„Das spanische Wunder“

ARBEITERSTIMMEN FÜR EINEN MODERNEN KAPITALISMUS

Ein Wunder war es nicht, was sich letzten Mittwoch in Spanien ereignete. Die Mächte, die Spanien die erste freie Wahl seit über 40 Jahren beschert haben, sind durchaus von dieser Welt; und keinen wundert’s, daß sie die Wahl gewonnen haben.
Die Bewunderung, mit der hiesige Beobachter die spanischen Wahlen als Jahrhundertereignis feiern, gilt der Tatsache, daß in den letzten zehn Monaten die Abkehr Spaniens vom franquistischen Regime mit einer Geschwindigkeit und Hektik betrieben worden ist, die ihresgleichen sucht. Ohne einen Putsch der Armee, und ohne daß das spanische Volk für seine, vier Jahrzehnte lang gewaltsam unterdrückten Freiheiten auf die Barrikaden gegangen wäre – wie beim iberischen Nachbarn – sind die spanischen Reformer in kurzer Zeit von tragenden Figuren des diktatorischen Systems zu Demokraten geworden, die ihre Politik nicht mehr einfach gewaltsam mit Armee und Miliz durchsetzen, sondern sich in Volksabstimmungen und Wahlen dafür das Placet des Volkswillens einholen.

Weder der Monarch noch seine Regierung haben die Staatsgewalt in Spanien aus der Hand gegeben und sie dem Volk überantwortet, sondern sie haben sich mit der Wahl die Zustimmung der Leute zu ihrem politischen Programm verschafft, die das neue Spanien schaffen sollen. Alle Parteien, die sich an Spaniens Wahl beteiligen, sind sich einig darin, daß es in Spanien viel anzupacken gibt, und daß es dazu des aktiven Einsatzes der Spanier bedarf:

„Die fünf »Großen« sind sich darin einig, daß man in der Wirtschaftspolitik die Zügel nicht länger schleifen lassen darf. Den Ernst der Lage verkennen weder die Linke noch die Rechte.“ (DIE ZEIT)

Wie ernst die Lage ist, verdeutlicht die erste Maßnahme, die nach einhelliger Meinung aller Gruppen nach der Wahl ansteht. In einem Sozialpakt sollen Spaniens Gewerkschaften in Zusammenarbeit mit den spanischen Unternehmerverbänden dafür sorgen, daß die spanische Wirtschaftspolitik nicht durch ungezügelte Ansprüche der spanischen Arbeiter gefährdet wird. Nun war allerdings die franquistische Wirtschaftspolitik alles andere als schlaff; in der Wahl der Mittel, die Ausbeutung in Spaniens Fabriken und auf dem Land abzusichern, waren die Falangisten nie zimperlich. Was den Ernst der Lage ausmacht, ist nicht die Folge eines übertriebenen „Laissez-faire“, sondern das Resultat einer Wirtschaftspolitik, die durch die unmittelbare Förderung des nationalen Kapitals und der Großgrundbesitzer Spaniens Wirtschaft nicht nur das schon klassische Problem einer defizitären Zahlungsbilanz, sondern auch mit die höchsten Inflations- und Arbeitslosenraten in Europa bescherte. Der Sozialpakt, der freiwillige Lohn- und Kampfverzicht durch die Organe der Arbeiterschaft, soll einerseits den Mangel des ehemaligen staatlichen Zwangssyndikats OSE aufheben, dessen gewaltsam abgesicherte Lohndrückerei dem Staat die lästigen Kämpfe der Comisiones Obreras einbrachte. Zu diesem Zweck legalisiert der spanische Staat die bisher im Untergrund operierenden Gewerkschaften und schreibt ihnen mit der Legalisierung die Form vor, in der sie den Lohnkampf zu führen haben.
Zum anderen soll der Zwang gegenüber den spanischen Kapitalisten, selbst die Ausbeutungsbedingungen mit den Gewerkschaften auszuhandeln, eine Gestaltung des lästigen Stör- und Kostenfaktors „Lohn“ bewirken, die die Arbeiter zu vermehrter Anstrengung zwingt, weil ihre Vertretung das Stillhalten mit dem „Sozialpartner“ vereinbart – eine Lohndrückerei, die von der Arbeiterschaft akzeptiert wird, weil der Staat sie nicht mehr unmittelbar durchsetzt.
Daß die Freiheit der Gewerkschaften, die zweifellos für Spanien ein Fortschritt ist, gerade den Zwang gegenüber den Gewerkschaften bedeutet, die Interessen der Arbeiter denen des Kapitals unterzuordnen, macht der spanische Staat schlagend klar: am 1. Mai dieses Jahres ließ Suarez wie eh und je die Kundgebungen durch Armee und Guardia Civil zerschlagen. Wenn Spaniens Gewerkschafter, kaum daß sie wieder frei operieren können, sich in die Reihe der „posibilistas“, der Männer des Möglichen, einordnen, nichts besseres zu tun haben, als in Genf den Dialog mit den spanischen Unternehmerverbänden zu suchen, von Mitbestimmung zu faseln, und sich dabei der guten Erfahrungen zu rühmen, die sie in westdeutschen Gewerkschaften gesammelt haben, dann bieten sie Spaniens Arbeitern die wenig erfreuliche Perspektive, sich freiwillig jenen „europäischen Kriterien“ zu unterwerfen, deren Durchsetzung in Spanien das spanische Kapital von der alten und neuen Regierung fordert:

„Spanien erhofft sich sehr günstige Ergebnisse von seiner politischen Neuordnung: geringere staatliche Interventionen, klare Machtverhältnisse und Arbeitsbedingungen in Anlehnung an europäische Kriterien und nicht zuletzt die Angliederung Spaniens an die EG. Spanien vertraut jetzt auf die politische Evolution im Lande und auf eine starke Regierung, die die notwendigen Schritte zur Gesundung der Wirtschaft ergreift.“ (Anzeige der Spanischen Handelskammer)

Die Rechnung, die das spanische Kapital aufmacht, ist einfach. Es will eine starke Regierung, die die Arbeiter zu einem arbeitsamen und bescheidenen Dasein zwingt, und es dem Kapital überläßt, wann der Staat es zu stützen hat. Eine stabile Regierung, die den Arbeitern ordentlich eins draufgibt, läßt freilich auch die Kapitalisten nicht ungeschoren davonkommen, wie die zweite Maßnahme beweist, über deren Dringlichkeit sich alle spanischen Politiker ebenfalls einig sind: die Steuerreform. Die Schaffung eines ordentlichen Kapitalismus in Spanien kostet den Staat einiges. Die sonnenhungrigen Touristen, die Spaniens Devisenpolster aufbessern, haben dem Land zwar Skylines von amerikanischem Ausmaß eingebracht, der spanischen Ökonomie aber weder einen Produktivitätsfortschritt, noch die für die optimale Nutzung des Kapitals erforderliche Infrastruktur, ein Manko, das der spanische Staat an der zurückhaltenden Investitionstätigkeit der ausländischen Kapitale merkt. Und die Überweisungen der spanischen Arbeiter, die sich im Ausland ausbeuten lassen müssen, weil ihre ordentliche Ausbeutung durch die nationalen und ausländischen Kapitale im Lande noch nicht durchgesetzt ist, haben dem spanischen Staat nicht das Geld eingebracht, das soziale Netz zu knüpfen, das er zur Herstellung einer ordentlichen Arbeiterklasse in Spanien braucht. Die Leistungen, die der spanische Staat für seine Wirtschaft erbringen will, machen eine Steuerreform nötig, die in Spanien für Steuergerechtigkeit sorgt; womit die Reformer nicht die Arbeiter entlasten, die auch weiterhin ordentlich geschröpft werden, sondern die sprudelnden Quellen des nationalen Reichtums für den Staat auszuschöpfen suchen. Wenn die Großgrundbesitzer und Kapitalisten, deren Steuerleistung bisher symbolisch war, weil der spanische Staat unmittelbar mit deren Interesse identisch war und durch die Steuergroschen der Arbeiter immer noch genug Geld für den notwendigen Gewaltapparat im Etat hatte, jetzt zur Kasse gebeten werden, so macht ihnen der spanische Staat klar, daß der Übergang zum ordentlichen Kapitalismus, den er in Spanien durchsetzt, auch die etwas kostet, zu deren Nutzen er veranstaltet wird.

So macht der spanische Staat mit Sozialpakt und Steuerreform seine Ökonomie für Europa reif, um ausländisches Kapital zur Entwicklung der eigenen Ökonomie ins Land zu holen und die spanische Arbeiterklasse als Ausbeutungsmaterial fürs nationale Kapital zu erhalten. Doch gerade weil Spanien sich zur eigenen Stärkung europäischen Kriterien unterwirft, sind all diese Maßnahmen noch lange nicht die Garantie dafür, daß Spanien auch in die Gemeinschaft der europäischen Demokratien aufgenommen wird, worauf der starke Mann der EG seinen spanischen Staatsgast mit Nachdruck hinweist:

„Und es ist ja nicht so, daß die Mitglieder der EG alles nur Brüder wären, die im Geiste der Brüderschaft aufeinander losgingen (!), sondern sie sind andererseits auch Konkurrenten, mindestens im Sinne der Wirtschaft und nicht nur in der Industrie, sondern eben in der Landwirtschaft.“ (Schmidt zu Juan Carlos)

Weil die feindlichen Brüder Europas schon genug Ärger mit Zitrusfrüchten haben, kommen ihnen die spanischen Apfelsinen gar nicht gelegen. Die Chancen, die Spanien seinen europäischen Nachbarn anbietet, lassen sich auch mit diversen Zusatzabkommen, ohne volle EG-Mitgliedschaft ausschlachten. Daß dieser europäische Wartestand die Profite der spanischen Kapitale kaum schmälert, für die spanischen Arbeiter freilich nichts Gutes heißt, können diese nicht nur durch einen Blick über des Nachbarn Zaun erfahren; sie werden auch sehr bald merken, daß Spaniens Weg zum reifen kapitalistischen Staat die Verschärfung ihrer Ausbeutung bedeutet.

 

Amnestie für eine brauchbare Opposition

Weil die Stärkung der spanischen Ökonomie, auf die die Reformer so scharf sind, gerade darin besteht, daß die Arbeiter die Ausbeutung zu ihrem eigenen Zweck machen, brauchen Suarez und Konsorten für ihr Sanierungsprogramm die Zustimmung der arbeitenden Wähler, und das heißt zunächst einmal, daß sie sich der Organisationen versichern, die trotz Exil und Illegalität in der Arbeiterschaft verankert sind. Entlassungsscheine und Pässe verschafft Suarez denjenigen Parteien, die ihm die Gewähr bieten, durch ihren Wahlkampf und ihre parlamentarische Arbeit diejenigen zur Mitarbeit am Reformprogramm anzuhalten, auf deren Rücken es ausgetragen wird. Von daher gestaltet sich der Verkehr an Spaniens Gefängnistüren und Grenzen recht einseitig:

– Die baskischen Kämpfer werden freigelassen und dann ins Ausland abgeschoben. Ihre Teilamnestie ist unumgänglich, um die Störung der Wahl im Norden Spaniens zu verhindern, wie man sieht, mit Erfolg. Doch gebrauchen kann der spanische Staat die ETA bei seinem Demokratisierungsgeschäft nicht. Weil die baskischen Kämpfer sich in unrühmlicher Tradition weigern, den Kampf gegen die brutale Ausbeutung in Bilbao und Umgebung als Klassenkampf zu führen, und sich stattdessen mit allen Mitteln für ein autonomes Euzkadi starkmachen, kann der spanische Staat mit der baskischen Störung fertigwerden. Er schiebt die militanten Kämpfer, deren Anschläge und Entführungen ihm ein Dom im Auge sind, ins Ausland ab und kommt den übrigen Basken mit der föderativen Lösung ihrer Probleme entgegen – auch dies, wie es scheint, mit Erfolg.

– Auf die Grenzgänger in umgekehrter Richtung, die spanischen Kommunisten der PCE kann sich Suarez verlassen. Er hat diese Gewißheit, weil niemand versessener darauf ist, in die Wahlschlacht und anschließend als wackere Opposition in die Cortes zu ziehen als Carrillo und Genossen. Statt die gewonnene Legalität für die Durchsetzung der Interessen der Arbeiter zu nutzen, hat die PCE nichts eiligeres zu tun, als ihr Programm der „nationalen Versöhnung“ in die Tat umzusetzen. Statt die spanischen Arbeiter daran zu agitieren, daß die Legalisierung einer kommunistischen Partei in Spanien keine Selbstverständlichkeit ist, wie die Putschdrohungen der Armee zeigen, feiert Carrillo Suarez als ehrenwerten Mann, gegen den nicht zu kämpfen ist, weil er die Legalisierung der PCE durchgesetzt hat. Nichts macht den Wahnsinn der PCE, die ihre Politik radikal in der Demokratisierung Spaniens aufgehen läßt und sich so als probates Mittel erweist, den spanischen Arbeitern Reformillusionen ins Hirn zu jagen, so deutlich wie die Rolle der „Pasionaria“. Sie ist unentbehrlich für die Partei, weil von ihrem Programm als kommunistische Partei sowenig übriggeblieben ist, daß sie sich vor allem auf ihre Tradition stützen muß – und wer würde die besser verkörpern als Dolores? Doch durfte die alte Dame im Wahlkampf kaum zu Wort kommen, weil ihr russischer Zungenschlag den Eindruck hätte aufkommen lassen, der PCE gehe es um etwas anderes als um die spanische Nation.

– Eine kommunistische Partei, die am „C „ im Parteinamen festhält, um den spanischen Wählern ein Programm der nationalen Sanierung anzupreisen, das sie noch auf jedem Wahlplakat finden können, treibt einen Großteil der Wähler in die Arme der Partei, die den spanischen Arbeitern das Versprechen auf eine bessere Zukunft gleich mit dem nötigen Realismus macht. Die PSOE des Felipe Gonzalez, „marxistisch geprägt, ohne dies als Dogma herauszustellen“ (SZ), hat bei ihren Bonner Parteifreunden nicht nur die Finessen des modernen Wahlkampfs studiert, sondern auch gelernt, daß der Demokratische Sozialismus die adäquate Politik ist, in Spanien den „Übergang vom Untertanen zum Bürger“ (Gonzales) in Szene zu setzen, den Opfern der Ausbeutung diese als unumgängliche Vorleistung für das Erreichen der idealen, besseren Welt nahezubringen; weshalb sich die Forderung nach einer Verstaatlichung der Banken im Wahlprogramm ebenso gut macht wie die „Internationale“ auf den Wahlversammlungen – auch wenn sie nur aus dem Lautsprecher kommt. Unberührt von den Windungen der PCE konnte der „vernünftige Republikaner“ (Gonzalez über sich) die Hoffnungen der spanischen Wähler auf eine bessere Zukunft in Wählerstimmen für seine Partei ummünzen und so Spaniens Reformprogramm in den Arbeitervierteln und in Andalusien absichern, in Gegenden, wo sich Suarez wenig versprechen durfte. Ob die PSOE nun mit dem Demokratischen Zentrum eine Regierungskoalition bildet, oder eine verläßliche Opposition in den Cortes abgibt, sie ist auf jeden Fall eine Stütze der Reform.

Das „spanische Wunder“ ist also ausgegangen wie alle politischen und ökonomischen Wunder dieser Welt,: zum Schaden derer, die das Wunder herstellen müssen. Und so hat auch der spanische Soziologe recht, den der SPIEGEL bemüht:

„Der Durchschnittsspanier hat eine Drehung um sich selbst gemacht.“

Der spanische Arbeiter, der letzten Mittwoch seine Stimme an die PCE, die PSOE oder gleich an die UCD abgegeben hat, unterscheidet sich von dem, was er früher war, nur dadurch, daß er die demokratischen Freiheiten dafür genutzt hat, wofür sie da sind: für die aktive Unterwerfung unter die Ausbeutung.

(Rote Zellen und Marxistische Gruppen, Hochschulzeitung 1977)

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