Grundgesetzwochen an der Uni Tübingen

Kommunikation mit gemütlichen Gewaltmenschen


Die Leitung der Universität Tübingen, das als ebenso verschlafen wie als geistig aufgewecktes Provinzstädtchen gerühmt wird zeigte zur Gelegenheit der 30-Jahrfeier der Verfassung der BRD, daß man hier keineswegs hinterm Mond, sondern auf der Höhe der Zeit ist:

,,Amerikanischen Hochschulvorbildern folgend hat sie für dieses Sommersemester vier ältere Persönlichkeiten der Nachkriegspolitik eingeladen.“ (Schwäbisches Tagblatt).

Mit dem von ihm inszenierten Novum gibt der Uni-Präsident Theis nicht nur zu erkennen, daß seine Amerikareise nicht umsonst war, sondern auch, daß er über den Zustand der staatsbürgerlichen Bildung seiner Studenten sehr wohl informiert ist: Früher (und andernorts auch heute) mag es bisweilen opportun gewesen sein, daß die aktuellen Praktizierer der Staatsmacht an der Uni auftauchten, den Studenten Fragen gestatteten und sie so auf Vordermann, das heißt hinter sich zu bringen; heutzutage stehen die Studenten schon derart hinter ihnen, daß ein Uni-Präsident auf den produktiven Einfall kommt, ein staatliches Agitationsprogramm zu präsentieren, in dem nicht nur die Sorgen der Studenten gar nicht mehr vorkommen, sondern bei dem es umgekehrt gleich darum geht, einen ,,kritischen Disput“ für Probleme zu führen, die Menschen bei der Ausübung der Staatsgewalt haben.


Die Macht a.D. trifft den Tübinger Geist

So ist denn auch die Feststellung der Uni, daß „ein einmaliger Vortrag als Form der Kommunikation von den Studenten kaum mehr angenommen wird“ (Mitteilung des Präsidenten an die Mitarbeiter) keineswegs ein Grund zur Besorgnis staatlicherseits, vielmehr Anlaß zur politischen Offensive:

„Das Programm entstand aus der Absicht, auf ein deutlich erkennbares aktuelles Bedürfnis der Studenten zu reagieren. Bei vielen ist Skepsis oder Ratlosigkeit hinsichtlich der eigenen Rolle und der Aufgabe in der Gesellschaft zu beobachten – doch, komplementär dazu, zugleich Offenheit für fundierte Information und Entscheidungshilfe.“

Studentenfreundlich wie immer erfindet man für die aufgeschlossene Elite ein Politikbedürfnis, um ihnen damit die nicht minder erlogene Skepsis auszutreiben und läßt die Altvorderen der BRD von Dozenten in Vorlesungen und Seminare einladen, wo sie für kritische Fragen offenstehen.

Es kamen: Der schlagfertige Innenminister a.D. Hermann Höcherl, der berufsmäßige Gewissenswurm der deutschen Politik Heinrich Albertz. Kommen werden: der Zeit-Mensch Gerd Bucerius, Finanzminister a.D. Alex Möller; nächstes Semester: der Ober-Bayer a.D. Alfons Goppel, Frau Marion Gräfin Dönhoff (um ein Haar auf die Initiative des hauptsächlich sich selbst dauernd ins Gespräch bringenden Rhetorikers Walter Jens Kandidat für das höchste Staatsamt) und andere mehr. Das Charakteristische an diesen Persönlichkeiten ist ihr a.D.:

Allesamt haben sie ihre Tatkraft für den Dienst am Staat eingesetzt; aber das gehört der Vergangenheit an: Sie sind außer Dienst und können so als Praktiker der Staatsgewalt a.D. sich voll und ganz in den Dienst am Staat stellen, indem sie mit dem öffentlichen Präsentieren ihrer menschlichen Problematik als Politiker, ihrer Stellung zur Macht, die sie ausübten, für die Macht agitieren gehen, die nun ihre Freunde ausüben.

So kam also die Politik so nach Tübingen, wie man sie sich – und alles andere – hier wünscht; als Mensch. Es war ja auch Zeit, an der Stätte, wo man grundsätzlich einen auf Kommunikation macht, endlich mal die wirklich bedeutenden Männer in dieselbe einzubeziehen. In der von ihr gestifteten Begegnung des Geistes mit der Macht feilte die Universität Tübingen an ihrem Image, demzufolge sie gerade als Alma Mater in der Provinz jenen weltoffenen Kosmopolitismus repräsentieren will, den noch jeder Spießer gerne zur Schau stellt, wenn er akademisch promoviert ist. Den Studenten wurde Gelegenheit geboten, das erhebende Gefühl zu genießen, mit „bedeutenden Persönlichkeiten der Zeitgeschichte“ auf gleichberechtigtem Kommunikationsfuß zu stehen und von Mann zu Staatsmann über die Schwierigkeiten plaudern zu dürfen, die ein Profi bei der friedlichdemokratischen Niederhaltung der Massen halt so hat – bei Gott kein leichtes Geschäft und um so eindrucksvoller, wenn man hierbei auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken kann.


Guter Wille bei den jungen Menschen

Den überhaupt für Höheres zuständigen Berliner Moral-Heini Albertz drückt man daher von 700 versammelten nicht nur Theologen gleich mal einen Blumenstrauß zur Anerkennung dafür in die Hand, daß er sich aus der Erschießung von weiland Benno Ohnesorg ein staatstragendes und für weitere Zwecke verwendbares Gewissen gemacht hat, und nimmt ihn vor ungehöriger Kritik in Schutz, er sei ein besonders abgeschmackter Parteigänger demokratischer Staatsgewalt, dem die dazugehörige Moral aus den Augen trieft, wenn er für die in Stockholm um den Todesschuß ringenden Politiker betet:

„Allmächtiger Gott, lasse sie nicht verzweifeln an ihrer Aufgabe. Laß sie richtig entscheiden, auch wenn in dieser Flut von Gewalt und Gegengewalt es immer nur eine Entscheidung zwischen einem kleineren und einem größeren Übel gibt.“

Um auch nur den Hauch eines Mißtons gleich wegzuwischen, meldet sich prompt ein Kommilitone zu Wort und bittet artig um die Erlaubnis, den schlechten Eindruck wieder auszubügeln:

„Darf ich mich bei Ihnen für diese Kritik entschuldigen!“

Kein Wunder, daß Albertz in der „Zeit“ gerührt berichten konnte:

„Dies alles“ (der Durchzug durch den Tübinger Lehrbetrieb) „aber war durchzogen von einem für mich erstaunlich großen Interesse an den historischen Abläufen und Zusammenhängen der 30 Jahre BRD, auch an Personen, den Lebendigen (nun schon nicht mehr lebenden), handelnden, hoffenden, scheiternden Menschen. Ich habe die ganze Woche eigentlich nur Geschichten erzählt, Erfahrungen mitgeteilt. Theorie kam, fürchte ich (oder gottseidank) wenig vor ... Es liegt soviel an gutem Willen brach bei den jungen Studenten, daß es sich lohnt, ihnen mehr zuzuwenden als den gängigen Lehrstoff.“

Und der von Affären umwobene Höcherl bestätigt eindrucksvoll, die ihm vom lokalen „Schwäbischen Tagblatt“ attestierte „Schlitzohrigkeit“ eines „politischen Urviechs“ mit der umwerfenden Unverschämtheit, daß die Bauern, die er als damaliger Landwirtschaftsminister zur ,,Nebenerwerbslandwirtschaft“ zwang, jetzt sogar zwei „Einkommensquellen“ zur Verfügung hätten (daß die, um überhaupt zum Nötigsten zu kommen, ihre einzige Verdienstquelle an zwei Orten und kaum unter 12 Stunden betätigen müssen, freut den gemütlichen Bayer –  so ein Schlitzohr aber auch!). Daß er an der geplanten Talkshow durch die Intervention der Studenten gehindert wurde, störte die Universitätsstadt, an der das Humanum wie kaum sonst wo herumgeistert, zwar auf – doch gerade so ein Vorfall ließ sich produktiv gestalten: Die Talkshow wurde dafür mit täglichen Fortsetzungen drei Wochen lang im bereits zitierten Tagblatt nachgeholt. Mit bewährter alemannischer Liberalität räumten die Skribanten ein, daß der Höcherl Hermann sicherlich eine „kontroverse Figur“ sei, von wegen Grundgesetz, das er manchesmal zuhause gelassen habe, aber daß er gerade deswegen sich zur Übung in Toleranz hervorragend eigne. Das sich ebenfalls zahlreich zu Wort meldende Universitätsvolk durfte unter Beweis stellen, daß sich die kritische Kommunikation mit einer allzu offen reaktionären Gestalt der Politik bestens eignet, das Strammstehen hinter der Politik, die aktuell gemacht wird, zu exerzieren.

Der Beitrag der Linken zu der Debatte: „Um über 30 Jahre Grundgesetz zu diskutieren braucht man keinen Höcherl!“ (Fachschaftsrede Vollversammlung). Womit die Lüge von der Staatsverdrossenheit von ihnen Lügen gestraft war: Wir brauchen niemanden, weil wir uns schon selbst für die Demokratie engagieren.

 

aus: MSZ 30 – Juli 1979

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