Kapitalismus zum Beispiel muß er da ein Riesenkompliment machen, weil der doch sogar

„wenn auch unter großen menschlichen Opfern (!) m relativ kurzer Zeit imstande war, seine Überlegenheit gegenüber dem Feudalismus empirisch zu demonstrieren ...“ (S. 283)

– schließlich gibt’s ihn ja ganz „empirisch“ und den Feudalismus nicht mehr.

Und der Sozialismus? Der kriegt, bei allem Argwohn, als (sozial-)demokratischer Verschönerungsverein zunächst nur Höchstnoten, weil er mit seinen Reformen dem Kapitalismus genau jene unentbehrliche Zutat und Würze“ gegeben hat. die diesen erst so richtig unwiderstehlich gemacht hat. Als Dienstleistung am Fortbestand des Kapitalismus, der sich sonst womöglich selbst das Wasser abgegraben hätte, schätzt ihn LESER ungemein:

„Denn die revolutionäre Verwirklichung und Entladung ist nach allen historischen Erfahrungen nur dann gegeben, wenn die Verzweiflung Regie führt und wenn die absolute Verelendung ... den Massen keine andere Wahl läßt (...) Wenn sich die arbeitenden Menschen aber im Besitz von Errungenschaften befinden, mögen sie noch so bescheiden sein, ist diese Voraussetzung einer revolutionären Erhebung nicht mehr gegeben.“ (S. 209)

„Die reine und volle Verwirklichung eines Prinzips auf Kosten aller anderen führt auf jeden Fall in gesellschaftliche Engpässe. Dies hat der Kapitalismus zur Kenntnis nehmen müssen und sich vom Sozialismus auf das erträgliche Maß einpendeln und korrigieren lassen müssen.“ (S. 284)

Was das für die Adressaten solcher Wohltat heißt, plaudert LESER in dieser offenherzigen Einschätzung sozialdemokratischer Errungenschaften auch gleich aus: Die Arbeiter gehören an dem dadurch entstandenen salzosophischen Gesamtkunstwerk namens „soziale Marktwirtschaft“ eben genau so beteiligt, daß ihre sozial verwaltete Armut sie zum Dienst am Kapitalismus anstachelt.

„Deshalb erhebt sich im Hinblick auf die Umverteilungspolitik und im Bereich der Sozialpolitik die Frage, wieweit man im einzelnen gehen kann und soll. (...) Es ist ... in die Überlegungen einzubeziehen, wieweit soziale Maßnahmen wirklich dem Schutz der Bedürftigen dienen und wieweit sie geeignet sind, den Leistungswillen, auf den keine Wirtschaft verzichten kann, zu mindern oder gar zu zerstören und damit kontraproduktiv zu wirken ...“ (S. 285f.)

Daß jemand das „soziale Netz“ als Hängematte mißbrauchen könnte, ist der schlimmste Alptraum unseres Professors. Daß einer am Verhältnis vom Lohn zur zu erbringenden Arbeit nichts Lohnendes entdeckt und sich selbst daraufhin in Rente schickt, um von der Wohlfahrt weiterzuleben – unerträglicher Gedanke. Der Sozialstaat muß den Stachel der Armut erhalten, sonst ist „die Wirtschaft“ wirklich vom „Leistungswillen“ der Proleten abhängig – ein völlig „kontraproduktiver“ Zustand.

Das ist das dicke Ende der ganzen Schwafelei über Kühe, Herrn und Frau Loth, das deutsche Sprichwörterlexikon und „gesellschaftliche Engpässe“: das zynische Lob einer Partei, die es geschafft hat, jede Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus in einen Auftrag an den Staat und sich zu verwandeln, ihm ein „menschliches Antlitz“ zu geben.


Zwei Dinge braucht die SPÖ: einen neuen Namen und Norbert LESER

Oder doch nicht? Der Professor kann der SPÖ die radikalen Reden von anno dunnemals einfach nicht vergessen, und die „revolutionäre Endkampfperspektive“, die zwar „allmählich verblaßte“, aber nie ganz „aufgegeben wurde“ (S. 268), läßt ihm keine Ruh’.

Ein Mensch, der von Berufs wegen Macht und Geist verwechselt, hat eben, wenn er über die Partei philosophiert, so seine Schwierigkeiten, die Ideengeschichte der SPÖ von ihrer Praxis zu unterscheiden. Dieser Verein hat es nämlich auf seinem dornigen Weg zur Anerkennung als staatstragende Kraft immer schon so gehalten, bei entsprechenden Anlässen in die Schatzkiste der Tradition zu greifen und daraus völlig gegensätzliches „Gedankengut“ zu verwenden:
Marx genauso wie Lassalle, Engels genauso wie den anschlußwütigen Otto Bauer, je nach agitatorischer Zwecksetzung und herrschender Konjunkturlage. Daß dieses Material der Einseiferei nie und nimmer die praktischen Zwecke der Politik bestimmt, war dabei allen Beteiligten irgendwie klar – nur LESER nicht.

Der entdeckt nämlich einen Gegensatz zwischen dem, was die Partei sonntags gerne von sich gegeben und dem, was sie werktags im Parlament durchgesetzt hat und fragt sich, wie das weitergehen soll. Wenn die SPÖ sein Rezept für bombensichere „Gemeinwesen mit Recht und (?) Gesetz“ schon so erfolgreich nachgekocht hat, ohne es überhaupt zu kennen; wenn man den Kapitalismus nicht mehr durch Widerstand darauf verpflichten muß, auf die Funktionalität seines Menschenmaterials Rücksicht zu nehmen, weil dafür ein ganzer Sozialminister samt diverser, anderen wichtigen Menschen zuständig ist: wenn es also ein hochoffizielles Salzamt gibt, auf das sich die Zukurzgekommenen beschweren gehen können – was soll da eine „Sozialistische Partei Österreichs“ noch mit sich anfangen?

Erstmal einsehen, daß sie ihre von LESER aus Geschichte und Sprichwörterlexikon abgelauschte Aufgabe erfüllt hat und die Prätention aufgeben, als wäre damit nicht schon die beste aller möglichen Welten eingerichtet:

„Der Begriff »Sozialismus« ist also in der Welt von heute irreführend bis nichtssagend. Er suggeriert außerdem (!) eine perfekte Gesellschaft, die noch vor uns liegt und in die wir uns durch einen großen Sprung, der noch bevorsteht, erst begeben müssen.“ (S. 292)

Dann gleich die Umbenennung „in Richtung Sozialdemokratie“ durchziehen und weiter verschärft auf Professor LESER hören, der den Funktionären vom Observatorium gesellschaftlich-philosophischer Reflexion ihren Platz im Lauf der Welt predigt: es sei eben die „Kehrseite der notorischen Erfolge“, daß man jetzt alle auf diversen „Zukunftskongressen“ ausgegebenen „Visionen“, die für die Zukunft mehr versprechen, als daß man weiterhin SPÖ wählen darf, einzumotten hat und sich auf Werte besinnen muß,

„die tief in der europäischen Tradition verwurzelt sind. Eine solche Besinnung auf traditionelle Werte, die durch Reformen gefördert und besser zur Geltung gebracht werden können, könnte zu einem edlen Wettstreit mit den deklariert Konservativen führen ...“ (S. 291)

Darauf aufzupassen, daß niemand mehr so tun darf, „als ob alles Bisherige nur ein Vorgeschmack des Künftigen, ganz anderen, wäre“ (S. 292) – dafür würde sich LESER zur Verfügung stellen, und er macht für sich mit der Einsicht Werbung,

„ … daß der Sozialismus eine zu kostbare Sache ist, um seine Liquidierung allein den Gegnern zu überlassen, und die notwendige Liquidierung, sofern sie sich von der Sache her aufdrängt, am besten in eigener Regie vorgenommen wird ...“ (S. 260)

Obwohl und gerade weil der Sozialismus also die ihm von LESER zugedachte Aufgabe als gültige Antwort auf die Überlebensfragen des Kapitalismus so glänzend erfüllt hat, gäbe es für einen „Vordenker“ (LESER über LESER) noch einiges zu tun.


Ich war Kreiskys Briefbeschwerer

Die Sache hat nur einen Haken: Der Professor schleimt offene Türen ein. Die Sichtweise, vor der er immerzu warnt, wonach die Politik der SPÖ eigentlich ganz was anderes ist, als was die Brüder tatsächlich machen, nämlich irgendwie immer ein erster, wenn auch viel zu kleiner Schritt in Richtung einer besseren Welt, pflegt nicht einmal mehr der VSSTÖ. Die Sozis erledigen ihre „Visionen“ von gestern, die laut Vranitzky ohnehin eher von medizinischem Interesse sind, eben in Eigenregie – und es ist nicht ganz einfach, sich als Beschützer der Partei vor ihrem utopischen Erbe wichtig zu machen, deren Vorsitzender nur noch damit agitiert, daß er die zwecks Beförderung nationaler Pracht („Europareife“ heißt das heute) nötigen Härten ohne mit der Wimper zu zucken durchsetzen wird.

So verpflichtet LESER die SPÖ auf all das, was sie ohnehin macht, kriegt damit einen Bestseller hin und ist auch wieder recht überflüssig. Der gute Professor liegt halt so stramm auf Linie, daß sich niemand findet, der ihm parteioffiziell und am besten vor laufenden Kameras bestätigt, er hätte genau damit einen rasend wichtigen Beitrag zum Kurs der Sozialdemokratie für die 90er geleistet. So kürzt sich die kapitelweise beschworene Gefahr für die Krise der SPÖ darauf zusammen, daß Herr LESER über die Jahre ein bißchen aufs Abstellgleis geraten ist und keine großen Parteitagsreden mehr schwingen darf. Das kränkt den Professor, schließlich hat er „mehr als die meisten über die Sozialdemokratie nachgedacht und publiziert“ (S. 323) – sogar das „Äußere“ vom Vranitzky findet er „einnehmend“; da sollte es doch möglich sein, ihn wieder ein wenig was vordenken zu lassen.

Vorerst scheint aus dieser einst so vielversprechenden Karriere jedenfalls die Luft raus zu sein: mit 34 schon Ordinarius und fast 20 Jahre später immer noch Lehrstuhlwärmer für Gesellschaftsphilosophie, mit überhaupt nicht prominenten Studenten in armselige Hörsäle gesperrt! Da kann man schon schwermütig werden:

„Damals, als ich noch einer der hoffnungsvollen jungen Männer in Kreiskys Gefolge war, durfte ich mich noch eines ziemlich weit gestreuten Beifalls nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der Partei erfreuen ... Höhepunkt dieser Phase meiner Entwicklung war die Rede, die ich … am Villacher Bundesparteitag 1972 hielt. Ich erntete ... Applaus und Zustimmung bis in die oberen Ränge der Parteihierarchie und bis hinab zu den Jusos ...“ (S. 324)

So und ähnlich tobt sich seitenweise die gekränkte Eitelkeit eines „Dissidenten“ (Norbert über LESER) aus, der in minutiösen Schilderungen vergangener Sternstunden, in denen er der SPÖ schon nützlich und überhaupt angenehm sein durfte, zu verschmerzen versucht, daß sein untertäniges Bedürfnis nach persönlicher Zuwendung bedeutender Persönlichkeiten nicht mehr zum Zug kommt.

„Das müßte doch nicht sein“, ist der peinliche Professor beleidigt – früher ist es ja auch gegangen. Oskar Helmer zum Beispiel hat ihn noch acht (in Worten: acht) Tage vor seinem Tod, also praktisch schon vom anderen Ufer, einen „ausführlichen“ Brief geschrieben. Das war am 13. Februar 1963! Und kaum 15 Jahre drauf: ein „sehr zustimmendes und persönliches Schreiben“ von Kreisky. Bruno Kreisky.

 

Wiener Hochschulzeitung (WHZ), November 1988

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