Christian Peter Ludz, Politologe (München) Rolf Richard Grauhahn, Staatsrechtler (Bremen)

Epitaph für 2 Professoren

 

De mortuis nil nisi bene!

Immer noch oder nach der Studentenbewegung wieder mit weitem Abstand führen Deutschlands Professoren bei allan Umfragen nach dem angesehensten Berufsstand in der Republik. Diese hohe Wertschätzung hat ihre objektiven Gründe: eine geregelte Arbeitszeit von maximal 8 Wochenstunden, 5 Monate Ferien und alle 7 Jahre mal ein halbes Jahr frei, eine materielle Ausstattung, von der sich sorgenfrei leben läßt, und einen Beruf, bei dem Fehler fürs Fortkommen nicht nur nichts ausmachen, sondern sogar sein ganzer Inhalt sind, kurz:

„Ich kenne keinen Beruf, der einem Menschen soviel Freiheit und Selbstverwirklichung einräumt wie denjenigen des deutschen Professors!“

sagte einst Karl Jaspers, der darüber trotz kränkelnder Physis und grüblerischer Sorge um das Treiben der BRD über 80 Jahre alt geworden ist. Dennoch haben zwei deutsche Professoren in den letzten Wochen Hand an sich gelegt und dabei bewiesen, daß menschliche Tragik die im öffentlichen Leben so hochgespielte Links-Rechts-Polarität nicht kennt. Christian Peter LUDZ, konservativer Systemvergleicher aus der Münchner Politologenzunft und der Bremer Rechtsgelehrte Rolf-Richard GRAUHAHN, ein Reformprofessor der ersten Stunde, sind nicht mehr unter uns. Bei beiden ist das Motiv nicht ganz klar und läßt Raum für Vermutungen, die Antworten in der persönlichen Sphäre suchen. Wir meinen, daß solche Nekrologversuche es sich zu leicht machen. Wenn zwei Männer des Geistes, die qua Amt der studierenden Jugend die Vorzüge unserer freiheitlichen Gesellschaft nahegebracht und sich von der Einsichtsfähigkeit der ihnen Anvertrauten durch die Abhaltung von Examina gewissenhaft überzeugt haben, die zugegeben sehr persönliche Konsequenz ziehen, sich den Segnungen und Herausforderungen einer sozialen Ordnung zu entziehen, für die sie und von der sie gelebt haben, so sollte man sich der Mühe unterziehen, an ihrem Lebenswerk auf dem Gebiet der Wissenschaft zumindest die Spuren des Entschlusses zu suchen, der sie veranlaßte, es so abrupt und lange vor der Vollendung abzubrechen:


Christian Peter LUDZ

war als Mitherausgeber des ,,DDR-Handbuches“ und als Mitarbeiter des Materialienteils im ,,Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“ trotz seiner Jugend gleichsam der Nestor des Systemvergleichs. Dabei gelang ihm die wegweisende Entdeckung, daß es sich bei der DDR um eine „Industriegesellschaft bolschewistischen Typs“ handelt, der er mit seinem „kritisch-positivem Ansatz“ nachspürte. In seinem Werk „Parteielite im Wandel“, Köln 1968, stossen wir erstmals auf resignative Züge, wenn er seiner „empirischen Feldforschung“ selbstkritisch bescheinigt, „lediglich bis zur Stufe von ad-hoc-Theorien mit einem relativ niedrigen Abstraktionsgrad“ aufzusteigen. Immerhin gelang es ihm damit, an der SED „die Hierarchie einer Geheimgesellschaft“ zu entschlüsseln, die sich „die Verhüllung des Geheimnisses“ zum obersten Ziel setzt, wodurch aber seine erste Entdeckung zunehmend in Gefahr geriet, weil er die DDR als „Industriegesellschaft“ aufgefaßt hatte und nun zu der Folgerung gelangte, bei der DDR handle es sich

„um den Zusammenprall einer genuin geheimbundartigen, bolschewistischen Kaderpartei ... mit der Dynamik der industriellen Gesellschaft ...“

Im Fortgang seines Denkens, das er immer wieder unterbrechen mußte, um sich auf das Feld empirischer Forschung zu begeben – LUDZ soll zu den wenigen Menschen gezählt haben, die das „Neue Deutschland“ täglich von vorn bis hinten lasen –, stellte er fest, daß sich die DDR letztlich mit haargenau den gleichen ,,Strukturproblemen“ herumschlägt wie die BRD. „Um die Kontrolle über ihr System nicht zu verlieren“, mußte unter den Forscheraugen von LUDZ die

„autoritäre politische Entscheidungselite“ drüben „immer wieder und mehr Fachleute heranziehen, um die komplizierten Zusammenhänge einer industriellen Gesellschaft überhaupt noch analysieren zu können“

Bezog LUDZ den Gegenstand seiner Wissenschaft aus dem Vergleich zweier Gegenstände – DDR und BRD –, so führte ihn sein Denken zur Gegenstandsverschmelzung: er entdeckte immer mehr hüben und drüben zwei Varianten gleicher allgemeiner Staatsprobleme wie „Wirtschaftswachstum und soziale Sicherheit“ oder „Wirtschaftskraft und Lebensstandard“ und entdeckte zugleich damit immer wieder den bleibenden Vorzug der BRD als Vorsprung, den er mit ständig neuem Zahlenmaterial zu belegen sich anschickte. So erklärt sich das immer weitere Anschwellen jeder Neuauflage des „DDR-Handbuches“ und die Verbitterung, die LUDZ erfaßt haben mag, als er nach Zulassung von Westjournalisten im Osten jeden Tag im Fernsehen und in der Zeitung nachlesen konnte, was er in mühsamer Feldforschung herausgefunden hatte. Ständige Intensivierung der Forschung seinerseits war die Konsequenz dieses praktischen Systemvergleichs, ohne jedoch den Vorsprung der journalistischen Konkurrenz je einholen zu können. „Überarbeitung“ gab die „Süddeutsche Zeitung“ als Motiv seines Freitods an. Von der rein empirischen Seite könnte dies dem Grund näher kommen als die Gerüchte der Münchner Boulevardpresse, zumal wenn man bedenkt, daß LUDZ sein theoretisches Lebenswerk BRD = DDR längst abgeschlossen hatte und die mühselige empirische Ausstaffierung dieser genialen Idee getrost seinen emsigen Schülern überlassen konnte.


Rolf-Richard GRAUHAHN

war als alternativer Wissenschaftler existenziell in seine Wissenschaft engagiert: er hatte nicht nur einen Standpunkt, sondern machte auch nie einen Hehl daraus, stellte ihn gleichsam an den Anfang seines Forschens, auf daß er am Ende immer aufs neue glänzend bestätigt wurde. Was ihn bewegte, hat er zusammen mit seinem Kollegen R. Hickel in dem Artikel „Krise des Steuerstaats? Widersprüche und Perspektiven“, erschienen als Beilage zur Zeitung „Das Parlament“, auf die eindringliche Formel niedergebracht;

„Immer widersprüchlicher gärt unter der engen Form des auf indirekte Politik eingeschränkten Staates die Notwendigkeit direkter Eingriffe in die Konkurrenzökonomie und – letztlich – der Schaffung genuin politischer Produktion.“

Dieses Mitleiden mit Helmut Schmidt, der immer nur indirekt regieren kann, obwohl unter seiner Schiffermütze der drängende Wille zum Staatswirtschaften heimlich und unaufhaltsam arbeitet, die Verzweiflung darüber, daß die Wirtschaft sich nur von wirtschaftlichen Zielen leiten läßt (ökonomische Produktion) und nicht, statt auf Gewinn, auf einen anderen Staat aus ist, der sie vom ewigen Zwang, Gewinne zu machen, freisetzt – das muß in GRAUHAHN gegärt haben. Auch die wenigen Lichtblicke, die ihm Bundespost und Bundesbahn boten –

„Eine alternative Entwicklungsperspektive kann daran anknüpfen, daß sich unter dem Mantel und im Toleranzspielraum des herrschaftlichen Staates im Ansatz bereits eine Form von Dienstleistungsproduktion entwickelt hat ..., die im strukturellen Widerspruch zu der auf Herrschaftsfunktionen hin zugeschnittenen Bürokratiestraktur des Steuerstaates steht“ –,

müssen ihn angesichts eines Staates, der selbst den „genuinen Dienstleistungsbetrieb“ Sozialversicherung zur Ankurbelung der „ökonomischen Produktion“ „mißbraucht“, nur noch mehr in die Isolation getrieben haben, so daß er seine Schaffung genuin politischer Ideologieproduktion ohne direkte theoretische Eingriffe in die Konkurrenzökonomie ebenso abrupt abbrach, wie er sich zugleich damit seinen genuinen Dienstleistungs- und Steuerstaatsaufgaben entzog.

Diese Hinweise sollen als Anregung verstanden werden, das letzte Urteil, das zwei Wissenschaftler gefällt haben, in dem zu suchen, was ihr Lebenswerk ausmacht, und zugleich als Absage an alle Versuche, zwei deutschen Professoren posthum die Ehre abzuschneiden, indem ihr Freitod mit dem billigen Etikett „Menschliches, Allzumenschliches“ abgetan wird. Allerdings können wir auch die Sorge nicht verhehlen, was aus Deutschlands höherer Jugend werden soll, wenn ausgerechnet unter seinen geistigen Größen der Standpunkt um sich greift, die Produktion von Ideologien stifte keinen Sinn mehr – persönlich wie gesellschaftlich.

 

aus: MSZ 31 – Oktober 1979

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